Die Streiks gegen die Bildungsreform in Mexiko

Ein ernster Bildungsauftrag

In Mexiko ist mehr als zwei Monate lang gegen eine Bildungsreform gestreikt worden. Dass es dabei nur am Rande um die Qualität der Bildung geht, wissen aber nur die wenigsten Mexikaner.

Vor dem Eingang zum Regierungspalast halten die Wachmannschaften die Oberschüler in Schach. Mit Megaphon, Transparenten und Sprechchören fordert der Nachwuchs in Oaxaca de Juárez mehr Qualität im Unterricht. »Der klassische Frontalunterricht mit veraltenden Lehrinhalten steht uns bis hier«, sagt Carlos Ali Paz López und hält die flache Hand unter seine Nase. »Wir wollen nicht mehr auswendig lernen, sondern lernen, zu denken und zu analysieren. Das Bildungssystem muss sich ändern«, fordert er gemeinsam mit etwa 200 Oberschülern und Studierenden. Das Bildungssystem ist derzeit in Mexiko in aller Munde, denn bis zum Montag vergangener Woche gingen die Lehrerinnen und Lehrer aus dem im Süden Mexikos gelegenen Bundessstaat Oaxaca auf die Straße. In der Hauptstadt Mexiko-Stadt protestierten Tausende Lehrkräfte gegen miserable Lehrbedingungen und eine Reform, die als Bildungsreform verkauft werde, aber eine Arbeitsmarktreform sei, wie Marcos Leyva, Bildungsexperte der NGO Educa aus Oaxaca, urteilt.
Die Organisation setzt sich für moderne Unterrichtsformen ein, plädiert für mehr Respekt gegenüber den indigenen Sprachen in der Region und für bilingualen Unterricht sowie für eine bessere Ausstattung in den oft engen, teilweise weit abgelegenen Schulen in dem Bundesstaat. Forderungen, die bei der jüngsten Bildungsreform der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto keine Berücksichtigung fanden. Diese hofft, dass die schlechten Ergebnisse des mexikanischen Bildungssystems durch die regelmäßige Evaluation der Lehrkräfte verbessert werden können. Als Druckmittel dient die Bezahlung, denn nur wer gute Ergebnisse erzielt, soll befördert und auch besser bezahlt werden.
»Die Evaluation erfolgt jedoch«, so Marcos Leyva, »nicht nach lokalen und regionalen Charakteristika, sondern landesweit einheitlich.« Ein bedeutender Fehler in den Augen vieler Lehrer. Sie sind nicht, wie in den Medien gern dargestellt, gegen jegliche Evaluation ihrer Leistungen, sondern gegen ein starres Testverfahren. »Wir Lehrer der Sección 22 der Lehrergewerkschaft SNTE aus Oaxaca haben einen eigenen Vorschlag für ein Evaluationssystem gemacht, das differenziert und nicht alle Schulen und Lehrer über einen Kamm schert. Es gibt nun einmal Unterschiede zwischen den bettelarmen Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca und Chiapas und anderen wie Guadalajara oder Mexiko-Stadt«, sagt Gabriel López Chiña. Der Pädagoge hat am Montag voriger Woche nach zwei Monaten der Streiks, Proteste und Demonstrationen gegen die Bildungsreform wieder den Unterricht an einer Grundschule und an einer weiterführenden Schule in Oaxaca de Juárez aufgenommen.

Das Ende des Streiks sei überfällig gewesen, findet der Taxifahrer Juan Ernel Vásquez. Der Mann von Ende 40 ist schlecht auf die Lehrerinnen und Lehrer zu sprechen. »Die drücken sich vor der Arbeit, protestieren und sind korrupt wie Elba Esther Gordillo«, ärgert sich der Familienvater, der Schwierigkeiten hat, mit seinem Job zu überleben. Elba Esther Gordillo ist die langjährige Sekretärin der SNTE, die weltweit bekannt wurde, weil sie sich selbst bereicherte, ein Jet-Set-Leben führte, bei Schönheitschirurgen in Kalifornien ein und aus ging und in Mexiko-Stadt in der Politik kräftig mitmischte. Gordillo, die derzeit im Gefängnis sitzt, steht für die überbordende Korruption in der SNTE, deren schlimmste Erscheinungsformen in Mexiko-Stadt zu beobachten sind, wo Lehrerstellen schon mal vererbt werden, Pädagogen manchmal über Wochen und Monate nicht zum Dienst erscheinen und Namen auf Lohnlisten stehen, deren Träger noch nie eine Schule von innen gesehen haben.
Doch innerhalb der mit 1,5 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft Lateinamerikas gibt es auch einen anderen Flügel – die Coordinadora Nacional de la Educación (CNTE). Sie entstand 1979 in Chiapas als Bewegung innerhalb der Gewerkschaft, die sich gegen Korruption, Paternalismus und Stillstand im Bildungssektor wandte und heute die Speerspitze des Lehrerwiderstands gegen die Bildungsreform bildet. Sie organisiert derzeit in acht von 32 Bundesstaaten Mexikos den Protest und hat Pläne ausgearbeitet, wie der Unterrichtsausfall in Oaxaca wieder aufgeholt werden kann. An Feiertagen soll unterrichtet werden, schulinterne Koordinationstage sollen auf Wochenenden statt auf Schultage gelegt und der Unterricht soll täglich um eine Stunde verlängert werden. So gleichgültig, wie es in den großen Medien behauptet wird, sind den Lehrkräften ihre Schülerinnen und Schüler nicht.
Doch geht es ohnehin um etwas anderes. »Die Politik will die Lehrer disziplinieren, das ineffektive Bildungssystem steht nicht auf dem Prüfstand«, kritisiert der katholische Priester Wilfrido Mayrén Peláez, der wegen seines Engagements für die Menschenrechte auch international bekannt ist. Es drohe noch schlechter zu werden: »Das Gesetz sieht eine Verlagerung von Aufgaben des Staats an die Lehrer und Eltern vor.« Sie sollen fortan für den Erhalt und die Renovierung ihrer Schule verantwortlich sein, wofür sie Mittel zugewiesen bekommen. Dass Lehrer und Eltern auf einmal besser dafür qualifiziert sein sollen als die Schulbehörden, bezweifeln Lehrer wie López Chiña: »Wir sind der Meinung, dass sich die Regierung ihrer Aufgaben entledigen will«. Zwar weist die Regierung immer wieder darauf hin, dass Mexiko eines der Länder mit den höchsten Bildungsausgaben ist, aber in der Realität ist davon wenig zu sehen. Klassen mit 50 Schülern sind auch in Mexiko-Stadt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ein Grund, weshalb die Zahl der Privatschulen im Land laufend steigt. Diese Entwicklung ist auch in Kolumbien und Brasilien zu beobachten, obwohl der Staat auch dort laut Verfassung für den Zugang zu Bildung verantwortlich ist.

Daher geben die mexikanischen Lehrkräfte ihren Widerstand nicht auf, auch wenn die Regierung keine Anstalten macht, das Gesetz zu modifizieren. Ein Zurück, das hat Präsident Peña Nieto mehrfach deutlich gemacht, wird es nicht geben. Gleichwohl wird längst mit der CNTE verhandelt, die die SNTE-Führung abgelöst als wichtigsen Ansprechpartner abgelöst hat, weil sie die Lehrkräfte mobilisieren kann. Ein kleiner Erfolg des Widerstands, der weitergehen soll. Die Tatsache, dass die in Oaxaca streikenden 70 000 Lehrerinnen und Lehrer nicht entlassen wurden, ist ein weiterer Erfolg. Deren Kündigung ist dem neuen Gesetz zufolge nämlich möglich, und zwar schon nach drei Tagen, was die Lehrkräfte ebenfalls kritisieren. Sie sehen darin einen Versuch, gewerkschaftlichen Einfluss systematisch zu schwächen. Dagegen hat die CNTE protestiert und schon jetzt ist klar, dass die Reform nicht ohne weiteres im Bundesstaat Oaxaca umgesetzt werden wird. Darauf soll aufgebaut werden, in immer mehr Bundesstaaten wird gegen das Gesetz demonstriert. Zu den bisherigen acht sollen mindestens ein Dutzend weitere dazukommen, in denen protestiert wird, um die Reform doch noch zu Fall zu bringen. Das könnte funktionieren, wenn sich große Teile der Bevölkerung beteiligen. Die ist, so kritisiert der Bildungsexperte Leyva, allerdings oft nicht im Bilde. Auf die CNTE wartet somit noch viel Überzeugungsarbeit. Die Oberschülerinnen und Oberschüler von Oaxaca hat sie allerdings schon hinter sich.