Paul Virilio, der Philosoph des »rasenden Stillstands«

»Alles rast!«

Die ganze Menschheitsgeschichte unterliege einer ungeheuerlichen Beschleunigung, so dass am Ende noch die Zeit selbst sich überhole: Dies sei ein rasender Stillstand – behaupten zumindest postmoderne Theoretiker wie Paul Virilio.

»Panta rhei« – die berühmte philosophische Maxime »alles fließt« wird dem Vorsokratiker Heraklit zugeschrieben. »Alles fließt« ist das allgemeinste Gesetz der Bewegung, das bis in die Moderne seine Gültigkeit gehabt haben soll, nun aber, nach der Moderne beziehungsweise als Symptom ihres Untergangs und Endes, eine entscheidende Wendung erfahren habe: Aus »alles fließt« wird »alles rast«. Der Satz wurde zum Leitmotiv einer spätbürgerlichen Philosophie, die sich anschickte, eine Postmoderne genannte gesellschaftliche Entwicklung auch mit entsprechend postmoderner Theorie plausibel zu machen. An wissenschaftlicher Relevanz links und rechts vorbeirauschend, vermochte es die Postmoderne seit Mitte der Siebziger, dann endgültig in den Achtzigern, im Feuilleton mit spektakulären Publikationen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Zur Grunddiagnose der Postmoderne gehörte die Rede vom Ende der Geschichte. Entscheidend an diesem Theorem des »Posthistorie« war weniger die materialistische, kritische wie emanzipatorische Problematisierung der Geschichte, sondern vielmehr die Provokation materialistischer Kritik und Emanzipation, der jede Humanität denunzierende Skandal.
Diesen mit theoretischer Inbrunst vorgetragenen Skandal überbot die Theorie der Postmoderne selbst. Zwar sei die Geschichte zum Erliegen gekommen, dennoch sei kein Ende der Zeit absehbar – im Gegenteil: »Alles rast!« Alles werde immer schneller, steuere in unendlicher Beschleunigung auf eine ebenso unendliche Katastrophe zu. In geschichtsloser Höchstgeschwindigkeit gelte nun ein permanentes, unaufhaltsames rien ne va plus. Der 1932 geborene Paul Virilio bastelte sich aus solchen Hypothesen ein ganz eigenes, durchaus originelles szientifisches Modell, das er Dromologie nannte (nach griech. dromos: Lauf, Rennbahn, »Logik des Laufs«, oder »Beschleunigungswissenschaft«).
Die Dromologie forscht nach Ursachen und Effekten von Beschleunigung. Virilios Hypothese: Soziale Verhältnisse sind Geschwindigkeitsverhältnisse. Diese Verhältnisse stellen sich als Komplexion dar – zusammen mit Informationstechnologie, Medien, Architektur und vor allem Militär; der Krieg ist der Schatten der Beschleunigungslogik. Die paradox anmutende Metapher »rasender Stillstand« – so auch der Titel der deutschen Übersetzung seines 1990 erschienenen »L’inertie polaire« – ist wörtlich zu nehmen, auch in ihrer Paradoxie. Virilio begeistert sich für die unmöglichen Entgegensetzungen: Das Schnellerwerden bedeute eigentlich eine Arretierung des Geschehens, der Immobilismus der Geschwindigkeit erweise sich als ihr eigentlicher Wesenskern. Seine Überlegungen will Virilio mit der Phänomenologie zusammendenken, versucht Husserlsche Wesensschau (»Zu den Sachen selbst!«) medienphilosophisch zu transformieren, konfrontiert die kinematographische und informationstechnologische Ordnung des Visuellen mit dem Transport: Fernsehen und Autoverkehr sind gleichermaßen beliebte Beispiele, und selbstverständlich findet sich bei Virilio auch das Paradigma der Simulation.
Damit kommen Raum und Zeit ins Spiel. Aber entgegen der neueren Naturwissenschaft, die die Zeit dem Raum zuordnet, wird nach Virilio der Raum durch die Zeit, die rasende, beschleunigte Zeit vernichtet. Geschwindigkeit erscheint hierbei als eine Art Fliehkraft, insofern ist die Zeit des rasenden Stillstands auch eine fliehende Zeit, eine Fluchtzeit. Anders als in der Renaissance, in der die Zentralperspektive als räumliche Ordnung entdeckt wurde, zeige sich nun ein durch eine zentrifugale Fluchtgeschwindigkeit bedingter Verlust der Perspektive. Das ist bei Virilio vergleichsweise lapidar zu verstehen: Im Massentourismus, wo man an den Urlaubsorten mit denselben Leuten zusammen ist, mit denen man auch sonst seinen Alltag verbringt, sei das Reisen, trotz der zurückgelegten Tausenden Kilometer, obsolet. Immer wieder rekapituliert Virilio den Gegensatz von Mobilität und Immobilität. Die durch Medientechnologien ermöglichte sogenannte Echtzeit sei die eigentlich unechte Zeit.
Gelegentlich finden sich Definitionen, wonach sich der Begriff Dromologie vom Wort dromomaniac ableite: ein zwanghaft manischer Rennläufer, mithin ein postmoderner Sozialcharakter, der sich gegenläufig zur modernen Figur des Flaneurs verhält. Der Flaneur ist die moderne Gestalt des Melancholikers. »Den melancholischen Menschen kennzeichnet, dass er, metaphorisch ausgedrückt, mit der Zeit nicht mitgehen kann«, wie Michael Theunissen einmal anschaulich erläuterte. Der postmoderne Rennläufer hingegen ist ein Hyste­riker – passendes Beispiel im Sinne Virilios sind die Angestellten im Anzug und mit Turnschuhen, die hastig zu ihren Jobs eilen. Auch die Hysteriker können mit der Zeit nicht mitgehen. Ihre Reaktion ist aber manisch: Sie versuchen die Zeit zu überholen, im Geschwindigkeitsrausch und bis zum Kollaps. Die Hysterie ist wörtlich zu nehmen, von hystéra, Gebärmutter; Hysterie im Sinne des postmodernen Sozialcharakters also ist der Zwang, zu schöpfen, Neues zu erschaffen, die Zeit kreativ zu nutzen.

Zeit im Kapitalismus ist ökonomisch verwertbare Zeit, Arbeitszeit; diese ist die strukturelle Vernichtung lebendiger Zeit, die verdinglichende Umwandlung von konkreter Zeit in abstrakte Zeit. In der Durchkapitalisierung der Gesellschaft vollzieht sich diese Umwandlung seit Mitte des 19. ahrhunderts durch die Standardisierung von Lebenszusammenhängen, nämlich durch Rationalisierungsprozesse der Taktung. Damals hatte das seinen Ausdruck einerseits in der Industria­lisierung, das heißt in der direkten ökonomischen Verwertung der Lebenszeit als Arbeitszeit in der Fabrik, andererseits in der Urbanisierung, und das heißt der vermittelten Verwertung der Lebenszeit, die auch außerhalb der Fabrik ökonomisiert wird. Die Orientierung an der Uhr hat daran maßgeblich Anteil. Die arbeitswissenschaftliche (und dann auch verkehrstechnische, konsumis­tische, generationspolitische) Vertaktung des Lebens kann zwar das objektivistische Zeitmodell der Physik auf die gesellschaftlichen Prozesse übertragen, vermag allerdings nicht den »subjektiven Faktor der Zeit« vollends zu durchdringen. Mit anderen Worten muss, um das disparate subjektive Zeitempfinden nicht in soziale Unruhe umschlagen zu lassen, das im Individuum verinnerlichte Zeitgefühl als Ideologie, also als notwendig falsches Bewusstsein, in die sozialen Verhältnisse, in die konkrete Totalität des Alltagslebens implementiert werden.
Dies gelang zumindest in der bürgerlichen Ideologie durch die Rückkopplung der objektiven Zeit an die Geschichte (seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etablieren sich Zeit-Ideologeme wie Mode, Modernität, Up-to-date-Sein, Dekadenz) und durch die Entkopplung der subjektiven Zeit vom Subjekt selbst, nämlich durch Vitalisierung oder Ontologisierung der Zeit (Nietzsche, Bergson, Heidegger). Erst mit dem Fordismus wird eine Ideologie geschaffen, in der objektive und subjektive Zeit deshalb amalgamiert werden können, weil in der Taktungslogik der Standardisierung, der technologischen Rationalität, jede Differenz von Subjekt und Objekt ohnehin nivelliert erscheint: In der Zeit des technischen Fortschritts ist der Mensch »antiquiert«, wie Günther Anders erstmals bündig analysierte.
Die Ökonomisierung der Zeit, das heißt die Ausrichtung des sozialen Lebens an chronologischer Planung und Optimierung, entwickelt sich seit den siebziger Jahren global und ubiquitär: Die »biologische Zeit«, die lebensweltlich verknappt wurde, wird jetzt – in der Fabrik und in der Freizeit – automatisiert. Die Vertaktung des Lebens wird zur Periodisierung des Lebens, die Periodisierung indes zur Grundlage der Digitalisierung. Und es passt durchaus zu Virilios Dromologie, bei der ansonsten alle Kritik der politischen Ökonomie ausgespart bleibt, dass in den Siebzigern sukzessive Quartz-Digitalarmbanduhren sich allgemein durchsetzten.
Doch auch für den hysterischen Dromologen ist die Zeit nicht einholbar; Virilios rasender Stillstand verzerrt sich zum postmodernen Sisyphos-Mythos – am Ende droht der Infarkt, oder, das wäre gegenwärtig die einzige Rettung, die Langeweile. Sie wird in der Tat zur weniger leidvollen Alternative einer Welt, in der Zeit nur noch in Fenstern, Timelines und Units verwaltet wird.