Soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina

Tuzla Calling

In Bosnien-Herzegowina gibt es vehemente Proteste gegen die Regierung und die wirtschaftliche Misere.

Die größten Proteste in der Geschichte des jungen Balkanstaats Bosnien-Herzegowina begannen vorige Woche im nordbosnischen Tuzla. Nachdem etwa 1 000 Arbeiter innerhalb kürzester Zeit ihre Stelle verloren hatten, zogen sie am 4. Februar vor das Regierungsgebäude des Kantons und forderten Sozialleistungen und ein Eingreifen der Regierung. Die Arbeiter waren zuvor monatelang nicht bezahlt worden, einige angeblich vier Jahre lang. Unternehmen wurden meist für eine geringe symbolische Summe privatisiert, ausgeschlachtet und gingen dann innerhalb kürzester Zeit bankrott. Die Privatisierungen zu beenden und rückgängig zu machen, ist eine der Hauptforderungen der Demonstrierenden.
Armut und Korruption sind die Ursachen des Protests. Innerhalb kürzester Zeit gab es Demonstrationen im gesamten Land. Vermummte Anhänger des Fußballvereins Sloboda Tuzla stürmten am Donnerstag voriger Woche das Gebäude der Regionalregierung in Tuzla und setzten es in Brand. Die Feuerwehr konnte den Brand nicht löschen, weil die Demonstrierenden die Wege blockierten. Etwa 5 000 Menschen jubelten vor dem brennenden Gebäude, die Polizei ließ sie gewähren und sicherte stattdessen umliegende Gebäude. Die Polizeikräfte sind aufgefordert, die Lage ruhig zu halten und möglichst keine Eskalation zu provozieren. In mehreren Städten solidarisierten sich die Polizisten mit den Demonstrierenden, in anderen kam es hingegen zu gewalttätigen Aus­einandersetzungen.

Am Tag darauf wurde in Sarajevo der Sitz des Präsidiums von Bosnien-Herzegowina in Brand gesteckt. 34 Demonstranten wurden daraufhin festgenommen. Die meisten davon waren junge Menschen aus der schrumpfenden Mittelschicht Bosniens. Nach weiteren Protesten wurden die Festgenommenen am Sonntag allesamt wieder auf freien Fuß gesetzt. In Mostar wurden die Zentralen der nationalistischen Parteien, der kroatischen HDZ und der bosniakischen SDA, in Brand gesteckt. Die beiden Parteien leben seit nunmehr 20 Jahren davon, Ressentiments gegen die jeweils anderen sogenannten ethnischen Gruppen zu schüren. Das politische System ist so aufgebaut, dass jeder Posten im Staat nach einem Proporz vergeben wird, was Korruption und nationalistische Parteien begünstigt. Im Zuge der Proteste kam es zu einer Reihe von Rücktritten. Suad Zeljković, Vorsitzender der Kantonsregierung in Sarajevo, bemerkte nach seinem Rücktritt: »Ab morgen können all jene, die so gerne plündern, eine glücklichere Zukunft Sarajevos aufbauen.«

Die Demonstrierenden fordern den Rücktritt der gesamten Regierung. »Wir tragen die ganze Schuld«, kommentierte Željko Komšić, Vertreter der kroatischen Bevölkerung im dreiköpfigen Staatspräsidium, die Ausschreitungen. Bakir Izet­begović, der Vertreter der Bosniaken, forderte rasche Neuwahlen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Er tat dies, weil auch Neuwahlen keine ernsthafte Gefahr für die nationalistischen Parteien darstellen, solange sich am politischen System nichts Grundlegendes ändert. Auf Seiten der serbischen Nationalisten werden die Proteste als Bedrohung empfunden. Sie wünschen keine stärkere Integration ihres Teilstaats in den bosnischen Gesamtstaat. Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, wittert gar eine Verschwörung gegen die serbische Entität. Viele Serbinnen und Serben in Bosnien-Herzegowina würden sich weiterhin lieber heute als morgen aus der »Zwangs­ehe« verabschieden. Die größten Proteste fanden in den Städten mit bosniakischer Bevölkerungsmehrheit statt, aber auch in den Städten mit serbischer Bevölkerungsmehrheit kam es zu Demonstrationen gegen die Regierung. Proteste gab es bald im ganzen Land.
Bosnien-Herzegowina ist weit davon entfernt, so wie Serbien Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Erst kürzlich fror die EU Hilfsgelder in Höhe von 45 Millionen Euro ein, weil sich die Parteien nicht auf eine notwendige Verfassungsreform einigen konnten. Einige Zeitungen berichten schon von einem »bosnischen Frühling«, dafür ist es freilich noch zu früh.