Der Fall Gurlitt und die Debatte über NS-Raubkunst

Die deutsche Venus

Der Fall der Kunstsammlung von Cornelius Gurlitt hat eine neue Debatte um NS-Raubkunst angestoßen. Bislang hat das deutsche Recht es den Erben von Mitläufern und Mittätern ermöglicht, von NS-Unrecht zu profitieren. Ein Urteil aus dem vergangenen Jahr könnte das ändern.

Wer die öffentliche Debatte über die beschlagnahmte Bildersammlung von Cornelius Gurlitt verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, dass ein großes öffentliches Seminar über Probleme des allgemeinen deutschen Zivilrechts abgehalten wird. Zwar spricht vieles dafür, dass ein erheblicher Teil der auf eher unklarer, angeblich steuerstrafrechtlicher Grundlage beschlagnahmten Sammlung in die Kategorie der NS-Raubkunst fällt. Dennoch erfährt die Öffentlichkeit wenig über die Herkunft einzelner Bilder und ihre ehemaligen jüdischen Eigentümer.

Stattdessen beherrschen eher abstrakte Überlegungen die Debatte, beispielsweise über die rechtlichen Grenzen des sogenannten gutgläubigen Erwerbs. Selbst wenn Cornelius Gurlitts Vater Hildebrand Gurlitt, der im offiziellen Auftrag des NS-Regimes Bilder verkaufte, manche Werke auf sogenannte bösgläubige Weise in seinen Besitz überführte, also wusste, dass die Werke ihren ursprünglichen Eigentümern abhandengekommen waren, so das ernsthaft vorgetragene Argument, so gelte das doch nicht für seinen Sohn. »Bösgläubigkeit wird nicht vererbt«, wird Erik Jayme, der mittlerweile 79 Jahre alte, international renommierte Doyen des Kunstrechts in der FAZ zitiert. Das ist so richtig wie es unwahrscheinlich ist, dass Cornelius Gurlitt, dem sein 1956 verstorbener Vater die Sammlung hinterlassen hat, die Geschichte der Bilder und der Umstände, unter denen sie in die Sammlung kamen, nicht kannte.
In diesem Zusammenhang lohnt es, auf die Odyssee einer Sammlung von mehr als 12 000 Plakaten hinzuweisen, die dem Berliner jüdischen Zahnarzt Hans Josef Sachs gehörten. Aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem vergangenen Jahr muss sie seinem in Florida lebenden Sohn Peter Sachs zurückgegeben werden. Dass die Rückgabe immer noch nicht abgeschlossen wurde, ist dabei so bemerkenswert wie die Tatsache, dass auch dieses Verfahren keineswegs dazu geführt hat, dass die Frage der NS-Raubkunst und des Wohlstands, den sich Kunst sammelnde oder Kunst verkaufende Kollaborateure und Funktionäre des NS-Regimes damit verschafft haben, gesellschaftlich und politisch diskutiert wird.
Hans Josef Sachs, der nach dem Pogrom vom 9. November 1938 verhaftet worden war, emigrierte nach 20 Tagen im Konzentrationslager Sachsenhausen in die USA. Zuvor hatte er erfolglos versucht, seine Sammlung einem nichtjüdischen deutschen Bankier zu übertragen. Beamte des Propagandaministeriums hatten die Sammlung schließlich mit Lastwagen ins Kunstgewerbemuseum abtransportieren lassen. Die Plakate galten nach dem Zweiten Weltkrieg als verschollen, Hans Josef Sachs wurde 1961 für den Verlust mit 225 000 DM entschädigt. 1966 erfuhr er jedoch, dass sich ein erheblicher Teil der verloren geglaubten Sammlung im Ostberliner Zeughaus Unter den Linden befand.
Von den Behörden der DDR die Herausgabe zu verlangen, so urteilte der Bundesgerichtshof in dem Jahrzehnte später eröffneten Verfahren gegen das Deutsche Historische Museum, sei offensichtlich aussichtslos gewesen und habe daher nicht versucht werden müssen. 1974 starb Hans Josef Sachs in New York, ohne seine Plakate jemals wieder gesehen zu haben. 1998 starb auch seine Witwe Felicia Sachs. Erst der Sohn Peter Sachs versuchte, die Sammlung zurückzuerhalten, und ließ sie 2006 in der Internetdatenbank www.lostart.de registrieren. Diese dient der »Erfassung von Kulturgütern, die infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs verbracht, verlagert oder – insbesondere jüdischen Eigentümern – verfolgungsbedingt entzogen wurden«. Nun werden dort auch Werke aus der Sammlung Gurlitt zur Klärung der Eigentumsverhältnisse eingestellt.

In einem nächsten Schritt verlangte Peter Sachs die Herausgabe der Werke, da es sich um NS-Raubkunst handele, die nach den Washingtoner Prin­zipien von 1998 zurückzugeben sei. Das Deutsche Historische Museum lehnte die Herausgabe ab und wurde in dieser Entscheidung von der »Beratenden Kommission für die Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter« unterstützt. Es war die zweite von bislang sechs Empfehlungen dieses offiziösen Gremiums, dem die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, vorsitzt. Sachs gab jedoch nicht auf und prozessierte bis zum BGH, der mit seiner Entscheidung vom März 2012 neue Möglichkeiten für Restitutionsansprüche eröffnete und damit die Rechtsposition der Eigentümer von Kunstwerken stärkte, die während der NS-Zeit geraubt worden waren.
Zwei auch für den Fall Gurlitt wichtige Rechtsfragen sind besonders bedeutend für die Entscheidung des 5. Zivilsenats des BGH: Haben Hans Josef Sachs und seine Erben das Eigentum an der Sammlung zu irgendeinem Zeitpunkt verloren? Das wurde vom BGH klar verneint. Diese Bewertung kann auch im Fall Gurlitt Bedeutung haben. Kommt einem zivilrechtlichen Anspruch auf Herausgabe geraubter Kunstwerke der Vorrang vor den zur Wiedergutmachung erlassenen Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzen und dem dort vorgesehenen Verfahren zu? Der Bundesgerichtshof nimmt das jedenfalls für die Fälle an, in denen der während der Verfolgung durch die Nazis entzogene Vermögensgegenstand nach dem Krieg verschollen war und der Berechtigte erst nach Ablauf der für die Rückerstattung maßgeblichen Fristen von seinem Verbleib Kenntnis erlangt hat. Das galt für die Sammlung von Hans Josef Sachs, das gilt aber wohl auch für Kunstwerke aus Gurlitts Sammlung, von denen Hildebrand Gurlitt behauptet hatte, sie seien bei der Bombardierung Dresdens zerstört worden.
Eine weitere Schwierigkeit, die sich Peter Sachs stellte, um seinen Anspruch durchzusetzen, war die sogenannte Verwirkung. Immerhin wusste seine Familie seit 1966, dass Teile der Sammlung seines Vaters nicht verschollen waren, und hatte dennoch weder zu Zeiten der DDR noch in den Jahren danach Ansprüche geltend gemacht. Ein Recht gilt aber als verwirkt, wenn sich die Gegenseite wegen der Untätigkeit des Rechteinhabers darauf einrichten darf, dass dieses Recht nicht mehr geltend gemacht wird. Nach Auffassung des BGH reicht die 16jährige Untätigkeit des Klägers seit der Wiedervereinigung für die Annahme einer Verwirkung nicht aus, zumal es keine konkreten Handlungen des Klägers gegeben habe, aus denen das Deutsche Historische Museum den Schluss hätte ziehen können, dass die Eigentumsrechte nicht mehr geltend gemacht werden.
Die in der Auseinandersetzung um Gurlitts Bilder immer wieder vorgebrachte Verjährung von Ansprüchen der Eigentümer auf Herausgabe spielte im Verfahren von Sachs allerdings keine Rolle, obwohl die Verjährung zweifelsohne eingetreten war. Das Deutsche Historische Museum hatte die sogenannte Einrede der Verjährung aber nicht erhoben, wie es erforderlich gewesen wäre.
Einige Experten für Kunstrecht, die ihren Blick im Fall Gurlitt wie im Verfahren von Hans Josef Sachs auf die konkreten Umstände der zu verhandelnden Besitzverhältnisse richten, gehen davon aus, dass die Berufung Gurlitts auf die Einrede der Verjährung der Ansprüche von jüdischen Sammlern oder ihren Erben ohnehin unzulässig sein könnte. Das könnte insbesondere dann gelten, wenn die derzeitigen Besitzer oder ihre Vorgänger durch ihr Verhalten unmöglich gemacht oder erschwert haben, dass überhaupt Ansprüche gegen sie geltend gemacht werden können. Immerhin geht es hier um ein Verhalten, das im Statut für das Internationale Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg als Verbrechen gegen die Menschheit gewertet wurde: die Wegnahme von Kunstgegenständen, die im Eigentum eines Mitglieds einer ethnischen Gruppe standen, die als Ganzes vernichtet werden sollte. Das mag Siegerjustiz gewesen sein – doch als Grundlage für eigene deutsche Regelungen, die verhindern, dass die Erben von Mitläufern und Mittätern immer noch von NS-Unrecht profitieren, hätte dieser rechtliche Ansatz auch viele moralische Probleme gelöst.
Allerdings betreffen alle diese rechtlichen Probleme so oder so nur die Werke, die zum Kreis der NS-Raubkunst gehören. Das muss bei jedem einzelnen Bild zum Teil mühselig nachgewiesen werden. Auch Peter Sachs scheiterte in seinem Verfahren mit dem Bemühen, das Plakat »Die blonde Venus« herausgegeben zu bekommen. Es trug nicht, wie ursprünglich behauptet worden war, eine Inventarnummer und einen Namensstempel seines Vaters.