Völkische Wirtschaftspolitik

Labor Ungarn

In der ungarischen Wirtschaftspolitik spiegelt sich die völkische Ideologie wider. Die damit verbundene autoritäre Formierung wiegt schwerer als die quantitativen Wirtschaftsergebnisse.

Zurückhaltung ist nicht seine Art. »Wenn der Internationale Währungsfonds zurückkommt, werde ich gehen«, tönte Viktor Orbán noch 2010, als seine neue Regierung der Finanzinstitution die Kooperation verweigerte und diese brüskiert das Land verließ. Ganz konnte der ungarische Ministerpräsident jedoch nicht Wort halten, denn zwischenzeitlich kehrte der IWF zwei Mal in das Land zurück, um ein mögliches Kreditabkommen zu sondieren. Orbán blieb, konnte aber sein Gesicht wahren, indem er den IWF lavierend auf Distanz hielt. Nun scheint er vorerst sein Ziel erreicht zu haben: Im August zahlte Ungarn seine Schulden beim IWF vorzeitig zurück und komplimentierte dessen Vertreter aus dem Land.
Ein Paukenschlag, der Orbáns Machtposition noch einmal gestärkt hat. Immerhin gilt der IWF vielen Ungarn als eine Art ausländische Besatzungsmacht. Demzufolge sei das Land in eine tiefe Abhängigkeit von der EU und eben dem IWF geraten, der nicht wenigen Nationalisten als jüdische Verschwörung gilt. Die Zinszahlungen, die jährlich wegen Krediten ins Ausland fließen – vom ehemaligen Volkswirtschaftsminister György Matolcsy als »unsere Achillesferse« bezeichnet –, raubten der Nation einen beträchtlichen Teil ihrer Kapazitäten. Zugleich hinderten die rigiden Budgetregeln, die mit IWF-Krediten verbunden sind, die Regierung daran, die Ökonomie des Landes mit einer »unorthodoxen« Wirtschaftspolitik – Orbán spricht sogar von »Experimenten« – zu stärken. Entsprechend wähnte man sich im Würgegriff des internationalen Finanzkapitals, das die Nation ausplündere.

Der »äußeren Verschuldung« zu entrinnen, ist daher ein wichtiges Ziel des »wirtschaftlichen Befreiungskampfes«, den die Regierung propagiert. Hierbei sieht man nun eine wichtige Hürde genommen. Orbán bezeichnet es als »Ende der Kolonialisierung« – diese Sprache kommt bei seiner völkischen Klientel an, die zuletzt Ungarn schon mal als Kolonie Brüssels, Washingtons oder Tel Avivs darstellte. Doch so propagandistisch wirksam dieser Schachzug sein mag, er stellt Orbán auch vor neue Probleme. Denn weiterhin muss Ungarn Devisenschulden decken, die es auf dem freien Markt aufgenommen hat und die höhere Zinsen beinhalten als IWF-Kredite. Entsprechend sucht sich die Regierung, die mit der Rückzahlung bereits an seine Devisenreserven gegangen ist, dringend nach Anlegern für Schuldverschreibungen. Dies aber scheint der Preis zu sein, den man zu zahlen bereit ist. Denn die Regierung benötigt mehr Spielraum zur grundlegenden Neugestaltung der Sozioökonomie.
Die Wirtschaftspolitik, in der dies zum Ausdruck kommt, ist derzeit einzigartig auf der Welt. Sie speist sich aus der völkischen Ideologie, die die Sichtweise auf jeden Aspekt prägt, und bedient sich Mittel einer autoritären Krisenbewältigung. Orbán inszeniert diese Politik als Alternative sowohl zum neoliberalen als auch sozialistischen Wirtschaftsmodell, wobei er letzteres als historisch und ersteres als in der gegenwärtigen Krise gescheitert betrachtet. Mehr noch: Im ungarischen Diskurs erscheinen beide Modelle häufig als zwei Seiten einer Medaille – eine Verquickung, die durch besondere Umstände der ungarischen Geschichte ermöglicht wird.
Weil Ungarn bereits 1982 Mitglied des IWF geworden und in Kreditabhängigkeit geraten ist, kam dem IWF dort während der Phase der Umgestaltung nach 1990 eine entscheidende Rolle zu. Die Mitte der neunziger Jahre erfolgende Privatisierungswelle war hier besonders intensiv und erfolgte im Wesentlichen unter den Sozialisten, den Nachfolgern der kommunistischen Partei. Als sich schließlich noch 2006 unter einer sozialistisch geführten Regierung ein enormes Verschuldungsproblem abzeichnete und dies 2008 in einem IWF-Notkredit mit entsprechenden Auflagen mündete, war das Bild von den »roten Kapitalisten« (Fidesz-Jargon) beziehungsweise den »liberal-bolschewistischen Zionisten« (Jobbik-Jargon), die zunächst im Kommunismus das Land unterjocht und es dann im Kapitalismus verkauft hätten, perfekt.

Vor dem Hintergrund dieser angenommenen Kontinutität von Sozialismus und Marktliberalismus muss die Wirkungsmacht der völkischen Idee verstanden werden. Und zweifellos hat die ökonomische Situation der Haushaltskrise den fulminanten Wahlsieg Orbáns erst möglich gemacht. Die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen, ist ein zentrales Versprechen der ungarischen Rechten. Entsprechend nimmt die Wirtschaftspolitik einen zentralen Stellenwert in der völkischen Mission ein, mit der die Nation zu neuer Stärke geführt werden soll.
Dabei geht es vor allem um wirtschaftliche Souveränität, wie der Kampf gegen die »äußere Verschuldung« erkennen lässt. Dieser hat vor allem zwei Komponenten: Zum einen die Suche nach alternativen Kreditgebern wie etwa China, um dem Einfluss des IWF zu entkommen; zum anderen der Abbau der Verschuldung selbst. Letzteres geschieht jedoch nicht mit den typischen Mitteln der Austeritätspolitik, sondern dadurch, dass die Regierung Banken und Konzerne an den Krisenkosten beteiligt, etwa in Form von Krisensteuern. Dabei bewegt sich die Regierung auf einem schmalen Grat. Geht sie mit ihren Maßnahmen zu weit, löst sie Unruhen an den Märkten aus, die es ihr erschweren, bestehende Schulden zu refinanzieren. Entsprechend taktisch agiert die Regierung. Permanent lotet sie ihren Handlungsspielraum aus und versucht, Zeit zu gewinnen, um die Basis ihrer neuen Wirtschaftsordnung zu legen, von der sie sich mittelfristig mehr Eigenständigkeit erhofft.
Der damit verbundene Umbau ist zu umfassend, komplex und zuweilen auch widersprüchlich, um in all seinen Facetten dargelegt zu werden. Im Wesentlichen aber tendiert er zur Volksgemeinschaft. Soziale Widersprüche sollen so verleugnet und die wirtschaftlichen Anstrengungen auf das nationale Kapital konzentriert werden. Die Regierung führt dabei eine Art Krieg – so legt es die Rhetorik nahe – gegen ausländische Banken und Multis, insbesondere in Bereichen der Grundversorgung. Nicht nur belegt sie diese mit Abgaben, sondern sie greift auch reglementierend ein, um die einheimische Bevölkerung zu schützen, etwa durch die gesetzliche Festlegung von Wechselkursen für Devisenkredite und Energiepreisen. Derzeit erwägt sie sogar ein Gesetz, dass es Unternehmen verbieten soll, Gewinne im Bereich der Energieversorgung zu machen.

Flankiert wird dies von Nationalisierungsmaßnahmen. Nicht nur verstärkt der Staat sein wirtschaftliches Engagement in vielen Bereichen – zum Teil mit planwirtschaftlichen Zügen –, vor allem versucht er, die »strategischen Wirtschaftszweige«, darunter die Energieversorgung, zu kontrollieren, indem er ausländische Unternehmen (zuletzt etwa Tochterfirmen von Eon) aufkauft. Auch im Bankenwesen geht der Staat ähnlich vor: Das Ziel ist, 50 Prozent des Sektors in ungarische Hand zu bekommen. Damit verfolgt die Regierung einen doppelten Zweck. Generell will sie die Macht des sogenannten spekulativen (»raffenden«) Kapitals brechen; und insbesondere will sie die Banken dazu nutzen, den heimischen Mittelstand, das produzierende (»schaffende«) Kapital, zu fördern. Eine ähnliche Funktion erfüllt dabei auch die – nicht mehr unabhängige – Nationalbank, die nun von Matolcsy, dem Architekten des »neuen ökonomischen Systems«, geleitet wird. So kann die Regierung ihre Politik des billigen Geldes umsetzen, mit der die heimische Wirtschaft angekurbelt werden soll.
»Der Unterschied zwischen der europäischen und der ungarischen Krisenbekämpfung«, erklärte Orbán Mitte 2012, »besteht darin, dass die EU die Banken, die ungarische Regierung hingegen die Schaffung von Arbeitsplätzen unterstützt«. Darin jedoch eine »Wohlfahrtspolitik« der Regierung zu erkennen, die der Gesellschaft mehr soziale Gerechtigkeit widerfahren ließe, wäre falsch. Denn diese Politik zielt nicht auf eine Stärkung der Interessen von Lohnabhängigen ab, sondern auf eine Aufwertung der abstrakten Kategorie Arbeit, die die nationale Gemeinschaft voranbringen soll. Zu diesem Zwecke hat die lohnabhängige Bevölkerung auf einen Teil ihrer Rechte zu verzichten, wie es etwa im »ungarischen Arbeitsplan« (einem System des Arbeitszwangs), dem neuen Arbeitsgesetzbuch, der Entrechtung von Gewerkschaften und ihrer Ersetzung durch ständische Strukturen der Lohnfestsetzung zum Ausdruck kommt. Im Gegenzug gibt die Regierung vor, ihre Bürger gegenüber ausländischen Akteuren zu protegieren. Es handelt sich also um einen »New Deal«, allerdings keinen sozialstaatlichen, sondern einen volksgemeinschaftlichen, der die autoritäre Formierung der Gesellschaft sozioökonomisch fundiert. Dies ist die qualitative Seite der Orbánschen Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Die quantitativen Ergebnisse sind schwieriger zu bewerten. Von ihren Zielen in puncto Arbeitsplatzschaffung und Schuldenabbau ist die Regierung zwar weit entfernt, hat aber zumindest keine großen Einbrüche zu verzeichnen und konnte den Schuldenstand zwischenzeitlich sogar abbauen. Insgesamt ist die soziale Lage zwar weiterhin prekär, die Wirtschaftsentwicklung aber relativ stabil – eine prekäre Stabilität gewissermaßen. Zugleich hat die Regierung dabei noch viel Geld für Nationalisierungsmaßnahmen aufgewendet. Orbán hat also nicht ganz Unrecht, wenn er darauf verweist, dass Ungarn– wohlgemerkt 2011 auf einer Liste diverser US-Okonomen in der Washington Post als Top-Verlierer der Krise geführt – nicht annähernd so eingebrochen ist wie etwa Griechenland.
Daran gemessen scheint eine Kritik an der ungarischen Wirtschaftspolitik, die auf die vermeintlich alternativlosen Rezepte rekurriert unglaubwürdig. Vielmehr wäre der Blick auf die qualitative Seite jener Politik zu lenken, auf die sozialen Beziehungen, in denen sich die völkisch-autoritäre Ideologie niederschlägt. Und für diese Dimension sind viele Kritiker regelrecht blind, beurteilen sie Orbáns Politik doch ausschließlich nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit. Sollte Orbán – wider Erwarten – mit seiner Politik noch quantitative Erfolge erzielen, dann könnten die Erfahrungen aus dem Labor Ungarn durchaus noch auf Sympathien bei ihnen stoßen. Womöglich liegt in der Eventualität, etwas aus dem ungarischen Experiment lernen zu können, auch begründet, dass Ungarn kaum mehr Gegenwind erfährt. Vor allem die EU-Konservativen haben sich auf das Abwarten verlegt.