Ilan Mor im Gespräch über den Antisemitismus in Ungarn

»Mit Floskeln ist es nicht getan«

Ilan Mor (58) ist seit September 2011 Israels Botschafter in Ungarn. Von 2004 bis 2009 war er Gesandter in Berlin.
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Haben Sie viel zu tun als israelischer Botschafter in Ungarn?
Es gab Zeiten, als hier viele Israelis gelebt haben, sie haben sehr gute Geschäfte gemacht, insbesondere in Immobilien. Aber seit der Krise 2008 gibt es immer weniger Israelis, die hier leben und arbeiten. Allerdings gibt es mehr als 1 000 israelische Studenten in verschiedenen Städten, in Budapest, in Szeged, in Debrecen, in Pécs, von denen die meisten Medizin studieren. Wenn sie nach Israel zurückkehren, sind sie sehr gut ausgebildet. Bis 2012 kamen im Schnitt jährlich 50 000 Touristen aus Israel nach Ungarn. Aber seit 2012 gibt es einen Anstieg um fast 100 Prozent, das heißt, mehr als 100 000 Israelis besuchen jährlich Budapest, meist für ein verlängertes Wochenende. Leider ist umgekehrt die Zahl der Ungarn, die als Touristen nach Israel fahren, nicht annähernd vergleichbar. Das sind so rund 15 oder 16 000 pro Jahr. Ich nutze jede Gelegenheit, die Ungarn zu ermutigen, als Touristen nach Israel zu fahren, oder auch dort Geschäfte zu machen, aber das ist ein langer, mühsamer Weg. Meine Arbeit ist diesbezüglich ein Marathon, kein Sprint. Doch die israelische Anwesenheit hier ist beachtlich. Der israelische Konzern Teva, eines der größten pharmazeutischen Unternehmen der Welt, hat drei große Fabriken in Ungarn. Und auch Nav N Go, eine GPS-Software, wird in Budapest entwickelt.
Wie würden Sie die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Ungarn beschreiben?
Es gibt zwei Antworten, eine längere und eine kürzere, welche möchten Sie hören?
Beide, bitte!
(lacht) Die kürzere ist: gut. Die längere: sehr gut. Also ernsthaft: Die Beziehungen sind wirklich gut und vielfältig, im Zentrum stehen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen, der Nahost-Konflikt steht im Hintergrund. Die Beziehungen sind wie auch zu Deutschland deshalb besonders, weil es die Geschichte der Shoah gibt. Dadurch gibt es eine besondere Art der Verbundenheit, die auch damit zu tun hat, dass aufgrund dieser Geschichte viele ungarische Juden heute in Israel leben. Die guten Beziehungen basieren natürlich auch auf der Tatsache, dass hier die drittgrößte jüdische Gemeinde Europas existiert. Die politischen Beziehungen haben sich seit 1989 insgesamt sehr positiv entwickelt.
Wenn man zum ersten Mal nach Budapest kommt, ist man überrascht über das vitale jüdische Leben: Zwei große Synagogen, unzählige koschere Restaurants und Bars und Falafelläden …
Das hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass Ungarn 40 Jahre unter dem Einfluss einer kommunistischen Diktatur stand, und es nun seit 22 Jahren eine aktive Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden gibt. Dies haben alle Regierungen seither unterstützt. Deshalb gibt es im 7. und vor allem im 5. Bezirk, wo früher das Ghetto war, das sogenannte jüdische Viertel. Es gibt hier zahlreiche kulturelle Aktivitäten und gastronomische Angebote.
Gibt es auch in anderen Städten lebendige jüdische Gemeinden?
Relativ wenige. Budapest ist das Zentrum, aber auch in anderen großen Städten kann man Versuche einer Wiederbelebung jüdischer Kultur beobachten, doch nicht in diesem Ausmaß.
Wie erklären Sie diese Ambivalenz: Einerseits das blühende jüdische Leben in Budapest und andererseits der virulente Antisemitismus in großen Teilen der Gesellschaft?
Komischerweise gehören die zwei Dinge zusammen. Je präsenter das jüdische Leben, umso mehr fühlen sich Antisemiten herausgefordert. Es gibt hier eine große Neigung zu antijüdischen Verschwörungstheorien, also der klassische Antisemitismus. Ich sage es immer so: Ungarn ist kein antisemitisches Land, aber es gibt in diesem Land Antisemitismus.
Während des Jüdischen Weltkongresses Anfang Mai demonstrierten etwa 1 000 Anhänger der Jobbik-Partei in Budapest. Sie forderten ein Ende des Zionismus und erklärten, Abgeordnete und Beamte mit der doppelten Staatsbürgerschaft Ungarns und Israels sollten ihre Ämter aufgeben. Jobbik ist die drittstärkste Kraft im ungarischen Parlament. Wie gefährlich ist diese Partei?
Leider haben Sie Recht. Diese Partei ist sehr präsent, auch im Internet übrigens. Jobbik hat viele Anhänger. Die Mehrheit von ihnen pflegt weniger den Antisemitismus als den hier ohnehin viel stärkeren Antiziganismus. Aber beides gehört zusammen, man kann nicht Rassist gegen Juden sein, aber kein Rassist gegen Roma und umgekehrt. Es gibt viele junge Leute, die keine wirtschaftliche Perspektive für sich sehen, sie betrachten Jobbik als Gegenmodell zu allem, zu den traditionellen Parteien, zu Europa, zu Amerika und auch zu Israel. Der Antisemitismus von Jobbik drückt sich vor allem darin aus, dass Israel als Quell allen Übels in der Welt dargestellt wird. Ihre Verschwörungstheorie ist, dass die israelische Regierung und Geschäftsleute versuchen würden, hier das Land aufzukaufen, damit wenn – Gott behüte – ein Angriff vom Iran erfolgt, die Israelis nach Ungarn einwandern können. Das ist natürlich Quatsch, aber es gibt nicht wenige Ungarn, die daran glauben.
Nicht nur die rechtsradikale Jobbik schürt den Antisemitismus. Ein Minister der Fidesz, Zoltán Balog, verlieh im März Verdienstorden an verschiedene Antisemiten und einen rechtsextremistischen Musiker, allgemein findet eine schleichende Rehabilitierung der Horthy-Ära statt …
Ja, es gibt, wie ich sagte, in diesem Land Antisemitismus, einen klassischen, mit einem neuen, dem sekundären Antisemitismus verbundenen. Es gibt viel zu tun, man muss sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Das wird jedoch auch getan. Ist es genug? Nein! Kann man mehr machen? Ja! Aber die Regierung tut tatsächlich einiges. Wobei klar ist: Mit Floskeln ist es nicht getan, es müssen immer auch Taten folgen.
Am Nationalfeiertag wurde in Siófok eine Horthy-Statue eingeweiht, vom Verteidigungsminister höchstpersönlich. Läuft die Beschäftigung mit der Geschichte nicht komplett in die falsche Richtung?
Eine Rehabilitierung von Horthy findet in der Tat statt. So gibt es immer wieder einen Schritt nach vorne und zwei zurück. Das hat damit zu tun, dass dieser Staat, anders als Deutschland, keinen so langen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit hatte. Das hat noch gar nicht richtig angefangen. Aber die Regierung hat beschlossen, das Jahr 2014 zum Gedenkjahr für den Holocaust zu erklären, da werden viele entsprechende Veranstaltungen stattfinden. Ich glaube, das Jahr 2014 wird ein Schritt in die richtige Richtung werden, ebenso wie es die Tatsache war, dass der Jüdische Weltkongresses in Budapest stattgefunden hat. Das war ein wichtiges Zeichen.
Sie selbst haben im Mai aus Protest eine geplante Reise in die Stadt Eger abgesagt, nachdem Hetztiraden eines Fidesz-Abgeordneten gegen einen jüdischen Schauspieler bekannt geworden waren.
Ja, das habe ich demonstrativ abgesagt. Ich muss als Botschafter diplomatisch sein, aber jemand, der Antisemit ist oder obsessiv Israel dämonisiert und Verschwörungstheorien verbreitet, ist für mich kein Ansprechpartner. Das ist mein Grundprinzip. Wenn jemand offiziell eine Liste von jüdischen Künstlern zusammenstellen will, die nicht eingeladen werden sollen, ist eine Grenze überschritten. Mit solchen Leuten kann ich nicht kommunizieren.
Wie Sie bereits sagten, gehen Antisemitismus und Antiziganismus häufig Hand in Hand. Die Lage für Roma ist in Ungarn, gerade auf dem Land, mehr als kritisch. Gibt es Kooperationen zwischen jüdischen Einrichtungen oder auch Ihrer Botschaft mit Roma-Verbänden?
Auf jeden Fall! Ich versuche bei möglichst allen Veranstaltungen, die von Roma-Verbänden gemacht werden, anwesend zu sein. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir gerade eine ungarische Roma, die als studentische Praktikantin bei uns in der Botschaft in der Presseabteilung arbeitet. Ich werde alles daran setzen, diese Praxis fortzusetzen. Auch in der Landwirtschaft planen wir, etwas beizutragen. Wir wollen einige Roma-Dörfer kostenlos mit einem Bewässerungssystem aus Israel ausstatten. Für das einzige Roma-Gymnasium in Ungarn, zwei Stunden von Budapest entfernt, werde ich einen Schüleraustausch mit einer Schule in Israel organisieren. Das Thema Roma liegt mir sehr am Herzen. Es steht auf unsere Prioritätenliste weit oben.
Sie waren, bevor Sie als Botschafter nach Ungarn kamen, zwei Jahre in Israel. Wie blickt man dort auf Ungarn, was haben Ihre Freunde Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Viele sind entsetzt, wenn sie hören, was über dieses Land bezüglich Antisemitismus berichtet wird. Aber in den Medien wird nur ein Teil der Realität abgebildet. Es gibt hier Antisemitismus, klar, aber zum Beispiel weniger antisemitische Vorkommnisse als in Deutschland. Und ich frage mich, wenn das Bild Ungarns so schlecht wäre, wieso kommen dann so viele Israelis zum Urlaub hierher?
Haben Sie Reisetipps für uns, was wir in Ungarn noch gesehen, gegessen oder getrunken haben sollten?
Das Essen ist wirklich ein Problem. Ich habe acht oder zehn Kilo zugenommen. Das Essen ist dermaßen gut, dass es schon wieder gefährlich ist. Und der ungarische Wein ist einzigartig. Ich wusste das vorher nicht. Ich reise viel durchs Land und es gibt zwei Weinbauregionen, die ganz ausgezeichnet sind. Und in Budapest gibt es sehr viel Kultur zu erleben, kaum weniger als in Berlin. Die Stadt ist wirklich wunderschön! Ich empfehle, alle sieben Brücken zu überqueren, man bekommt immer neue Blickwinkel auf die Stadt. Aber wenn man hier ist, soll man natürlich nicht vergessen, dass die größte Katastrophe der jüdischen Geschichte auch hier stattgefunden hat.