Wie Musiker afrikanischer Herkunft Europas Unterhaltungskultur beeinflussten

Vergessene Pioniere

Musiker afrikanischer Herkunft gehörten in Europa zu den Wegbereitern massenmedialer Unterhaltung. Ihre längst vergessenen Werke finden sich auf alten Phonographenwalzen, Grammophonplatten und in Stumm- und Tonfilmen. Das Label Bear Familiy Records hat jetzt den verschollenen Schatz in Archiven und Sammlungen geborgen.

Zum Selbstbild Europas gehört auch im 21. Jahrhundert noch die Vorstellung, man habe die Welt entdeckt. Zwar hat sich mittlerweile zumindest in fortschrittlicheren Teilen der europäischen Gesellschaft herumgesprochen, dass diese »Entdeckungen« bloß die Ouvertüre für Jahrhunderte der Gewalt und Ausbeutung darstellten, an dem zugrundeliegenden Narrativ, wonach es Europäer waren, die in die verschiedenen Teile der Welt zogen, um sie schließlich zu der globalisierten Einheit zu machen, die sie heute ist, scheinen jedoch kaum Zweifel zu bestehen.
In der europäischen Geschichtsschreibung kommen Menschen außerhalb Europas noch immer nur am Rande vor. Die afrikanischen Länder südlich der Sahara werden nahezu völlig ignoriert. Aus Afrika stammende Menschen existieren in der kollektiven Erinnerung Europas lediglich als Opfer von Sklavenhandel, Kolo­nialisierung und rassistischen »Völkerschauen«. Aus Sicht der europäischen Geschichte sind sie vor allem Objekte der Handlungen anderer und werden nur in Ausnahmefällen als handelnde Subjekte gesehen. Dieses Geschichtsbild, das sich nur langsam wandelt, ist ebenso falsch wie rassistisch und mit dem derzeitigen Forschungsstand nicht in Einklang zu bringen.
Bereits zu Zeiten des Römischen Imperiums dienten Soldaten aus den afrikanischen Provinzen auf europäischem Boden, etwa in Köln oder im nördlichen England. Einzelne mittel­alterliche Quellen und Fundstücke deuten darauf hin, dass auch in späteren Jahrhunderten, etwa in Folge der Kreuzzüge oder der Raubzüge der Wikinger, Menschen aus Afrika den Weg nach Europa gefunden haben. Seit der Renaissance hat die Zahl schwarzer Menschen in Europa stetig zugenommen; und sie haben verschiedenste Spuren hinterlassen. Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens und Rembrandt etwa haben schwarze Menschen, die ihnen Modell gestanden haben, porträtiert. Die britische Forscherin Kathy Chater fand bei ihrer Untersuchung von Dokumenten aus den Jahren 1660 bis 1807 Hinweise auf über 5 000 schwarze Menschen, die während dieser Zeit in Großbritannien gelebt haben und die den verschiedensten Berufen vom Kohlenhändler bis hin zur Schauspielerin nachgegangen sind.
Spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert dürften schwarze Menschen – wozu in zunehmender Zahl auch Nachkommen der Sklavinnen und Sklaven gehörten – wenn auch in überschaubarer Zahl, so doch in nahezu allen Gegenden Europas ansässig gewesen sein. Geogra­phische Schwerpunkte lagen in Hafenstädten wie Liverpool oder Hamburg, von denen aus Schiffe nach Afrika oder Amerika fuhren, doch finden sich auch Quellen zu und Berichte über einen aus der Karibik stammenden schwarzen Postmeister in Norwegen oder einen aus den USA stammenden schwarzen Pferdetrainer in Moskau. Die Berliner Illustrierte Zeitung druckte 1902 einen Bericht samt Foto über einen Schwarzen namens Martin Dibobe, der als Zugführer bei der Berliner Hochbahn arbeitete.
Das Label Bear Family Records, das sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte einen exzellenten Ruf als Chronist längst vergessener Musik aus den Jahrzehnten vor Woodstock erarbeitet hat, beschäftigt sich mit dem Wirken und dem Leben schwarzer Musiker in Europa. Unter dem Titel »Black Europe« erscheint eine CD-Sammlung, die sich in fast schon enzyklopädischen Ausmaßen mit der Geschichte der von schwarzen Menschen gespielten Musik im Europa der Zeit von 1880 bis in die späten zwanziger Jahre befasst. Die Sammlung umfasst 44 CDs mit 56 Stunden Musik bekannter und unbekannter Künstlerinnen und Künstler aus der Frühzeit der Tonaufnahmen. Die frühesten der insgesamt 1 244 Aufnahmen stammen aus dem 19. Jahrhundert, die neuesten aus den späten zwanziger Jahren.
An den beiden beigelegten, jeweils 300seitigen Büchern, die sich akribisch und reichhaltig bebildert der Geschichte schwarzer Musikerinnen und Musiker in Europa widmen, sind namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt – allen voran die britischen Forscher Jeffrey Green und Howard Rye sowie Rainer E. Lotz, Autor zahlreicher Bücher über die Frühzeit des Jazz. Bereits die insgesamt rund 200 Seiten Einführung sind bestens dazu geeignet, zumindest mit einigen rassistischen Vorurteilen in Bezug auf die frühe Geschichte schwarzer Menschen in Europa aufzuräumen.
Herzstück des Mammutprojekts, an dem die Beteiligten über mehrere Jahre gearbeitet haben, ist natürlich die Musik. Was zunächst einmal auffällt, ist die gute Klangqualität. Bedenkt man, dass ein Gutteil der Aufnahmen älter als hundert Jahre ist, ist der Klang der meisten Stücke geradezu phantastisch zu nennen. Hier haben Label und Toningenieure wirklich gute Arbeit geleistet. Noch beeindruckender jedoch ist die musikalische Bandbreite, die hier dokumentiert ist. Traditionelle afrikanische Folk Music ist ebenso vertreten wie Spirituals, Jazz und dessen vielfältige Vorläufer.
Ganz unterschiedlich sind auch die Biographien der Musiker. Einige von ihnen wie Josephine Baker, die zu ihrer Zeit als »meistfotografierte Frau der Welt« galt, sind Teil des popkulturellen Kanons. Bekannt ist auch die Gruppe The Savoy Quartet, eine der wichtigsten Formationen, deren Musik zwischen Ragtime und Jazz angesiedelt ist. In der Band spielten schwarze und weiße Musiker gemeinsam, was zu damaliger Zeit weder in den USA, dem Geburtsland ihres schwarzen Schlagzeugers Alec Williams, noch in den europäischen Kolo­­nien in Afrika problemlos möglich gewesen wäre.
Viele Werke sind heute nur noch Fachleuten oder einer Handvoll Fans bekannt, Originalaufnahmen und Wiederveröffentlichungen sind oft kaum mehr auffindbar, Künstlerkarrieren schwer zu rekonstruieren. Zum Beispiel die des Sängers Noble Sissle und des Pianisten Eubie Blake, die im London der zwanziger Jahre als Vaudeville-Duo auftraten. Ein anderes ist der in Mississippi geborene Joseph Boyd, der über Umwege nach Berlin gelangte und dort 1921 für den niederländischen Ableger des deutschen Labels Anker einige Songs einsang, bevor er sich schließlich in Paris niederließ.
Wirklich obskur hingegen sind die Aufnahmen von Tessema Eshete – obskur deswegen, weil es sich bei diesem um niemand anderen als den Fahrer des damaligen Kaisers Menelik II. von Äthiopien handelte. Die Aufnahmen wurden angefertigt, als er sich 1908 zwecks eines Fahr­trainings in Deutschland aufhielt. Eshete ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der erste Afrikaner, der in Europa Tonaufnahmen machte. Allerdings hatten bereits 1899 der Kaiser und seine Gemahlin eine akustische Grußbotschaft für die damalige britische Königin Victoria angefertigt. Da es jedoch ihr ausdrücklicher Wunsch war, dass der Zylinder, der diese enthielt, nach dem Hören zerbrochen werden möge, ist diese älteste Tonaufnahme von Menschen aus Afrika leider für immer verloren.
Einen nicht unwesentlichen Teil der Aufnahmen stellen die hier versammelten frühen Tondokumente dar, die Ethnologen und Linguisten – häufig noch auf Wachszylindern – von verschiedenen Sprachen Afrikas angefertigt haben, um diese wissenschaftlich zu dokumentieren. Ein Gutteil dieser stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und wurde in deutschen Kriegsgefangenenlagern aufgezeichnet, in denen alliierte Soldaten afrikanischer Herkunft interniert waren. So interessant und beeindruckend einige dieser Aufnahmen auch sein mögen, so fällt es doch schwer, sie zu hören, ohne dabei an die zumeist von der Überlegenheit einer imaginierten »weißen Rasse« überzeugten Schädelvermesser zu denken, die die damalige Ethnologie und Ethnographie prägten.
Es wäre wohl auch unrealistisch, ein Werk über die Musik schwarzer Menschen im Europa um die vorletzte Jahrhundertwende zu erwarten, in dem kein Rassismus zu finden ist. Rassismus und weißes Überlegenheitsdenken sind mit dieser Phase europäischer Geschichte eng verbunden oder, besser gesagt, integraler Bestandteil derselben. Dennoch oder gerade deswegen ist »Black Europe« ein herausragendes und wichtiges Werk, dessen Umfang, Akribie und Vielschichtigkeit beeindrucken.

Black Europe (44-CD Box) Bear Family Records, 499 Euro