Big Data made in Germany

Der Alltag der Überwachung

Wie normal Überwachung in Deutschland ist, zeigen Schufa und Arbeitsagentur.

Die wechselseitige internationale Kommunikationskontrolle staatlicher Führungskader liefert durchaus auch unterhaltsame Beiträge – wie den am 7. Februar auf Youtube geposteten Mitschnitt eines Telefonats der US-Diplomatin Victoria Nuland mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt. Wer immer den Mitschnitt gepostet hatte, hat den Neuaufteilern des nach wie vor zerbröselnden russischen Machtbereichs gehörig in die Suppe gespuckt. Die Aufregung über Nulands Kommentar »Fuck the EU« war allerdings ambivalent: Sie brachte zwar einerseits nationalistische Empörung über die Eigenwilligkeit der US-Diplomatie in einem von der EU hegemonial beanspruchten Territorium zum Ausdruck. Andererseits dürfte auch ein Anteil nationaler Schadenfreude darin enthalten gewesen sein. »Fuck the EU« ist hierzulande kein trotziger Widerstandsslogan gegen soziale Verelendung wie in südeuropäischen Ländern, sondern primär ein Herzenswunsch der nicht wenigen »EU-Skeptiker« mit deutschnationalen Motiven.

Das eigentlich Bedeutsame des diplomatischen Zwischenfalls besteht aber in der exemplarischen Demonstration des Einsatzes von intelligence – geheimdienstlich erworbenem Wissen: Durch das gezielte Aufdecken des Eigeninteresses innerhalb einer Kooperation grundsätzlich konkurrierender Subjekte kann der nur temporäre Kooperationsfrieden zumindest tangiert werden. Nun handelte es sich bei der Nuland-Affäre um ein Problem zwischen Staatssubjekten. Da mag, wer loyaler Staatsbürger sein will, die sprichwörtliche Schlafmütze fest über Augen und Ohren ziehen und jegliche Ähnlichkeit in Bezug auf das Verhältnis anderer Subjekte – Staat und Staatsbürger sowie Staatsbürger untereinander – abstreiten. Wer allerdings seine intellektuellen Rezeptoren nicht vollständig freiheitlich-demokratischer Aufsicht unterstellt hat, wird feststellen, dass das Sammeln von Informationen durch Staaten und ihr gezielter Einsatz gegen andere Staaten Entsprechungen innerhalb des Staats selbst hat, in dem durchaus ein Alltag der Überwachung herrscht. Dazu zwei deutsche Beispiele.
Im vergangenen Jahr war einer hessischen Angestellten die Ratenzahlung eines Neuwagens verweigert worden. Der Verkäufer hatte sich auf eine negative Auskunft der »Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung« (Schufa) berufen, die darin enthaltenen »Score-Werte« der Frau entsprachen nicht dem Profil einer idealen Ratenzahlerin. Daraufhin beschritt die Abgewiesene den Rechtsweg, um das Zustandekommen ihres negativen Scoring zu erfahren und das Ergebnis zu bestreiten. Die Sache endete vor dem Bundesgerichtshof, der Ende Januar entschied, die Schufa verheimliche mit Recht ihr Bewertungsverfahren und könne nicht zu dessen Offenlegung verpflichtet werden.
Allein diese Darstellung ist dem Schein des Selbstverständlichen der herrschenden Verhältnisse verhaftet und verschleiert die realen Macht- und Konkurrenzverhältnisse. Käufer und Verkäufer verbindet nicht nur ein Austauschverhältnis, sondern eine Konkurrenz um die aufzubringende beziehungsweise einzunehmende Summe. Was für die eine Seite möglichst niedrig, soll für die andere möglichst hoch sein. Das Misstrauen der stärkeren Seite gebiert spezifische Mittel zur Überwachung der Zahlungsfähigkeit und -freudigkeit der schwächeren in Form von Auskunfteien, die intelligence über potentielle Käufer sammeln.

Die größte dieser Auskunfteien ist hierzulande die Schufa. Das private Unternehmen verwaltet derzeit finanzbezogene Daten von mehr als 66 Millionen in Deutschland lebenden Personen. Neben üblichen melderechtlichen Daten werden Angaben über das Finanzverhalten gesammelt: Einkommen, laufende Kredite, frühere Kredite und vor allem derzeitige und frühere »Unregelmäßigkeiten« wie geplatzte und zögerlich beglichene Kredite, eidesstattliche Versicherungen und Insolvenzen. Neben diesen »harten Fakten« erhebt die Schufa aber auch soft intelligence, deren Kriterien als Betriebsgeheimnis gelten. Diese Informationen sollen die bestmögliche Einordnung möglicher Kreditnehmer in Rückzahlungswillige und -unwillige ermöglichen.
Für Personen mit geringem Einkommen stellt die Überwachung durch die Schufa eine mögliche Instanz materieller Repression dar. Schließlich droht ihnen die Verweigerung notwendiger Kredite oder die Absage eines Vermieters, der nach der mittlerweile üblichen Kontrolle der Schufa-Auskunft einen besser bewerteten Bewerber bevorzugt. Für die Bessergestellten haftet der Auskunft etwas bedrohlich Irreales an. Gerade die Erhebung der »weichen«, für die Kreditvergabe gleichwohl entscheidenden Informationen verleiht dem Unternehmen die Aura des Geheimnisvollen und Unberechenbaren. Da mögen sich Kaufinteressierte fragen, ob sie in der »richtigen«, also kreditwürdigen Gegend wohnen oder ob sie den »richtigen« Freundeskreis pflegen: Alles vergeblich, denn die Auskunft der Schufa ergeht wie die Gnade oder Ungnade einer beinahe gottgleichen Instanz. Die Bestätigung dieser Praxis durch eines der höchsten deutschen Gerichte erhebt auch die – real unmögliche – vorauseilende Anpassung an die Kriterien der Schufa zum staatsbürgerlichen Willensakt.
Das zweite Beispiel aus dem herrschenden Alltag der Überwachung betrifft das von jeder Schufa-Beurteilung ausgeschlossene Bevölkerungssegment der Hartz-IV-Bezieher. Es ist offensichtlich, dass niemand vom Arbeitslosengeld II allein existieren kann, weshalb Hartz-IV-Bezieher gezwungen sind, sich weitere Geldquellen zu erschließen. Das weiß auch der Staat, der die Hartz-IV-Almosen gewährt, und sorgt nach Kräften dafür, dass auch der Zuverdienst kümmerlich bleibt. Schließlich muss das Hartz-IV-System bestehen bleiben, um das allgemeine Lohnniveau niedrig zu halten, was eine wichtige Grundlage des deutschen Exporterfolgs ist. Also muss auf die Hartz-IV-Bezieher aufgepasst werden. Dafür bot und bietet die Hartz-IV-Gesetzgebung viele Möglichkeiten. Bis Mai 2009 waren die »Jobcenter« qua Dienstanweisung verpflichtet, bei »schwerwiegenden Verdachtsfällen« Observierungen durch »Sozialdetektive« anzuordnen. Dies war aber inneffektiv, die Aufwendungen für die Spitzel überstiegen die Leistungskürzungen. Ähnlich Asylbewerbern unterliegen Hartz-IV-Bezieher zudem einer Residenzpflicht, der »Erreichbarkeitsanordnung«. Ohne Genehmigung dürfen sie den Ort, an dem sie jederzeit »dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen«, nicht verlassen. Anders als Asylbewerber kann man sie bei Übertretung nicht aus dem Land werfen, aber ihnen das Geld kürzen.

Seit Mitte November liegt ein Vorschlag der Arbeitsagentur für eine Gesetzesänderung vor. Ihr zufolge sollen Hartz-IV-Bezieher künftig im Internet beobachtet werden. Als Beispiele werden Verkäufe auf Ebay und anderen Netzplattformen erwähnt, mit denen sich ALG-II-Bezieher Geld dazuverdienen. Eigens eingerichtete task forces der Jobcenter sollen mit Hilfe der Software Extended Spider Notverkäufer aufspüren und der Sanktion zuführen. Dies sei eine »konsequente Bekämpfung von Leistungsmissbrauch, um die Interessen der Solidargemeinschaft der Steuerzahler zu schützen«, so die Arbeitsagentur.
Das kann man auch anders sehen, wie etwa die Bundesvorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping. Auf ihrer Facebook-Seite zeiht sie die Arbeitsagentur, »die NSA toppen und das Internet als Feld der Bespitzelung (…) nutzen« zu wollen. Da könnte was dran sein, würde sich die Äußerung aufgrund des schrillen, antiamerikanischen Tonfalls nicht selbst als Ausdruck des deutschen Alltags der Überwachung entlarven.