Rui Tavares, Gründer der linken portugiesischen Partei »Livre«

»Hier gibt es nichts zu feiern«

Portugal bekommt seit 2011 Finanzhilfen aus dem »Europäischen Rettungsschirm«. Die konservative Regierung wird dafür gelobt, die Vorgaben der sogenannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds vorbildlich umzusetzen. Doch gegen die Austeriätsmaßnahmen gibt es immer wieder Proteste. Vor kurzem wurde die neue linke Partei »Livre« gegründet. Die Jungle World sprach mit Rui Tavares, einem ihrer Gründer, über deren Ziele und die Chancen für linke Politik in Portugal. Tavares ist seit 2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments.

Sie haben Mitte November die linke Partei »Livre« mitgegründet. Warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden?
Es ist ein historischer Zeitpunkt in Portugal, die Troika und die Austeritätsmaßnahmen haben zu einem sozialen und ökonomischen Albtraum geführt. Dieser Albtraum hat politische Ursachen und politische Folgen. Die Ursachen liegen in der historischen Spaltung der Linken zwischen Reformern und Revolutionären, die bis heute fortwirkt. Sie reden nicht miteinander und wissen nicht, wie man gemeinsam eine progressive Bewegung organisiert. In den südeuropäischen Ländern haben wir glücklicherweise eine starke Linke, doch diese Linke ist zersplittert. Diese Spaltung wollen wir überwinden.
Manche würden einwenden, dass Sie die Spaltung vorantreiben. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?
Auf den ersten Blick stimmt das. Andererseits, was ist die Alternative? Einfach nur weiter so mit den bestehenden Parteien? Es muss andere Perspektiven geben. Und in den vergangenen Jahren hat es eine basisdemokratische Dynamik gegeben, mit Erklärungen, Demonstrationen und dem »demokratischen Kongress« der Alternativen. Hierbei hat sich auch gezeigt, dass es im Hinblick auf Inhalte und Politikansätze keine großen Differenzen innerhalb der portugiesischen Linken gibt. Trotzdem hat sie in den vergangenen Jahren nichts erreicht. Also muss sich jemand vorwagen und sagen, es gibt Platz innerhalb der Linken für neue Ideen. Und einige aus den traditionellen linken Parteien sind wegen uns recht nervös – alleine das sind schon gute Neuigkeiten. Die linken Wähler in Portugal sind unzufrieden. Mir widerstreben die Maßnahmen der Regierung, aber vor allem bin ich von den linken Parteien enttäuscht, die nichts an ihrer alten Haltung geändert haben.
Ihr Parteiname bedeutet »frei« und Sie beziehen sich häufig auf Themen wie »Freiheit«, »Europa« und »Ökologie«, die in der portugiesischen Linken keine große Rolle spielen. Möchten Sie den linken Diskurs erweitern?
Politisch sehen wir uns in der Mitte der Linken und unser Programm beruht auf vier Säulen. An erster Stelle kommt die Freiheit, die unseren Wurzeln in der libertären Linken entstammt. Wir wollen deren Ideen insbesondere im Hinblick auf den Bereich der digitalen Freiheiten anpassen. Die zweite Säule ist die Gleichheit, die klassische linke Themen wie soziale Gerechtigkeit umfasst. Eine weitere Säule ist die Demokratie. Wir wollen die portugiesische Demokratie stärken und mehr Partizipation ermöglichen, aber auch die europäische Demokratie ausgestalten. Eine europäische Demokratie ohne Macht wird immer von starken Interessengruppen und großen Ländern bestimmt werden. Die letzte Säule ist schließlich die Ökologie. In Portugal gibt es Parteien, die sich mit diesem Thema beschäftigen, aber die sind Satelliten von anderen, größeren Parteien. Es gab bei uns nie eine unabhängige Umweltbewegung, diese Lücke wollen wir ebenfalls schließen.
Welche Maßnahmen ergeben sich daraus?
Im Hinblick auf Europa betrifft das zum Beispiel den undemokratischen Prozess, dass sich im Rat der Europäischen Union Diplomaten als Gesetzgeber aufspielen. Unsere Vertreter dort sollten gewählt werden und vor den nationalen Parlamenten rechenschaftspflichtig sein. Der Rat ist eine undurchsichtige, reaktionäre Institution. Hier wollen wir grundlegende Änderungen erreichen. In Portugal wollen wir mehr Transparenz schaffen, zum Beispiel durch offene Vorwahlen für unsere Parlamentskandidaten. Außerdem haben wir eine Strategie für die südeuropäischen Länder der EU entwickelt, das Projeto Ulisses. Es geht uns um einen ökologischen Wechsel, einen Wandel in den sozialen Beziehungen und der Zusammenarbeit im gesamten südeuropäischen Raum. Das Vorbild hierfür ist die Tennessee Valley Authority, die im Rahmen des New Deal entstanden ist.
Welche Rolle könnte »Livre« bereits bei den nächsten Parlamentswahlen 2015 spielen?
Wenn die Sozialisten die nächsten Wahlen gewinnen, wird es wahrscheinlich eine große Koalition zusammen mit den konservativen Sozialdemokraten (PSD) geben. Der PSD will die Verfassung ändern, die für ihn ein sozialistisches Machwerk ist. Wenn sich die Linke bis 2015 nicht zusammenrauft, werden wir eine große Koalition mit einer verfassungsändernden Mehrheit bekommen. Das wollen wir auf jeden Fall verhindern. Wir halten viel auf unsere Verfassung, die aus der demokratischen Revolution von 1974 hervorgegangen ist. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden durch sie sehr gut geschützt und wir wollen, dass das so bleibt.
Welche Reaktionen hat die Gründung von »Livre« hervorgerufen?
Da muss man differenzieren. Die Eliten der anderen linken Parteien stehen uns sehr misstrauisch gegenüber. Sie sagen, es würde keinen Platz für eine neue linke Partei geben. Aber von der linken Basis, die von den vergangenen Jahren enttäuscht ist, haben wir nur positive Reaktionen erhalten. Die Menschen sind froh, dass wir die Tür für die Beteiligung am Parteileben öffnen. Bei uns sollen Parteimitglieder und Unterstützer das Recht haben, ihre Ideen und Entwürfe einzubringen, zu verändern und darüber abzustimmen. In anderen Ländern ist das normal, bei uns ist das nach der Revolution 1974 ein wenig in Vergessenheit geraten. Wir wollen diese demokratischen Strukturen innerhalb der Parteien wieder stärken und das schätzen die linken Wähler sehr.
Die neuen Wirtschaftsdaten aus Portugal scheinen eine leichte Verbesserung der Situation zu versprechen, die Arbeitslosenzahlen sinken. Haben sich die Maßnahmen der Regierung vielleicht ausgezahlt?
Ich warne vor einer solchen Einschätzung. Ja, die Zahlen sind besser, das liegt aber auch daran, dass weniger Menschen in Portugal leben. Es ist eine Tragödie. Junge, gut ausgebildete Menschen verlassen das Land, knapp 120 000 Menschen pro Jahr. Natürlich geht dadurch die Zahl der Arbeitslosen zurück, gleichzeitig schrumpft aber auch die Zahl der potentiellen Arbeitskräfte. Hier gibt es also nichts zu feiern. Außerdem sind wir seit drei Jahren in einer Rezession, es handelt sich also um eine Depression – manchmal kommt man ein wenig heraus, dann gleitet man wieder hinab, in Portugal fehlt ein eindeutiger Wendepunkt. Wenn also weiterhin nichts getan wird, bleibt es bei einer schrumpfenden Wirtschaft. Deshalb nenne ich diese Depression, im Unterschied zur »Großen Depression«, die »Lange Depression«, und es ist kein Ende in Sicht.
Der portugiesische Haushalt für 2014 beinhaltet fast ausschließlich Kürzungen und Steuererhöhungen. Wird das helfen?
Sollte der Haushalt Bestand haben, ist das eine Katastrophe. Zumindest Teile davon scheinen aber verfassungswidrig zu sein. Vor allem ist es wieder einmal ein Haushalt, der starke Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst vornimmt. Ein hier in Portugal bekannter Ökonom hat argumentiert, dass der leichte Aufschwung damit zusammenhängt, dass in der Vergangenheit gerade nicht alle Austeritätsmaßnahmen durchgesetzt wurden. Das heißt, wenn die Regierung mit diesem Haushalt durchkommt, dann wird das Ergebnis eine erneute Rezession sein. Wenn aber das Verfassungsgericht die verfassungswidrigen Teile korrigiert, könnte es eventuell einen leichten Aufwärtstrend geben – es wäre immer noch kein Wendepunkt, aber etwas weniger Rezession.
Im Juni kommenden Jahres werden die Finanzhilfen der Troika enden. Was kommt dann?
Das hängt vor allem von der neuen politischen Situation im Europaparlament ab, wer also der nächste Kommissionspräsident sein wird und wie die dortigen Machtverhältnisse aussehen. Wenn es nach den Europawahlen im Mai 2014 eine starke Minderheit – ich gehe nicht von einer Mehrheit aus – gegen die Austeritätsmaßnahmen gibt, dann könnte die Möglichkeit bestehen, aus dem Troika-Programm ein Programm für einen südeuropäischen Aufschwung zu machen. Sollten allerdings dieselben austeritätsfixierten Politiker an der Macht bleiben, wird die »Lange Depression« weiter andauern.
Das Nahziel für »Livre« sind also die Europawahlen im kommenden Jahr?
Nicht unbedingt. Wir haben zwar einen starken EU-Bezug und wissen, was wir auf der Ebene der EU machen und bewirken können. Das ist dennoch nicht so einfach. Im Moment haben ja vor allem solche Parteien Erfolg, die sich »anti-EU, anti-Politik, anti-alles« geben. Das entspricht nicht unserem Ansatz, wir sehen uns als eine progressive, gestalterische Kraft. Die Beteiligung an den Europawahlen könnte aber ein wichtiger Schritt zu unserem eigentlichen Ziel sein. Denn unser Blick richtet sich auf 2015, um in Portugal eine große Koalition und die drohende Verfassungsänderung zu verhindern.