Die schwächelnde Opposition im Bundestag

In Schwäche vereint

Grüne und Linkspartei bilden im Bundestag rechnerisch die schwächste Opposition seit mehr als vier Jahrzehnten.

Das Zusammentreffen verlief frostig. Nein, es nerve sie nicht, dass Gregor Gysi vor ihr im Bundestag auf die Regierung antworten darf, beschied die grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt am Sonntag dem Moderator Thomas Walde in der ZDF-Sendung »Berlin direkt«. »Bei Herrn Gysi ist es auch immer relativ erwartbar, der ist eigentlich gegen alles, und insofern kann die konstruktive Opposition dann einen Moment später kommen.« Der neben ihr sitzende Gysi schaute säuerlich, verkniff sich aber eine Retourkutsche. Besonders die Grünen kämpfen noch mit ihrer neuen Rolle in der Opposition. Solange es gegen Schwarz-Gelb ging, konnten sie sich im Bundestag die Bälle mit der SPD zuwerfen – und die Linkspartei links liegen lassen. Doch seit sich ihr Wunschkoalitionspartner dazu entschlossen hat, mit der Union zu regieren, funktioniert das nicht mehr.

Einerseits hadern die Grünen immer noch mit dem Ausgang der Bundestagswahl, bei der sie mit einem Stimmenanteil von 8,4 Prozent nicht nur weit hinter ihren eigenen Erwartungen zurückblieben, sondern auch erneut hinter der ungeliebten Konkurrenz von der Linkspartei landeten. Andererseits sind sie so einflussreich wie nie in ihrer Geschichte. Mit Winfried Kretschmann stellen sie in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten in einem der größten Bundesländer. Wo immer die Große Koalition auf die Zustimmung der Länderkammer angewiesen ist, kommt sie an den Grünen nicht vorbei. Ob Rot-Grün, Grün-Rot oder jetzt auch noch Schwarz-Grün in Hessen: Die von ihnen mitregierten Länder kommen im Bundesrat auf 34 von 69 Stimmen, während die schwarz-roten Landesregierungen gemeinsam mit den Alleinregierungen der CSU in Bayern und der SPD in Hamburg nur auf 27 Stimmen kommen. Während die Grünen aufgrund ihrer Stärke in den Ländern meinen, irgendwie mitzuregieren, müssen sie im Bundestag darum ringen, sich gegen die Regierung zu profilieren. Heraus kommt ein ungelenker Spagat. »Wenn man freilich sagt, die Regierung macht eh alles falsch, hat man natürlich ein Problem, wenn man etwa in den Ländern mitregiert«, sagte der neue Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter der Zeitung Das Parlament. Der Parteivorsitzende Cem Özdemir bekundete in der Stuttgarter Zeitung, »die größte Schwierigkeit« für die Grünen werde darin bestehen, »der Versuchung des Populismus zu widerstehen«. Özdemirs Definition der Oppositionsrolle: »Wir verstehen uns als Regierung im Wartestand.« Das dürfte die Große Koalition freuen, kann ihr allerdings auch schlicht egal sein.
Denn ein Problem haben die Grünen mit der Linkspartei gemeinsam: Mit ihren 504 von insgesamt 631 Sitzen ist die Große Koalition verdammt groß, während Grüne und Linkspartei mit zusammen 127 Sitzen die rechnerisch schwächste Opposition seit mehr als vier Jahrzehnten bilden. Nicht einmal gemeinsam sind sie stark. Grüne und Linkspartei sind zu klein, um zentrale parlamentarische Minderheitenrechte wahrzunehmen – eine Situation, die es erst einmal in der bundesdeutschen Geschichte gab, während der ersten Großen Koalition von 1965 bis 1969. Damals brachte es die FDP als einzige Oppositionsfraktion nicht einmal auf zehn Prozent der Sitze im Parlament. Die Rechte der Opposition stehen beim Regierungsbündnis von Union und SPD ganz hinten. Im Koalitionsvertrag werden sie mit drei dürren Sätzen auf der vorletzten Seite abgehandelt. »Eine starke Demokratie braucht die Opposition im Parlament«, heißt es dort. »CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen.« Was das bedeutet, bleibt unklar.

Bislang hat sich die Große Koalition mit der Linkspartei auf ein paar Minuten mehr Redezeit für die Opposition verständigt, als dieser rechnerisch zustünden. Danach dürfen Grüne und Linkspartei bei einstündigen Debatten statt sechs jeweils acht Minuten ans Redepult. Bei kurzen Debatten von insgesamt 25 Minuten Länge erhält jede Oppositionsfraktion vier Redeminuten, bei 38-Minuten-Debatten fünf Minuten. Außerdem wird bei Debatten, die Anträge oder Gesetzentwürfe der Opposition behandeln, der einbringenden Fraktion eine weitere Minute Zeit für ihre Begründung zugestanden.
Die Grünen haben dieser Vereinbarung nicht zugestimmt. »In dem Bedürfnis, von Union und SPD als ernst zu nehmende Kraft anerkannt zu werden, gehen die Linken viel zu schnell auf die schwachen Angebote der Großen Koalition ein«, sagte Hofreiter. Die kleinere der beiden Oppositionsparteien ist der Ansicht, dass im Parlament das Prinzip Rede und Gegenrede gelten solle, und fordert deshalb eine andere Berechnungsgrundlage. Analog zu vergleichbaren Regelungen in einigen Landesparlamenten solle jeder Fraktion ein Grundkontingent an Redezeit je Stunde eingeräumt und nur die verbleibende Zeit nach Fraktionsstärke aufgeteilt werden. »Den Eindruck einer stundenlangen Selbstbeschäftigung kann niemand wollen«, argumentierte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann. Bei Union und SPD stieß sie auf taube Ohren.
Immerhin wurde Linkspartei und Grünen zugestanden, dass aus ihren Reihen eingebrachte Anträge oder Gesetzesentwürfe an zwei Tagen in einer gewöhnlichen Sitzungswoche zu Tageszeiten mit einer größeren Medienaufmerksamkeit beraten werden können. Gewichtiger sind jedoch jene Oppositionsrechte, deren Ausübung gesetzlich oder qua Bundestagsgeschäftsordnung an Quoren gebunden sind. So bedarf es mindestens eines Drittels der Mitglieder des Bundestags, um vom Bundestagspräsidenten die Einberufung des Parlaments zu verlangen. Eine Enquete-Kommission muss nur eingerichtet werden, wenn ein Viertel der Abgeordneten das fordert. Gleiches gilt für öffentliche Anhörungen der Fachausschüsse. Die Grünen haben inzwischen einen Antrag eingebracht, mit dem die Geschäftsordnung mit einer Ausnahmeklausel ausgestattet werden soll: »Soweit diese Geschäftsordnung einer qualifizierten Minderheit Rechte verleiht, können diese Rechte auch von zwei Fraktionen gemeinsam ausgeübt werden.« Ob sich Union und SPD darauf einlassen, ist fraglich.

Noch komplizierter ist es, wenn es um die Nutzung der beiden schärfsten Instrumente geht, die das parlamentarische System der Bundesrepublik für die Opposition vorgesehen hat: die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen, um mögliches Fehlverhalten der Regierung aufzuklären, und die Einreichung von Normenkontrollklagen zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen. Beide Rechte sind grundgesetzlich verbrieft – erfordern jedoch jeweils mindestens 25 Prozent der Abgeordnetenstimmen. Das wären 158 Parlamentarier, Linkspartei und Grüne kommen zusammen jedoch nur auf 127. Deswegen fordert die Linkspartei eine Änderung des Grundgesetzes. Schon bei der letzten Großen Koalition von 2005 bis 2009 wurde das Grundgesetz den politischen Gegebenheiten angepasst. Damals kamen die drei oppositionellen Fraktionen der FDP, der Linkspartei und der Grünen zusammen auf 27 Prozent der Sitze – weshalb die Hürde für die Einberufung eines Untersuchungsausschusses von einem Drittel auf ein Viertel gesenkt wurde. Eine erneute Grundgesetzänderung lehnen die Koalitionsparteien strikt ab. Stattdessen versichern sie, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu unterstützen, falls die Opposition ihn wolle.
Auf eine solche Zusage wollen sich jedoch weder Linkspartei noch Grüne verlassen. »Die Opposition darf nicht abhängig sein vom Goodwill der Mehrheit«, sagte Haßelmann. Inzwischen vermittelt Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, drohen die beiden kleinen Frak­tionen mit einer Klage beim Bundesverfassungsgericht. Diese Möglichkeit haben sie wenigstens noch.