In den USA tritt die Reform des Gesundheitssystems in Kraft. Eine Bestandsaufnahme aus Los Angeles

Ein Fortschritt mit Nachteilen

Die umfassende Reform des US-amerikanischen Gesundheitssystems, auch bekannt als »Obamacare«, sollte ein Triumph für den US-amerikanischen Präsidenten sein. Doch schon lange bevor es in Kraft trat, war das neue System umstritten. Ab Januar sind alle US-Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen. Wird jetzt alles besser? Eine Bestandsaufnahme aus Los Angeles.

Melvin Ennis Jones ist seit 15 Jahren obdachlos. Damals kam, wie er sagt, »eines zum anderen«, und er verlor seinen Job als U-Bahnfahrer. Seitdem lebt er auf der Straße. Seine Gesundheit macht ihm zu schaffen. »Mir geht’s ganz schlecht«, beklagt er sich und erzählt von einem doppelten Leistenbruch, der erst vor einer Woche operiert wurde. Seitdem, sagt er, müsse er sich ständig erbrechen, »aber es kommt nichts raus«.
Deswegen sitzt er hier, im Wartesaal des John Wesley Health Center (JWCH), einer von vier kostenfreien Kliniken in Downtown Los Angeles. Die sogenannte Skid Row gilt als eine der ärmsten Gegenden der USA, die Menschen leben hier auf der Straße, es sieht aus wie in einem Slum. Das JWCH und die anderen kostenlosen Kliniken sind für viele die einzige Chance, medizinisch versorgt zu werden. Die Patienten stehen bereits vor Sonnenaufgang Schlange und hoffen auf eine Untersuchung vom Arzt. Acht bis neun Stunden müssen sie in der Regel warten. Für das Krankenhauspersonal gibt es viel zu tun: Bis zu 10 000 Patienten werden pro Jahr im JWCH behandelt. »Wir sehen hier sehr viel Diabetes, Bluthochdruck, Lungenkrankheiten, Asthma und Herzkrankheiten«, sagt Dr. Paul Gregerson, der Chief Medical Officer der Klinik. Erst vor wenigen Monaten kam es zu einem Tuberkuloseausbruch in Downtown. »In den Obdachlosenheimen kann sich das Virus ungehindert ausbreiten.« Dazu kommt die enorme Anzahl der HIV-Patienten. Bis zu 2 500 Neuinfektionen wurden im März 2013 hier verzeichnet, die zweithöchste Ziffer des Landes. Erst seit Kurzem werden alle Patienten hier routinemäßig auf HIV getestet. Möglich gemacht hat dies das »Affordable Care Act« (ACA), besser bekannt als »Obamacare«, die umfassende Reform des amerikanischen Gesundheitssystem, die größtenteils seit Jahresbeginn gilt. »Vor Inkrafttreten des ACA gab es für Obdachlose keine Möglichkeit, eine Versicherung abzuschließen«, sagt Gregerson. »Nur 20 Prozent unserer Patienten kamen für staatliche Hilfe infrage.« Das wird jetzt anders. Tatsächlich hat die Reform weitab von der politischen Debatte in Washington und in den Medien tiefgreifende Auswirkungen, gerade für die ärmeren Bevölkerungsschichten und für Einwanderer. Ein Großteil der Krankenhäuser in den USA ist in privater Hand und handelt dementsprechend profitorientiert. Diejenigen, die sich keine private Krankenversicherung leisten können, werden meist in kostenfreien Kliniken behandelt, die staatlich finanziert werden. Allein in Los Angeles, der zweitgrößten Stadt der USA nach Einwohnerzahl, sind das gewaltige Zahlen. In 200 solcher Community Clinics werden jährlich durchschnittlich eine Million Patienten behandelt: Arme, Obdachlose, Immigranten. »Wir weisen keinen einzigen Patienten ab«, erklärt Louise McCarthy, die Geschäftsführerin der Community Clinic Association of Los Angeles County, des Dachverbands gemeinnütziger Kliniken in Los Angeles. »Die Regierung investiert insgesamt 104 Millionen Dollar in die Kliniken«, so McCarthy. »Es ist absolut unerlässlich, dass wir jeden unserer Patienten behandeln. Es geht hier um das öffentliche Wohl. Wir alle profitieren davon, auch wirtschaftlich.«

Die Vollversicherung »für alle« wird allerdings trotz Obamacare vorerst nur ein Traum bleiben. Zehn Prozent der Einwohner in Los Angeles sind mutmaßlich illegale Einwanderer, ohne Papiere und ohne rechtlichen Status, meist Flüchtlinge aus Süd- und Mittelamerika, die vor Bürgerkriegen, Drogenkartellen oder einfach nur Korruption und wirtschaftlicher Not in den wohlhabenden Norden geflohen sind. »Man kann ihnen aus rechtlichen Gründen keine Krankenversicherung geben, aber behandeln können wir sie trotzdem«, sagt McCarthy. Bis zu 1,2 Millionen Menschen werden also weiterhin ohne Versicherung bleiben.
Das Eisner Pediatric & Family Medical Center liegt nur wenige Kilometer südlich von Downtown in South Los Angeles und ist eine der größten und besten Kliniken Südkaliforniens. Das Zentrum hat durch das ACA sechs Millionen Dollar erhalten, mit dem Geld wurde ein neues Ausbildungszentrum gebaut, die zahnärztliche Station erweitert und die Anzahl der Behandlungsräume in der Kinderstation verdoppelt. Benny Sauceda, einer der Verwalter der Klinik, erklärt, dass hier vor allem Schwangere und Kinder versorgt werden, unter anderem gibt es Geburtsvorbereitungskurse, bei deren Abschluss die werdenden Mütter Kindersitze und weitere nützlichen Kleinigkeiten geschenkt bekommen. Voller Stolz präsentiert Sauceda die Geschenkkörbe. Die Kinderstation ist das Herzstück der Klinik, der Chef hier ist Dr. Lawrence Yee. »Wir arbeiten fünf Tage die Woche«, sagt Yee, »wir kümmern uns um alles.« Die meisten seiner Patienten stammen aus Einwandererfamilien, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Yee und Sauceda gehen mit der Patientenflut äußerst fürsorglich um. »Die Patienten sind sehr respektvoll zu uns. Für viele ist die Klinik so etwas wie eine zweites Zuhause.«
Das Konzept der gemeinnützigen Kliniken ist eine Errungenschaft der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre und wurde vor allem unter der Präsidentschaft von George W. Bush erheblich gefördert. Obamacare hat die Finanzierung weiter aufgestockt, jetzt sind es 11,5 Milliarden Dollar. »Für uns war das ACA sehr gut«, erklärt Klinikleiter Carl Coan. Doch er ist besorgt, dass wegen des politischen Konflikts zwischen Republikanern und Demokraten um die Gesundheitsreform das Geld irgendwann gekappt werden könnte. »Vor dem ACA waren wir bei Demokraten und Republikanern gleichermaßen beliebt«, sagt er. Das ist jetzt anders, das neue Gesundheitssystem ist noch immer sehr umstritten. »Die wesentlichen Aspekte der Reform betreffen alle«, sagt Coan. »Ärzte, gemeinnützige Kliniken, private Krankenhäuser und natürlich auch Patienten.«
So kommen mit dem Inkrafttreten des ACA wesentlich mehr Menschen für das »Medicaid«-Programm infrage, die gesetzliche Krankenkasse für Patienten mit sehr geringem Einkommen, die zuvor nur sehr wenigen vorbehalten war. »Hier in Los Angeles haben wir in den vergangenen Monaten rund 300 000 Menschen zusätzlich in Medic­aid aufnehmen können«, sagt McCarthy. Das Geld dafür kommt aus Einschnitten an an­deren Stellen, beispielsweise werden bei der staatlichen Altersversorgung, auch als »Medicare« bekannt, 716 Milliarden Dollar an administrativen Fixkosten eingespart. Dazu kommen zusätz­liche Steuern auf medizinische Geräte und private Krankenversicherungen. Das ist der wesentlichste und wohl umstrittenste Teil von Obamacare.

»Im Grunde ist das ACA keine Reform des Gesundheitssystems, sondern eine Reform des Versicherungswesens«, sagt Coan. »Das sehen auch viele Experten so.« Die privaten Versicherungen werden nun vom Staat viel stärker reguliert, so dürfen sie beispielsweise keine Antragsteller mit Vorerkrankungen mehr abweisen. Im Gegenzug ist nun jeder US-Bürger gesetzlich verpflichtet, eine Versicherung abzuschließen. Wer es sich nicht leisten kann, erhält Subventionen vom Staat. Wer nicht als bedürftig gilt, muss auf einmal mehr zahlen, und zwar teilweise sehr viel mehr. Auf dem Blog MyCancellation.com, zu Deutsch »Meine Vertragskündigung«, werden Briefe von entrüsteten Bürgerinnen und Bürgern veröffentlicht, deren Krankenversicherung entweder zu Anfang des Jahres gekündigt oder deren Beiträge erhöht wurden. Es sind Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte. Teilweise werden die privaten Policen doppelt so viel kosten, manchmal werden sie sogar noch viel teurer. Und das, obwohl Präsident Barack Obama noch 2012 vollmundig verkündet hatte, dass die Privatversicherten ihre Policen einfach behalten könnten und sich dabei nichts ändern würde. Die Aussage war bestenfalls ein politischer Fauxpas, schlimmstenfalls eine freche Lüge, für die er jetzt einen hohen Preis zahlen muss: Seine Umfragewerte sind so tief gesunken wie nie zuvor. Die Kostenexplosion, vor der so viele gewarnt hatten, ist nun da, und doch scheint bislang niemand so recht absehen zu können, was in den kommenden Jahren noch an zusätzlichen Kosten auf den Staat und die Verbraucher zukommt. Das trifft besonders die untere Mittelschicht hart, die weder Medicaid noch andere Subventionen erhält.
Dr. Jane Orient hat als Ärztin mehrere Jahre im Veteran Administration Hospital in Tucson, im US-Bundesstaat Arizona, gearbeitet, mittlerweile leitet sie eine eigene Praxis. Zudem ist sie Geschäftsführerin der »Association of American Physicians and Surgeons« (AAPS), einer Organisation, die 1943 mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet worden war, einem verbindlichen Gesundheitssystem Einhalt zu gebieten. Die AAPS ist mit ihren angeblich nur um die 3 000 Mitgliedern eher als eine Randgruppe anzusehen, aber immerhin gehören ihr einige US-Kongressabgeordnete sowie der wirtschaftsliberale Senator Ron Paul an. Dass viele gemeinnützige Kliniken das ACA begrüßen, überrascht Orient nicht: »Klar, dass denen das gefällt. Schauen Sie nur, wie viel Geld die bekommen!« Sie warnt, dass derartige Kliniken zu hohe Fixkosten hätten, und schätzt die Kosten pro Klinikbesuch auf durchschnittlich 130 Dollar: »Ein Mitglied unserer Organisation leitet eine Wohlfahrtsklinik, das Zarephath Health Center in New Jersey. Da liegen die Kosten bei 13 Dollar. Die Patienten zahlen gar nichts.« Aber auch die Wohlfahrtsklinik zahlt nichts – die meisten Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich.

Den Wirtschaftsliberalen schmeckt die Gesundheitsreform nicht, denn sie grenze an »Umverteilung«, ein rotes Tuch für amerikanische Konservative. »Das ACA zerstört ein System, das für 80 Prozent der Menschen zufriedenstellend war«, lautet Orients Meinung, so etwas sei gar »unamerikanisch« und führe zu Zwang und Rationierung. Auch Befürworter der Reform wie Carl Coan geben zu: »Amerikaner mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, was sie zu tun haben«, fest steht für ihn aber: »Die gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht und nicht ein Privileg für einige wenige Besserverdienende.« Dass alle Menschen Zugriff auf bezahlbare Kliniken und Ärzte haben sollten, streitet auch Orient nicht ab: »Ohne Wohlfahrt geht es nicht«, gibt sie zu, »aber Diebstahl ist auch keine Lösung.« So bezeichnet sie Obamas Reform, die in ihren Augen eine Reihe von unnötigen und vor allem zu teueren Vorgaben enthalte. »Es wird damit unmöglich, den Preis der Versicherungen allein nach den Risikofaktoren auszurichten«, kritisiert sie. Bis zu 93 Millionen Menschen, so Orient, seien von den neuen Regeln betroffen. »Viele Ärzte machen einfach die Praxen dicht, weil es zu viele Vorgaben gibt und es zu teuer wird, Einzelpraxen zu unterhalten. So entstehen medizinische Kartelle, und solch große Firmen können nicht angemessen auf die Bedürfnisse der einzelnen Patienten reagieren.« Dies führe dazu, dass Patienten weniger Auswahl haben, besonders in ländlichen Gegenden. So berichtete die New York Times, dass gerade auf dem Land die Preise steigen, weil dort nur wenige private Versicherungsfirmen miteinander konkurrieren. Besonders die Südstaaten sind davon betroffen, in manchen Landkreisen gibt es nur einen einzigen Anbieter – und der kann die Preise diktieren. Solche Marktkonzentrationen dürften mit dem ACA noch erleichtert werden, vor allem weil 2010 einige wichtige Klauseln auf Drängen der Versicherungslobby aus den Gesetzentwürfen gestrichen wurden. So wird es in Zukunft sehr viel schwieriger, Genossenschaften für gesundheitliche Leitungen zu gründen und zu finanzieren. Landesweit haben bereits neun große Genossenschaften Verluste angekündigt. Die Privaten reißen den Markt mehr und mehr an sich, ein unschöner Nebeneffekt der Reform. Dass es teilweise erhebliche Probleme gibt, streitet jedoch niemand ab.

Aber sollte die Reform angesichts dieser Probleme zurückgenommen oder eingeschränkt werden? Ganz im Gegenteil, meint etwa McCarthy, die Lösung sei nicht etwa weniger Reform, sondern mehr davon. »Das ACA ist ein riesiger Schritt in die richtige Richtung«, davon ist sie überzeugt. »Wir brauchen nur noch Zeit, um Fehler zu korrigieren und aus ihnen zu lernen.« Coan ist ebenfalls optimistisch, doch auch er räumt ein, dass es immer noch böse Überraschungen geben könnte. Er vergleicht das mit der Explosion des Space Shuttle »Challenger« im Jahr 1983, der wegen mangelhafter Dichtungsringe beim Start in Flammen aufging. Vorher hatte keiner die Dichtungsringe getestet und nachher wollte es keiner gewesen sein. »Kann sein, dass auch beim ACA irgendwann die Dichtungsringe locker werden«, warnt er.
Wichtig ist, dass die Reform dort ankommt, wo sie wirklich gebraucht wird, nämlich bei den ärmsten Patienten. Melvin Jones ist davon begeistert: »Ich bin froh, dass Obama das durchgezogen hat. Eine gute Krankenversicherung zu haben, war immer das Hauptanliegen meiner Mutter. Sie hatte Angst, dass sie ihre Arztrechnungen nicht zahlen kann und ihr Haus verliert.« Die Angst war keineswegs unbegründet: Dem Nachrichtensender CNN zufolge wurden im Jahr 2009 bei 60 Prozent aller privaten Insolvenzanträge Arzt- und Krankenhausrechnungen als der ausschlaggebende Grund angeführt. Aber Jones hatte seinerzeit andere Mittel und Wege gefunden, um mit den horrenden Kosten klarzukommen. »Ich habe mein Leben lang das System betrogen«, sagt er mit einem Unterton von Stolz. »Ich bin einfach in ein Krankenhaus marschiert, habe die Formulare ausgefüllt und die Rechnungen nicht bezahlt. Was wollen die da schon tun?« Da ist Obamacare sicherlich ein Fortschritt. Doch einige der Patienten im Wartesaal spenden überraschend Beifall. Einer ruft: »Pass nur auf, dass sie dich nicht in deinem teuren Cadillac sehen!«