Frankreich ehrt Albert Camus

Der Fremde

Französische Kulturinstitutionen tun sich schwer damit, den Schriftsteller und Philosophen Albert Camus, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, angemessen zu würdigen.

Er ist außerhalb Frankreichs der meistgelesene Autor französischer Sprache. Nicht umsonst widmete der US-amerikanische Firmengigant Google ihm aus Anlass seines 100. Geburtstags eine eigene Suchmaske. »CAMUS« war dort zu lesen, wo sonst der berühmte Google-Schriftzug steht. Umso ­irritierender wirkt, dass der am 7. November 1913 in der Nähe von Constantine in Algerien geborene Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus in diesem Jahr keinerlei größere öffentliche Ehrungen durch die offiziellen Institutionen Frankreichs erfahren hat.
Am 8. November, dem Tag danach, legte die sozialdemokratische Kulturministerin Aurélie Filippetti zwar einen Kranz am Grab von Camus im südfranzösischen Lourmarin nieder, wo der Schriftsteller viele Jahre gelebt hatte. Es gab aber keine Zeremonie, nicht einmal eine Ansprache. Lediglich die Fragen der anwesenden Journalisten wurden beantwortet. Viele Kulturschaffende waren der Auffassung, dass der Autor, dessen Werke in der ganzen Welt bekannt sind, etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Tageszeitung Le Figaro führte auf ihrer Website eine Umfrage durch, um zu erfahren, ob »dieser herausragende Schriftsteller des 20. Jahrhunderts mehr verdient hätte«. 88 Prozent der Umfrageteilnehmer antworteten mit Ja, allerdings nahmen nur gut 400 Menschen an der Befragung teil – bei Online-Umfragen der Zeitung zu tagespolitischen Themen sind es oft mehrere Zehntausend.
»Wir dachten, Albert Camus sei konsensstiftend, aber das ist nicht der Fall. Und niemand traut sich, es zu sagen«, zitiert die Pariser Abendzeitung Le Monde den Verleger Antoine Gallimard, der die Rechte am Werk des Schriftstellers besitzt. Gallimard äußerte zudem sein Erstaunen darüber, dass es bis heute weder in der französischen Nationalbibliothek noch im Ausstellungszentrum Centre Pompidou eine größere Ausstellung gegeben hat. Im Unterschied etwa zu Jean-Paul Sartre, Boris Vian und Guy Debord, dem erst im Frühjahr eine Ausstellung in der Nationalbibliothek gewidmet worden war.
Dass gerade Camus diese Anerkennung versagt geblieben ist, dürfte vielfältige Gründe haben. Fast scheint es so, als fühle sich niemand für diesen Intellektuellen zuständig. Darin spiegelt sich nicht zuletzt das Selbstverständnis Camus’ als unabhängiger Denker, der sich keiner philosophischen Schule und keinem poli­tischen Lager verpflichtet sah. Er grenzte sich sowohl vom bürgerlichen Mainstream wie auch von der französischen Mehrheitslinken ab und kritisierte die stalinistisch geprägte Kommunistische Partei Frankreichs scharf. Sein Verhältnis zu Religion und Metaphysik war durchaus ambivalent. Camus sagte von sich selbst: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich bin kein Atheist.« Er bekannte: »Ich glaube nicht an das ewige Leben, aber ich glaube an das Heilige.« Camus war den Werten des Humanismus und der Emanzipation verpflichtet. Nicht zuletzt war er ein überzeugter Hedonist. Der Schriftsteller François Mauriac sagte über den Autor des berühmten Essays »Der Mythos von Sisyphos«: »Dieser Sisyphos«, gemeint ist Camus, »rollt seinen Felsbrocken nicht den Berg hinauf. Er steigt auf den Fels und macht einen Kopfsprung ins Meer.«
Um das Leben und den frühen Tod Albert Camus’, der am 4. Januar 1960 im Alter von 46 bei einem Autounfall starb, ranken sich manche Legenden. Die katalanische Schriftstellerin Carme Riera entwirft in ihrem 2006 erschienenen Roman »La moitié de l’âme« ein Szenario, dem zufolge der Schriftsteller vom Geheimdienst des franquistischen Spanien ermordet worden sei. Der italienische Schriftsteller Giovanni Catelli stellte 2011 mit Verweis auf ein posthum entdecktes Tagebuch des tschechischen Dichters Jan Zabrana die These auf, der sowjetische Geheimdienst habe Camus wegen seiner Kritik an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 ausschalten lassen. Auch wenn keine dieser Geschichten glaubhaft ist, deuten sie doch an, wie viele Feinde sich Camus gemacht hatte. Tatsächlich starb Camus als Beifahrer, als der Sportwagen seines Freundes Michel Gallimard, des Neffen seines Verlegers Gaston Gallimard, von der regennassen Straße abkam. Camus hatte für die Strecke bereits eine Bahnkarte gelöst, ließ sich dann aber von Gallimard zu der Autotour überreden.
Umstritten ist Camus nicht zuletzt wegen seiner Herkunft aus dem damals von Frankreich kolonisierten Algerien und seiner Posi­tion zum algerischen Unabhängigkeitskampf. Camus wurde als Sohn eines französischen Vaters und einer spanischen Mutter in Algerien geboren und gehörte damit zur europäischen Kolonialbevölkerung in Nordafrika. Einigen Darstellungen zufolge verweigerte er dem antikolonialen Befreiungskampf seine Unterstützung oder war unentschlossen, wie er sich dazu verhalten sollte. Der algerische Schriftsteller Kateb Yacine sowie der palästinensisch-amerikanische Autor Edward Said warfen ­Camus sogar vor, er sei durch ein »koloniales Unbewusstes« geprägt worden und habe sich nie von den Beschränkungen befreit, die ihm seine Herkunft aus der privilegierten europäischstämmigen Bevölkerung in einem kolonialen und konfessionellen Apartheidsystem auferlegt hätten.
Umgekehrt wird von den Kolonialnostalgikern, an denen es in Frankreich, vor allem im Süden des Landes, bis heute nicht mangelt, auf unverfrorene Weise versucht, Camus für sich und ihre revanchistische Sache zu vereinnahmen. Das ist der Grund dafür, dass die derzeit laufende Ausstellung über das Leben und Werk Albert Camus’ in Aix-en-Provence heftig umstritten ist und fast nicht zustande gekommen wäre.
Aix-en-Provence, eine Art Nobelvorort von Marseille, wird von einer konservativen Rathausmehrheit mit einem starken rechtsradikalen Flügel regiert. In der südfranzösischen Stadt leben 40 000 ehemalige Algerien-Siedler. Nicht wenige sind offen revanchistisch und haben die Unabhängigkeit Algeriens bis heute nicht akzeptiert. 2012 wurde eine Straße nach Jean-Marie Bastien-Thiry benannt, einem verurteilten Rechtsterroristen aus den Reihen der gegen den Rückzug aus Algerien bombenden und mordenden »Organisation der geheimen Armee« (OAS). Bastien-Thiry war im September 1962 auch an einem Attentatsversuch auf Präsident Charles de Gaulle beteiligt.
Am ersten Oktoberwochenende wurde in Aix die Ausstellung »Albert Camus, der Weltbürger« eröffnet, die noch bis zum 4. Januar in der Cité du Livre gezeigt wird. Die Zeitschrift Politis zitiert den Historiker José Lenzini, der mehrere Bücher über Camus verfasst und den Text zu einem Comic über den Schriftsteller geschrieben hat, mit den Worten: »Es gibt 36 000 Städte und Gemeinden in Frankreich, und Aix-en-Provence ist wirklich die letzte, in der diese Ausstellung hätte stattfinden dürfen.«
Die Ausstellung ist bereits seit 2008 im Rahmen der Veranstaltungsreihe zur Kulturhauptstadt Marseille geplant worden. 2009 wurde der Historiker Benjamin Stora zum Ausstellungsleiter ernannt. Von Anfang an stieß er auf Widerstände bei der rechten Kommunalverwaltung, der es denn auch gelang, Camus’ als eigenwillig geltende Tochter und Nachlassverwalterin, Catherine Camus, gegen den Geschichtswissenschaftler aufzubringen. Am 25. April 2012 konnte die Bürgermeisterin Maryse Joissains-Masini triumphieren: Stora erhielt für seine Vorarbeiten 1 500 Euro und wurde nach Hause geschickt. Die Bürgermeisterin höhnte: »Ich wusste gar nicht, dass er Historiker ist.« Gegenüber dem damaligen Kulturminister Frédéric Mitterrand beschwerte sie sich darüber, dass »ein Sympathisant des FLN«, also der algerischen Nationalen Befreiungsfront, die Ausstellung hatte kuratieren sollen.
Der Sozialdemokrat Stora gehörte einer besonderen Strömung des französischen Trotzkismus an, den sogenannten Lambertisten, die den FLN für eine kleinbürgerliche Organisa­tion hielt, die verhindert habe, dass die antikoloniale Revolution in Algerien eine proletarische wurde. Dieses Dogma mag Stora revidiert haben, aber seit seiner Doktorarbeit von 1974 gilt er als Spezialist für Messali Hadj, der eine mit dem FLN rivalisierende, wenngleich durchaus nicht proletarische Strömung des algerischen antikolonialen Nationalismus anführte. Der Vorwurf der Bürgermeisterin war also völlig abwegig.
Nach dem erzwungenen Abgang Storas wurde im Juni 2012 Michel Onfray zum neuen Ausstellungsleiter ernannt. Der Philosoph hatte kurz zuvor ein Buch über Camus veröffentlicht, das dessen Zugehörigkeit zur libertär-anarchistischen Strömung belegen soll. Onfray übernahm die Kuratorentätigkeit allerdings nur unter der Bedingung, dass die Ausstellung lediglich als Grundstein für ein in Aix zu errichtendes dauerhaftes Museum zu Ehren Albert Camus’ dienen würde. Ein Vorhaben, das jedoch von vielen Anhängern Camus’ abgelehnt wird, da der Schriftsteller es nicht gewollt hätte, musealisiert zu werden. Onfray wünschte sich den Titel »Albert Camus, ein Mann in der Revolte« für die Ausstellung. Nach nur drei Monaten trat er allerdings zurück, weil der auf ihm ebenfalls lastende politisch-ideologische Druck zu stark geworden war. Daraufhin brach Kulturministerin Aurélie Filippetti ihrerseits mit den Veranstaltern und zog die angekündigten Subventionen in Höhe von 400 000 Euro ersatzlos zurück.
Beinahe wäre das Projekt daraufhin gescheitert. Mit einiger Energie hat die Stadt es dennoch durchgesetzt, die Ausstellung ist Teil des Programms der Kulturhauptstadt. Das Ergebnis wird jedoch als »vergeudete Chance« (Le Monde) bezeichnet. Die Ausstellung setzt fast ausschließlich auf visuelle Effekte – das litera­rische und philosophische Werk Camus’ kommt nur am Rande vor. Fast wäre es bei der Aufstellung von Monitoren geblieben, auf denen man einige Sätze des Autors vorbeihuschen sieht, oft zu schnell, um sie in Gänze lesen zu können. Der Philosoph Maurice Weyembergh, der als Experte hinzugezogen worden war, konstatiert bitter: »Wir mussten darum kämpfen, dass überhaupt Glaskästen aufgestellt werden.« In ihnen kann man mit einigem guten Willen doch ein paar Auszüge aus Schriften von und über Camus studieren.
Zu gern hätten es die Kolonialnostalgiker von Aix gesehen, wenn man Camus als Sohn des »französischen Algerien« inzszeniert hätte. Am besten ohne näher auf seine politischen Schriften einzugehen. In Wahrheit stand Camus den algerischen Emanzipationsbestrebungen jedoch näher, als es den Revanchisten lieb sein kann. 1938 publizierte er als damaliges Mitglied der Kommunistischen Partei einen Artikel über die Misere in der kolonisierten Kabylei, der berbersprachigen Region im Nordosten Algeriens. Nach den Massakern vom 8. Mai 1945 in den algerischen Städten Sétif und Guelma recherchierte Camus drei Wochen lang als Journalist an Ort und Stelle, während die französische Presse die Repression in Nordafrika verteidigte. Als der bewaffnete Unabhängigkeitskampf 1954 begann, hielt Camus sich mit Äußerungen zurück, aus Sorge um das Schicksal der europäischen Bevölkerung in Algerien. Als Camus bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm 1957 von einem im Saal anwesenden algerischen Studenten auf seine Haltung angesprochen wurde, erklärte er: »Ich verurteile einen Terrorismus, wie er in den Straßen Algiers wütet und jederzeit auch meine Mutter oder meine Familie treffen kann. Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen.« Diese Sätze werden oft zitiert, um die Haltung Camus’ zum algerischen Unabhängigkeitskampf zu denunzieren, sie geben aber nur unzureichend seine differenzierte Position wieder. Eine andere Begegnung mit einem jungen Algerier fand in den Räumen des Gallimard-Verlags statt. Mit Tränen in den Augen soll Camus die Begegnung mit dem Studenten, der sich für die nationale Unabhängigkeit einsetzte, mit den Worten kommentiert haben: »Und was ist, wenn dieser Junge Recht hat?« In Algerien wurden Camus die in Stockholm gemachten Einlassungen lange Zeit übelgenommen. Neuerdings jedoch beziehen sich einige ­algerische Schriftsteller positiv auf ihn, wie etwa Boualem Sansal. Ein im November stattfindendes Kolloquium im algerischen Guelma ist ein weiteres Zeichen für die Neubewertung des Autors.
Camus’ Position zur organisierten antikolonialen Bewegung muss auch vor dem Hintergrund seiner Kritik an der französischen Mehrheitslinken und der autoritären KP verstanden werden. Camus schlug einen anderen Weg als Jean-Paul Sartre ein: Dieser war gegenüber dem Stalinismus französischer Prägung zwar ebenfalls kritisch, er entschied sich jedoch 1952 dafür, den kritisch-solidarischen Wegbegleiter für die KP zu spielen, weil sie als ein­zige Partei antikoloniale Positionen vertrete. Mit ihr brach Sartre 1956 infolge der Repres­sion in Ungarn. Wie tiefgreifend der Bruch mit Sartre bei Camus nachwirkte, zeigt ein erst kürzlich entdeckter Briefwechsel zwischen den beiden Rivalen. Camus scheint regelrecht traumatisiert von Sartres Bemerkung aus dem Jahr 1952, er sei »bürgerlich« geworden.
Umso abwegiger die Idee, die Nicolas Sarkozy während seiner Präsidentschaft verfochten hatte, die aber am Einspruch von Camus’ Tochter scheiterte. Sarkozy hatte wenige Wochen vor Camus’ 50. Todestag im Jahr 2009 die Überführung seiner Asche ins Panthéon, dem Ort, an dem Frankreich seinen nationalen Helden huldigt, angeregt, in der Hoffnung, der Glanz des Philosophen und Dichters möge auch auf ihn fallen. Camus sei konsensfähig, hatte er erklären lassen. Auch damit hat er sich geirrt.