Über Weltraumarchitektur

Zum Planetarium

Ein Bildband führt durch die »Architektur für die russische Raumfahrt«.

Die Geschichte der Sowjetunion war bei aller Ambivalenz zwischen sozialistischer Republik und bürokratischem Terror auch der Versuch, konkrete Utopie zu verwirklichen: und zwar im Weltmaßstab – als Kosmologie. Schon die Konstruktivisten und Futuristen wollten Raum und Zeit in einer neuen Architektur gestalten, ja Raum und Zeit sogar architektonisch überwinden. Was die Avantgarde zunächst nur in phantastischen Visionen skizzierte, wurde in den fünfziger und sechziger Jahren in stalinistisch und poststalinistisch ernüchterten Betonversionen umgesetzt. Mit der bemannten Raumfahrt entstanden Raketenstädte für die Ingenieure, Techniker und Kosmonauten, wie der Startbahnhof Baikonur in der kasachischen Steppe, von dem 1961 Juri Gagarin als erster Mensch in den Weltraum flog und wo auch heute noch die Sojus-Raketen zur internationalen Raumstation ISS steuern. Im Zuge des Wettlaufs um die militärisch-ökonomische Vorherrschaft im All während des Kalten Kriegs wurde die Architektur der sowjetischen Kosmonautik stilprägend für die Sowjet-Moderne.
Der umfangreiche Bildband »Architektur für die russische Raumfahrt« stellt die Städte, die Bauten und das Design der sowjetischen Kosmonautik vor, präsentiert einstmals reale Orte ebenso wie die weltgeschichtlichen Utopien, die ihnen als kosmologische Entwürfe seit den zwanziger Jahren vorausgingen – mit Essays, einer Fülle an Archivmaterial und brillanten Fotografien. Und mit realer Utopie, wie Kosmonaut Sergej Krikaljow sie im Vorwort formuliert: »Der Weg in den Weltraum ist immer auch ein Weg zum Frieden. Ich hoffe, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.«
Oscar Wilde notierte zu einer Zeit, als Utopia aus der Kartographie der Gegenwart mehr und mehr verschwand: »Eine Karte der Welt verdient nicht einmal einen Blick, wenn das Land Utopia auf ihr fehlt.« In den visionären Planskizzen der Zukunft tauchte es damals jedoch wieder auf: als Weltentwurf der Science-Fiction. Die ersten Raketen wurden zwar noch nicht ins All, aber doch in den Himmel geschossen. »Die theoretischen Grundlagen für die Raumfahrt legte der russische Gelehrte Konstantin E. Ziolkowski«, schreibt Jelena Scheludkowa. »In seiner Publikation ›Erforschung des Weltraums mittels Reaktionsapparaten‹, im Jahr 1903 in der russischen Zeitschrift Wissenschaftliche Rundschau veröffentlicht, stellte er die fundamentale Formel der Bewegung der Rakete, die Raketenrundgleichung, auf und entwickelte so mögliche Kons­truktionen von Flugapparaten, mit denen der Mensch die Erdanziehungskraft überwinden und in den interplanetaren Raum fliegen konnte.« Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert adaptierten Kino und Oper, Georges Méliès und Jacques Offenbach, die Raumfahrt. Die Literatur lieferte die Vorlagen, vor allem die phantastischen Geschichten von Jules Vernes und H. G. Wells über Mondreisen und den »Krieg der Welten«. Auf den Weltausstellungen flogen große Ballons, Zeppeline, Flugzeuge. Gustave Eiffel ließ in Paris einen riesigen Turm aus vernieteten Stahlträgern errichten. Und in den USA wurden die ersten Hochhäuser gebaut, Architekturen, die dem Prinzip form follows function folgten, wie es Louis Sullivan postulierte. Die Moderne, politisch-gesellschaftlich schon fast am Ende, hatte nun endlich zumindest ihre architektonische Form gefunden. Relativitätstheorie und Quantenphysik inspirierten konstruktive Utopien der Zukunft, die ein neues Zeitalter ankündigten – während ein Großteil der Menschheit weit diesseits dieser Moderne lebte, zum Teil im Elend vegetierte. Im russischen Zarenreich litten Millionen Bauern Hunger. Was sich zu einem revolutionären sozialistischen Weltexperiments entwickelte, war auch eine Verzweiflungstat, um der Armut zu entkommen. Gleichzeitig keimte hier die Utopie des Neuen Menschen, konstituierten sich die Avantgardebewegungen des Futurismus, Konstruktivismus, Produktivismus – mit kosmologischer Dimension: Raum und Zeit sollten überwunden, die Erde sollte als Welt gestaltet werden.
»Die Faszination für das Raum-Zeit-Kontinuum und deren anschaulichste Verkörperung, die Bewegung im Raum, wurde von der Avantgarde in Entwürfen materialisiert«, schreibt Herausgeber Philipp Meuser. »Der Begriff Raumzeit belebte Mitte der zwanziger Jahre die Architekturdiskussion.« Und das im Kontrast dazu, dass damals der konkrete Raum und die revolutionäre Zeit einer freien Gesellschaft schon vereitelt und die kosmologischen Visionen der Avantgarde bereits Opfer des Stalinismus waren.
Trotzdem entsteht hier, weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus, eine »neue Tradition«, wie der Architekt und Architekturtheoretiker Sigfried Giedion das rückblickend emphatisch nennen wird. Wegweisend für diese Tradition ist die künstlerische Auseinandersetzung mit der modernen Physik von Raum und Zeit. So schreibt der russische Avantgardist El Lissitzky 1925: »In den Ateliers moderner Künstler glaubt man, eine direkte Einheit aus Raum und Zeit, die dabei einander ersetzen können, zu gestalten. (…) Wir unterscheiden den dreidimensionalen, physischen Raum und die mehrdimensionalen, mathematischen Räume. Zeit gibt es nur eine, sowohl in der Physik als auch in der Mathematik. Wir kennen keinen Raum außerhalb der Gegenstände und umgekehrt. Raum gestalten heißt Gegenstände gestalten. Gegenstände kann man in Elemente zerlegen. Die Zeit ist stetig, man kann sie in keine Elemente zerlegen. Der Raum ist auseinander, die Zeit ist nacheinander.« Auf diese Thesen reagieren die Architekten Mart Stam und Hans Schmidt im selben Jahr: »Die Zeit hat keine Grenzen – die Zeit durchschreitet jede Grenze. (…) Die Zeit ist Fortgang – aber Fortgang ohne bestimmte Richtung und ohne bestimmte Geschwindigkeit. Die Zeit ist Bewegung – als Erscheinung entspricht ihr der Laut. Der Laut ist wie die Zeit – Fortpflanzung, Fortgang, Bewegung. Die Zeit ist nacheinander.« Indes bleiben die Überlegungen zu Raum und Zeit nicht abstrakt; sie sollen sich in der Architektur einer neuen Gesellschaft konkretisieren: »Das Mittel, unsere Erkenntnis zu gestalten (…), ist das Bauen«, schreiben Stam und Schmidt.
Das war die theoretische Vorarbeit zur Avantgarde, die, wie Meuser anmerkt, »abrupt beendet wurde, als sich ab 1926 konkrete Bauaufgaben für die ansonsten auftragsarme Architektenschaft abzeichneten. In Deutschland starteten die staatlichen Wohnungsbauprogramme. In der Sowjetunion hatte die liberale Neue Ökonomische Politik (NÖP) bis 1928 ein bauherrenfreundliches Klima im Planen und Bauen geschaffen. Mit dem Beschluss des ersten Fünfjahresplans ab Oktober 1928 schwor Stalin das gesamte Land endgültig auf die Industrialisierung ein. Nun mussten auch im Bausektor Quoten erreicht und Erfolgsmeldungen generiert werden. Fortan bestimmten in beiden Ländern Massenwohnungsbau, Typisierung und rationalisierte Fertigungsprozesse die Bauwirtschaft.«
Doch nicht nur in Hinblick auf die bürokratische Konsolidierung der sowjetischen Gesellschaft stellt sich diese Entwicklung als ambivalent dar. Einerseits boten die gewaltigen Modernisierungsprozesse nach Maßgabe ökonomischer Effizienz, kalkulierter Pragmatik und technologischer Rationalität (die sich in der westlichen Welt, schließlich vor allem in den USA, als Taylorisierung und Fordismus durchsetzten) Möglichkeiten, sich planerisch in der Architektur auszuprobieren; andererseits fehlte aber genau der Spielraum, avantgardistische Überlegungen zu Form und Funktion des Bauens auch tatsächlich in die konkrete Konstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse zu übersetzen. Die architektonischen Visionen eines humanistischen Umbaus der Welt mussten sich auf die Vorgaben der Raumfahrtprogramme beschränken: Nur so konnte im Windschatten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts die kosmologische Utopie überdauern, wenngleich sie im selben Moment durch eben diesen Fortschritt desavouiert schien.
Eine Paradoxie, die zur Signatur der Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts wurde. Walter Benjamin hat das in seiner 1928 erschienenen »Einbahnstraße« als dialektisches Bild beschrieben. »Zum Planetarium« heißt die Schlusspassage des Buches, die sich wie ein Aphorismus zur konstruktivistischen SowjetArchitektur der damaligen Zeit liest: In der Antike, so Benjamin, habe sich die Verbindung des Menschen mit dem Kosmos noch »im Rausche« vollzogen; die moderne Astronomie versachliche dieses Verhältnis, mit dem Weltall gebe es fortan nur eine »optische Verbundenheit«. Für die von Welt und Gesellschaft Isolierten gibt es nur noch die »Schwärmerei in schönen Sternennächten«, der Rest ist Physik. Sie liefert sogar die Technik, die den gesamten Kosmos vernichten könnte, »wie es am letzten Krieg aufs fürchterlichste sich bekundet hat, der ein Versuch zu neuer, nie erhörter Vermählung mit den kosmischen Gewalten war«.
Dennoch: In derselben Zeit, in der auch die Planetensysteme als Galaxien entschlüsselt werden, sieht Benjamin – nicht zuletzt mit Blick auf die Oktoberrevolution – eine neue Kosmologie entstehen: »Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik. Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerlässliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung der Generationsverhältnisse und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit.«
Was solche Kosmologie konkret bedeuten könnte, hat im selben Jahr Georgi Tichonowitsch Krutikow in einer fulminanten Diplomarbeit anhand einer »Stadt der Zukunft« skizziert – eine »Fliegende Stadt« sollte das sein, von der aus die Menschen hätten friedlich das Weltall bevölkern können. Allerdings haben die Vernichtungszüge des Zweiten Weltkriegs und der faschistische Terror solche Hoffnungen zerstört. Der Stalinismus und die Doktrin des sozialistischen Realismus vernichteten die progressiven Impulse des sowjetischen Experiments endgültig, auch die Avantgarden mit ihrer kommunistischen Phantastik. Dennoch überlebten einige Visionen, gab es Reste der kosmologischen Utopie. Dazu gehört Iwan Iljitsch Leonidows Projekt einer »Sonnenstadt«, an dem er bereits in den dreißiger Jahren und dann verstärkt von 1943 bis zu seinem Tod 1959 arbeitete. Mit Referenzen zu der kollektiv produzierten futuristischen Oper »Sieg über die Sonne« von 1913 und zu Tommaso Campanellas »Sonnenstaat« von 1623 versuchte Leonidow der Idee eines kommunistischen Gemeinwesens eine architektonische Form zu geben: Eine Kugel, eine künstliche Sonne als Quell des Lebens, schwebte über der Stadt, die aus einem zeltartigen Zentralbau und Obelisken bestand. »Ohnehin«, schreibt Meuser, »zieht sich die Kugel leitmotivisch durch das Werk von Leonidow. Die Aufhebung der Schwerkraft und das Streben in die Unendlichkeit krönte er schließlich mit seinem Wettbewerbsentwurf für den Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York (1958), ein Jahr nach dem erfolgreichen Start von Sputnik I in der Sowjetunion. Schmale Kegelbauten, die den Schweif einer startenden Rakete nachbilden, säumten eine monumentale Kugel im Zentrum der Macht.«
Gleichwohl beflügelten die Erfolge der sowjetischen Raumfahrt in den fünfziger und sechziger Jahren auch wieder die Architektur. Die ersten beiden Jahrzehnte des Kalten Kriegs »waren in der UdSSR geprägt von der romantischen Vorstellung von einer heroischen Eroberung des Kosmos – und von einem Traum, die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden«, wie Jelena Scheludkowa bemerkt, und »der Start des ersten künstlichen Satelliten und der erste bemannte Raumflug waren immense Impulse auch für die kosmische Architektur. Die städtebauliche Erschließung des Weltalls und die Gründung einer interplanetaren Zivilisation wurden als durchaus realistische Aufgaben gesehen, deren Lösung greifbar nahe schien. Inspiriert von dieser Aufbruchstimmung, interpretierte der Architekt Wjatscheslaw Loktew in seinen Entwürfen das Thema der ›Fliegenden Stadt‹ als ›Architektur der Schwerelosigkeit‹ neu.«
Die Anlagen, die damals entstanden, sind heute fast alle außer Betrieb, Ruinen, in denen die kosmologisch-kommunistische Utopie buchstäblich zubetoniert wurde. Die Gebäude der alten Raketenstädte wirken auf den – größtenteils von Philipp Meuser gemachten – Fotos wie Zeugnisse einer längst untergegangenen Hochzivilisation, an denen wie bei einem Vexierbild beides erscheint: sowohl, was diese Zivilisation als solche ausmachte, als auch, was ihr über die Zivilisiertheit hinaus fehlte – nämlich eben die kosmologische Idee des Kommunismus, die Raum und Zeit überwindende »wirkliche Bewegung« (Marx/Engels) einer ihre Möglichkeiten entdeckenden, ergreifenden und gestaltenden Menschheit. Spuren davon gibt es nur im Detail (die Innenarchitekturen und das Design von Galina Balaschowa), oder im Rückzug in die Kunst (die sogenannte Papierarchitektur Wjatscheslaw Loktews).
So haftet den Einblicken in die Architekturen der sowjetischen Raumfahrt etwas Trauriges, Trostloses an: eine Melancholie der Technik, die nicht mehr Zukunft antizipiert und den Ereignishorizont zu überschreiten vermag, sondern die zu Monumenten einer versäumten Rettung erstarrt. Sigmund Jähn, Generalmajor der NAVA und als Kosmonaut der erste Deutsche im Weltraum, wird zitiert: »Der Mensch ist technisch weit fortgeschritten, aber seine Entwicklung scheint seit der Steinzeit zu stagnieren.« Das erinnert noch einmal an Walter Benjamin: »Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.« Seinen Ausdruck hat das wiederum in der utopischen Architektur des sowjetischen Experiments selbst, deren kosmologische Visionen in ihrer beeindruckenden Vielfalt dieser Band wie das galaktische Firmament in einem Planetarium präsentiert.

Architektur für die russische Raumfahrt. Vom Konstruktivismus zur Kosmonautik: Pläne, Projekte und Bauten. Hg. v. Philipp Meuser, mit einem Vorwort von Sergej Krikaljow und Beiträgen von Ansgar Oswald, Maryna Demydovets u. a., DOM publishers, Berlin 2013, 412 Seiten, 78 Euro