Deutschland und die internationale Internet-Spionage

Sie tun, was alle tun

In der Frage der internationalen Internet-Spionage ist Deutschland die verfolgende Unschuld. Der globale Konsens, dass die Freiheit nicht absolut sein darf, gilt auch hierzulande.

Ein seltsamerweise wenig beachtetes Ereignis fand im Dezember in New York statt. Der Menschenrechtsausschuss der UN-Vollversammlung verabschiedete einstimmig eine von Deutschland und Brasilien eingebrachte Resolution über den »Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeit­alter«. »Auch wenn Sorgen über die öffentliche Sicherheit das Sammeln und den Schutz bestimmter vertraulicher Informationen rechtfertigen mögen«, heißt es darin, »müssen Staaten ­sicherstellen, dass sie ihren Verpflichtungen aus dem internationalen Menschenrecht voll nachkommen.« Das war offensichtlich so vage formuliert, damit das Plenum der Vollversammlung beim Abnicken keine Bedenken haben konnte.

Sprachliche Schärfe ist ohnehin nicht das Beachtenswerte der Resolution. Es bestand vielmehr einerseits darin, dass sie überhaupt zustande gekommen war, und anderseits in der deutsch-brasilianischen Urheberschaft. Beide Länder zeichnen sich durch signifikante Gemeinsamkeiten aus: Die Regierungen werden jeweils von einer Frau geführt, deren politisches Engagement einst mit Aktivitäten begann, die US-amerikanischen Interessen zuwider liefen. Während die junge Angela Merkel als FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda interessierte Mitmenschen über die als »friedensfeindlich« verstandene US-Politik aufzuklären suchte, widmete Dilma Rousseff ihre politische Jugend dem bewaffneten Kampf gegen die von den USA gestützte Militärregierung.
Die in Sachen digitale Überwachung – Anlass der UN-Resolution war die Überwachung durch die National Security Agency (NSA) – signifikanteste Gemeinsamkeit besteht freilich in den geheimdienstlichen Verfahrensweisen der Autorenstaaten. Politiker in Deutschland und Brasilien sind der Ansicht, den kleinen Geheimnissen ihrer Untertanen mittels »Vorratsdatenspeicherung« und ähnlichen, selbstverständlich dem Menschenrecht verpflichteten Instrumenten auf die Spur kommen zu müssen. Beide Staaten teilen ebenfalls die Auffassung, Einrichtungen ihrer internationalen Konkurrenten digital überwachen zu müssen – selbstverständlich um Schlimmeres zu verhüten. Im Herbst wurden hierzulande anlässlich der Groteske um »Merkels Handy« erstmals auch Details der deutschen Schnüffelei gegen politische und wirtschaftliche Einrichtungen »befreundeter Staaten« einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Auch das gemeinsam mit spanischen und schwedischen »Partnerdiensten« praktizierte Anzapfen transatlantischer Telefonkabel kam zur Sprache. In Brasilien hatte Anfang November die Tageszeitung Folha de S. Paulo über die Ausspähung der Botschaften Iraks, Irans, Russlands und der USA durch den nationalen Geheimdienst »Abin« berichtet. Die Zeitung enthüllte zudem die Überwachung von Immobilien, die von US-Diplomaten angemietet worden waren, und die Beschattung russischer und iranischer Diplomaten und Geschäftsleute in den Jahren 2003 und 2004.
Ein rhetorisches Detail gibt Aufschluss über die Lernfähigkeit staatlicher Stellen in der Selbstdarstellung: Nachdem Ende Oktober die Überwachung von »Merkels Handy« bekannt geworden war, verfielen zunächst amerikanische Politiker und Journalisten in den ostentativen Gestus des »Wir tun nur, was alle tun, Ihr Deutschen übrigens auch«. Erst danach fanden deutsche Spionageaktivitäten in deutschen Medien Erwähnung. Im Falle der angezapften Ozeankabel waren es britische, französische und amerikanische Medien, die dies vor ihren deutschen Kollegen meldeten. In beiden Fällen hatte sich die deutsche Regierung nur indirekt geäußert. Anders lief es keine zwei Wochen später in Brasilien, wie die FAZ im November prägnant zusammenfasste: »Die Regierung (…) wollte zwar nicht die Echtheit der veröffentlichten Dokumente bestätigen, bekräftigte aber, dass Aktionen zur Spionageabwehr, wie die von Folha beschriebenen, legal seien und der Verteidigung der nationalen Sicherheit dienten.« Da dürfte manchem Politiker hierzulande ein Licht aufgegangen sein: Warum nicht auch klipp und klar Legalität und Nation statt Bürger- und Menschenrechte in Anschlag bringen?

Die deutsch-brasilianische UN-Resolution mag zu Recht als Dokument »verfolgender Unschuld« (Karl Kraus) gelesen werden. Eine Betrachtung wert sind aber auch ihre Unterstützer. Zu den prominentesten zählt die Volksrepublik China. Deren Botschafter in Berlin hatte zur Jahreswende dem Tagesspiegel ein Interview gewährt, das mit der kategorischen Auskunft schloss: »Wir machen das nicht.« Das war die Antwort auf die »Merkels-Handy-Frage«, das Interview wurde damit auf der Titelseite angekündigt. Aufschlussreich ist hingegen die Begründung, die Seine Exzellenz Shi Mingde für die chinesische Unterstützung der deutsch-brasilianischen Initiative liefert: »In der Geschichte war es oft so, dass die USA anderen die Schuld zugeschoben haben, auch wenn sie am meisten spionierten. Wir wollen, dass alle Länder sich zusammensetzen und Lösungen diskutieren.«
Dies klingt zunächst nach traditionell chinesischem fishing for sympathy: die USA als notorischer Schurke, dem alle anderen als Einheitsfront, oder wenn’s weniger bürokratisch klingen soll, als Multitude gegenüberstehen. Aber warum spricht der nette Mann aus China dann von »allen Ländern«, zu denen ja auch die USA gehören? Verfügt er als Diplomat nicht auch über eine sprachliche Ausbildung, die es ermöglicht, die Differenz zwischen Freund und Feind adäquat zu verbalisieren? Das Voreilige solcher Bedenken enthüllt die Antwort des Botschafters auf die Frage, ob China das »Prinzip, dass jeder Bürger selbst über seine Daten bestimmt«, unterstütze: »Das ist ein Problem für alle Länder, wie weit die Freiheit der einzelnen Menschen im Internet gehen soll. Es gibt keine absolute Freiheit.«
Hier wird wahr, was sonst nur Eso-Kitsch-Literatur zu versprechen scheint: die Versöhnung und schließliche Vereinigung »fernöstlicher Weisheit« und »westlicher Rationalität« in einem gemeinsamen Dritten. Dieses muss hier freilich ganz prosaisch auf den gemeinen Begriff Staat gebracht werden. Denn wer sonst konstituiert unter den gegenwärtigen Umständen Freiheit, indem er sie gewährt oder entzieht? Im und vor dem Staat verbindet sich dummerweise recht handfest das gedanklich Getrennte: Glaube und Vernunft. »Es gibt keine absolute Freiheit« lautet das konsensuale, globale Glaubens- wie Vernunftbekenntnis aller Freunde von Herrschaft und Unterwerfung. »Es gibt keine absolute Freiheit« ist in China das Gemeinsame zwischen Anhängern des Konfuzianismus, der Mao-Tsetung-Ideen und des Reformeifertums. Und in den Staaten des ehemaligen »Westens« weiß jeder, vom einfachen Staatsbürgerkundelehrer bis zum Spitzenpolitiker, mindestens zweierlei: dass die Ansprüche der jeweiligen Konkurrenten falsch sind und dass es die absolute Freiheit nicht gibt.

In der Tat besteht die Erbsünde des Staatsbürgers darin, sich freiwillig unterworfen zu haben und diese Unterwerfung tagtäglich bestätigen zu müssen. Wie der religiöse Schöpfergott ist sich auch der staatliche Schöpfer der Unzulänglichkeiten des von ihm konstituierten Alltagslebens stets bewusst – wie einer juckenden Stelle am Körper, an die keine kratzende Hand kommt. Deshalb hat er in seiner Weisheit neben den regulären Ordnungsorganen die Geheimdienste erschaffen. Denn BND, NSA und die five eyes kommen überall hin.