Warum die EU an der Türkei festhält

Wenn es sein muss

Für die EU ist die Türkei vor allem aus wirtschaftlichen Gründen interessant. Die Krise in den südeuropäischen Mitgliedstaaten zwingt die Union, neue Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten zu suchen. Doch die Zeiten des türkischen Wirtschaftswunders sind vorbei.

Geduld war bislang die wichtigste Eigenschaft, die türkische Vertreter bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union benötigten. Vor 14 Jahren wurde das Land offiziell als Kandidat anerkannt, seit acht Jahren wird mehr oder weniger intensiv über einen möglichen Beitritt gesprochen. Dennoch wurden bislang nicht einmal die Hälfte der 35 Kapitel, über die verhandelt werden muss, geöffnet. Selbst bei jenen Themen, die bereits behandelt wurden, ist man sich nicht einig. Erst ein einziges Kapitel wurde bislang erfolgreich abgeschlossen.
Es verwundert daher nicht, dass bei den Beteiligten jede Euphorie über einen möglichen EU-Beitritt verflogen ist, soweit sie denn zumindest in Westeuropa, je vorhanden war. Immer wieder sind die Gespräche von EU-Mitgliedstaaten blockiert worden, zuletzt im vergangenen Sommer, als Deutschland die bereits geplanten Gespräche wegen der Proteste um den Gezi-Park verschieben ließ. Drei Jahre lang waren die Verhandlungen zuvor ausgesetzt gewesen. In der kommenden Woche sollen sie nun mit dem Kapitel zum Thema Regionalpolitik aufgenommen werden. Die Themen Justiz, Demokratie und Grundrechte sollen möglichst bald folgen.

Nicht nur in der Türkei fragen sich viele, was von den Treffen überhaupt zu erwarten ist. Die Bereitschaft der EU zu neuen Verhandlungen sei »nichts weiter als ein reines Lippenbekenntnis«, tönte etwa Alexander Gauland, Sprecher der Alternative für Deutschland. »Die Völker Europas wollen keinen Beitritt der Türkei zur EU, da die Türkei nicht dieselben abendländischen Werte wie die Europäische Union teilt. Aber niemand traut sich, dies der Türkei offen zu sagen.«
Solche Ressentiments werden nicht nur von vielen konservativen und rechtspopulistischen Parteien in Europa geteilt. Umfragen zufolge ist in Österreich und Deutschland, aber auch in Frankreich, Finnland und Belgien die Bevölkerung mehrheitlich gegen einen Beitritt. »Ergebnisoffene Gespräche«, die Formel, die man bei den Verhandlungen so sehr bemüht, sehen wohl anders aus.
Es waren denn auch pragmatische Gründe, die die EU 1999 dazu bewogen hatte, die Beitrittsgespräche überhaupt zu beginnen. Damals dominierten die Kriege in Ex-Jugoslawien die Politik in Europa und für militärische Interventionen war eine türkische Unterstützung entscheidend. Zudem reagierten die EU-Regierungen panisch auf die zahlreichen Flüchtlinge, die wegen des Bürgerkriegs über die Grenze kamen. Ohne eine engere Kooperation mit der Türkei konnte die EU ihren Hinterhof in Südosteuropa nicht befrieden.
Knapp 15 Jahre später hat sich die Situation zwar grundlegend geändert, dennoch gleichen sich die Probleme. Kroatien ist mittlerweile Mitglied der EU, die Verhandlungen mit Serbien stehen kurz bevor, Albanien gilt als nächster Beitrittskandidat. Erst vergangene Woche hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärt, dass langfristig alle Balkanländer aufgenommen werden sollen, »wenn sie die Voraussetzungen und Kriterien erfüllen«.
Doch kaum ist der Balkan halbwegs ruhiggestellt, entstehen weiter südlich neue Krisen. Mittlerweile befinden sich rund 600 000 syrische Flüchtlinge in der Türkei, ohne dass ein Ende des Bürgerkriegs im Nachbarland abzusehen ist. Im nächsten Jahr rechnet man mit zwei Millionen weiteren Flüchtenden. Hinzu kommen die zahlreichen Menschen, die dem Leben in den afrikanischen Armutsregionen entkommen wollen. Sie versuchen, weiter nach Norden zu gelangen, wobei einige der wichtigsten Flüchtlingsrouten über türkisches Gebiet führen. Ohne eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei wird diese Entwicklung für die EU-Staaten dauerhaft kaum zu kontrollieren sein. Da nützt auch die Mauer entlang der Grenze zur Türkei nicht viel, deren Bau die bulgarische Regierung vergangene Woche bekanntgab.
Noch wichtiger sind die wirtschaftlichen Aussichten, die sich an der Schnittstelle von Europa und Asien ergeben. Lange Zeit galt das Land am Bosporus vor allem als Lieferant billiger Arbeitskräfte. Das hat sich grundlegend geändert.

Unter der AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan entwickelte sich die Türkei zum »anatolischen Tiger«. Kein europäischer Staat hatte in jüngster Zeit ähnlich fulminante Wachstumsquoten aufzuweisen, die jenen Chinas ähnelten. Das durchschnittliche Einkommen hat sich in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdreifacht, das Bruttosozialprodukt pro Kopf übertrifft jenes von EU-Mitgliedsstaaten wie Rumänien oder Bulgarien.
Der wirtschaftliche Erfolg der Regierung Erdoğan ist jedoch zugleich ihr zentraler Schwachpunkt. Das Wachstum basiert auf enormen ausländische Investitionen, die in den vergangenen Jahren in das Land flossen und die zumindest einem Teil der Bevölkerung einen geradezu rauschhaften Konsum ermöglichten. Hinzu kommen die staatlichen Infrastruktur- und Bauprojekte, die wesentlich zum Wachstum beigetragen haben. Es genügen allerdings bereits geringfügige Veränderungen im internationalen Finanzsystem, um dieser Prozess zu erschüttern. Allein die Vermutung, die US-Zentralbank könnte die Leitzinsen erhöhen, führte dazu, dass in Schwellenländern wie der Türkei ausländisches Kapital wieder abgezogen wurde. Und ohne internationale Mittel ist der Boom so schnell vorbei, wie er gekommen war. So wuchs im vergangenen Jahr die Wirtschaftsleistung nur noch um knapp zwei Prozent. Das diesjährige Wachstumsziel von vier Prozent wird ebenfalls verfehlt.
Weil das Land viel mehr importierte als ausführte, ist seine Leistungsbilanz zudem so defizitär wie bei kaum einem anderen OECD-Staat. Die türkische Wirtschaft braucht daher viel Kapital von außen, um das Defizit auszugleichen. Das macht das Land wiederum interessant für die EU, wo aufgrund der dauerhaften Depression in den südeuropäischen Mitgliedsstaaten dringend neue Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten gesucht werden. Immerhin ist die EU schon heute der mit Abstand wichtigste türkische Handelspartner. Über die Hälfte alle Ausfuhren aus der Türkei gehen nach Europa, während die EU-Staaten umgekehrt einen hohen Handelsüberschuss erzielen.
Vor allem aber kommt der Türkei im Wettlauf zwischen den USA und den europäischen Staaten um die Wachstumsmärkte in Asien große Bedeutung zu. Das Land hat sich zum ökonomischen Zentrum im östlichen Mittelmeer entwickelt: Es ist Umschlagplatz für Güter aus der Schwarzmeerregion, Pipelines transportieren Öl und Gas aus den Förderregionen im Kaukasus über türkisches Territorium nach Europa. Die Regierung in Ankara verfügt über gute Verbindungen zu rohstoffreichen Staaten wie Turkmenistan oder Kasachstan, ist wirtschaftlich mit der nordafrikanischen Region verflochten und hat die Beziehungen zum Iran und Irak intensiviert.
Die Umstände für Verhandlungen sind für Brüssel so günstig wie schon lange nicht mehr, denn die türkische Regierung befindet sich in einer misslichen Situation. Eine Zeitlang sah es fast so aus, als könnte sie auf Europa verzichten. Die AKP-Regierung träumte von einem neuosmanischen Wirtschaftsraum, der das Land unabhängig machen und zu neuer Größe führen sollte. Doch diese Pläne sind gescheitert. Im syrischen Bürgerkrieg ist die Türkei handlungsunfähig. Mit Israel ist sie tief zerstritten, mit Zypern gibt es territoriale Konflikte im Mittelmeer. Die nordafrikanischen Staaten wollen von einem türkischen Führungsanspruch nichts wissen, zumal die osmanischen Zeiten in Kairo oder Tripolis vielfach anderes in Erinnerung geblieben sind als in Ankara.
Zähneknirschend muss sich Erdoğan so wieder der EU annähren, denn eine andere strategische Option besitzt er derzeit nicht. Einen türkischer Beitritt könnte der EU wiederum mehr Gewicht im Nahen und Mittleren Osten verschaffen und den Einfluss der Europäer in der Region deutlich erhöhen. Sowohl die EU wie die Türkei sind auf eine enge Verbindung angewiesen. Auch wenn beide Seiten davon eigentlich nichts wissen wollen.