Dissidente Kultur in Ägypten zwischen Militär und Muslimbrüdern

Abwarten und Theater spielen

Die ägyptische Puppentheatergruppe »Pergola« gehörte bereits unter Mubarak zur Opposition. Zwei ihrer Mitglieder ­äußern sich über die politische Situation heute.

Im neuesten Stück der ägyptischen Puppentheatergruppe »Pergola« tragen alle Figuren schwarz. Einzig ein Fremder, der aus der »Stadt der Farben« kommt, trägt bunte Kleidung. Er kommt in die Stadt und bringt eine seltsame Idee mit: Er möchte die Häuser anmalen und den Müll auf den Straßen recyceln. Die Einheimischen reagieren mit Misstrauen. Der Fremde wird angefeindet und verdächtigt, ein Spion im Dienste intriganter ausländischer Mächte zu sein.
Auch das reale Kairo ist keine bunte Stadt. Seine Farben changieren zwischen den Beigetönen des Wüstensandes und den Graunuancen der Autoabgase, die sich auf den Gebäuden absetzen. Ähnlich einheitlich ist das Meinungsbild, das derzeit von der vom Militär gestützten Übergangsregierung und den zahlreichen regierungsnahen Medien gezeichnet wird. Es wird von einem klaren Schwarz-Weiß-Gegensatz bestimmt: Auf der einen Seite stehen die dämonisierten Muslimbrüder und alle ihre mutmaßlichen Unterstützer, auf der anderen die verherrlichte Armee und der General Abd al-Fattah al-Sisi, der als Retter der Nation dargestellt wird. Menschen, die von diesem bipolaren Narrativ abweichen, werden in diesen Tagen schnell als Verräter oder Spione angefeindet.
Rania Refaat, die das Stück geschrieben hat, reagiert ausweichend auf die Frage, ob es eine Parabel auf die derzeitige Stimmung im Lande darstellen soll. »Ich hätte es jederzeit schreiben können, denn im Denken der Menschen hat sich nichts geändert, es ist alles beim Alten.« Rania ist groß, schlank, Ende 30, trägt die Haare offen. Sie ist unverheiratet. Die Mitglieder der Theatergruppe – die meisten von ihnen sind Anfang 20 – nennt sie bisweilen »meine Kinder«. Die Theatergruppe ist ihr großes persönliches Projekt, das ist schnell zu bemerken. Im Jahr 2004 zählte Rania zu einer der Mitbegründerinnen von »Kefaya« (»Genug!«), einer der ersten größeren gesellschaftlichen Bewegungen, die das System Hosni Mubaraks offen herausforderte. Im Jahr vor dem Sturz Mubaraks gründete sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Rim die Theatergruppe »Pergola«. Die Gruppe trat in den Armenvierteln Kairos auf, während der Umbruchtage spielte sie auf dem Tahrir-Platz.

In diesen Tagen eine ähnlich klare politische Position zu beziehen wie während des Sturzes Mubaraks, fällt den beiden schwer. Zu groß ist die Erleichterung über das Verschwinden der Muslimbrüder als Machtfaktor im Lande, um die Repression des Militärs scharf zu verurteilen. Wie viele Künstler und Aktivisten halten auch Rania und Rim die Muslimbrüder für eine rückwärtsgewandte autoritäre Organisation mit religiösem Anstrich, die letztlich nur an der Macht interessiert ist. »Die Muslimbruderschaft ist gefährlich. Sie haben keine Heimat, keine Loyalität gegenüber dem Land, der Nation«, sagt Rim. Meinungen, die in Europa nationalistisch klingen würden, sind in Ägypten eher die Regel als die Ausnahme, selbst in einem großen Teil der gebildeten und liberalen Kreise.
Die Abneigung Ranias und Rims gegenüber den Islamisten speist sich auch aus persönlichen Erfahrungen. Während eines Auftritts im industriellen Armenviertel Shoubra al-Kheima im Norden Kairos versuchten Salafisten, das Stück zu stören. Theater und Puppen – also das Abbild von Menschen – seien Sünde im Islam, lautete das Argument der Islamisten.
Vor diesem Hintergrund fällt die Meinung der beiden über die gegenwärtige Rolle des Militärs sehr zurückhaltend, fast schon verteidigend aus. »Das Militär spielt eine wichtige Rolle in Ägypten – das ist etwas, was wir lange nicht erkannt haben. Wir brauchen das Militär, um uns gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen«, sagt Rim. »Doch die inneren Feinde sind das größere Problem. Vor allem der Müll, der sich im Denken der Menschen angesammelt hat«, ergänzt Rania.
In Ranias Augen ist die derzeitige politische Situation nur ein Symptom von jahrzehntelanger Korruption und Fatalismus, die tiefe Wurzeln im Denken geschlagen haben. »Die meisten Menschen schweigen zu Korruption. Sie schützen die Korrupten. Sie sind ständig auf der falschen Seite.« Religiöse Prediger und die Populärkultur der Mubarak-Jahre haben in ihren Augen einen beträchtlichen Anteil daran. »In vielen Filmen wird der Rolle des Armen romantisiert, weil seine Armut und Machtlosigkeit ihn angeblich näher an Gott rückt. Doch wenn wir Veränderung wollen, sollten wir nicht Armut und Machtlosigkeit romantisieren, sondern versuchen, an Machtpositionen zu kommen.«
Rania hat einen Freund im Bildungs- und einen im Arbeitsministerium, doch noch ist die Tahrir-Generation kaum vertreten in den politischen Institutionen Ägyptens. Die derzeitige Regierung besteht vor allem aus Männern fortgeschrittenen Alters, die bereits im Mubarak-Regime hohe Posten innehatten. Einige der bekanntesten Protagonisten des Umsturzes gegen Mubarak wie Ahmed Maher, der die Bewegung des 6. April mitbegründete, sitzen mittlerweile wegen Verstoßes gegen das von der Regierung erlassene Protestgesetz im Gefängnis. Dem Gesetz zufolge dürfen Demonstrationen nur noch veranstaltet werden, wenn sie drei Tage im Voraus beantragt wurden und die Justiz eine Genehmigung ausstellt – was selten geschieht.
Dennoch halten weder Rania noch Rim Demonstrationen in der gegenwärtigen Lage für das angemessene Mittel, um den gesellschaftlichen Veränderungsprozess voranzutreiben. »Wir brauchen mehr als Demonstrationen. Sie führen zurzeit zu nichts. Wir müssen abwarten und sehen, was kommt. Währenddessen sollten wir versuchen, das Land und seine Communitys von innen heraus aufzubauen«, sagt Rim. Das ist eine unter den Aktivisten des Umsturzes derzeit weit verbreitete Ansicht. Ein großer Teil der jungen Menschen, die in den vergangenen drei Jahren gegen das Regime Mubaraks und die Folgeregierungen des Militärrats und Mursis demons­triert haben, war am 3. Juli, dem Tag des Sturzes von Mursi, das letzte Mal auf der Straße.
Die Demonstranten, die seitdem durch die Straßen ziehen, sind vorwiegend Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi. Jener Teil der Ägypter, der weder der Militärregierung applaudiert noch Mursi als Präsidenten zurück möchte, hat seine Stimme nach den turbulenten und gewalttätigen Ereignissen der vergangenen Monate noch nicht gefunden. Zudem sind die Demonstrationen kleiner geworden – und enden öfter mit Todesfällen. Kaum ein Wochenende vergeht derzeit ohne eine Handvoll Toter während der rituellen Freitagsdemonstrationen – die meisten von ihnen sind Opfer scharfer Munition, die von den Ordnungskräften seit dem Sturz Mursis deutlich häufiger eingesetzt wird.
»Zurzeit warten wir ab. Doch sollte die Unterdrückung des alten Regimes zurückkehren, werden wir wieder auf die Straße gehen«, sagt Rim. Für manche politischen Beobachter ist dieser Punkt schon lange wieder erreicht. Seit Monaten ist auch die linke und liberale Opposition im ­Visier der Militärregierung. Hunderte säkularer Demonstranten sitzen derzeit wegen Verstoßes gegen das von der Militärregierung erlassene Protestgesetz im Gefängnis. Bei einer Razzia in den Büros des Egyptian Center for Economic and Social Rights, das sich vor allem mit Korruption im öffentlichen Sektor auseinandersetzt, wurden sechs Mitarbeiter vorübergehend verhaftet. In ­einigen regierungsnahen Medien wurden menschenrechtliche NGOs zuvor als »fünfte Kolonne der Muslimbrüder« bezeichnet.
Doch trotz der verschärften Repression sieht Rania der Zukunft nicht völlig pessimistisch entgegen: »Erst während des Aufstandes gegen Mubarak haben wir verstanden, wie viele intelligente und engagierte Leute da draußen sind. Diese Leute sind nicht verschwunden. Sie sitzen zu Hause und warten auf ihre Chance.«