Das neue Buch von Thilo Sarrazin

Der gefühlte Gulag

Thilo Sarrazin geriert sich als Opfer eines »neuen Tugendterrors«.

Thilo Sarrazin behauptet: »Ich bin ein Diskussionsveteran.« Dabei zeigt er sich sehr dünnhäutig. Schließlich hat er das Buch »Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland«, das soeben erschienen ist, nur verfasst, weil ihm, so sieht er es jedenfalls, nach der Veröffentlichung seines Buches »Deutschland schafft sich ab« in vielfacher Weise Unrecht geschah. Daher habe er sich mit dem »Tugendterror« beschäftigen und eine Kampfschrift gegen die Political Correctness und gegen das von ihm so genannte »Gleichheits-Imperium« schreiben müssen. »Deutschland schafft sich ab« war im August 2010 erschienen und wurde sofort, teilweise sehr heftig, abgelehnt. Die Bundeskanzlerin sagte, es sei »nicht hilfreich«, Wolfgang Schäuble sprach von »verantwortungslosem Unsinn«, Sarrazin verlor seinen Posten im Vorstand der Bundesbank und Sigmar Gabriel regte ein Parteiausschlussverfahren an, das allerdings nicht griff, Sarrazin ist bis heute SPD-Mitglied. Vor allem aber fiel das Gros der Buchbesprechungen negativ, teilweise geradezu vernichtend aus. Allerdings muss man ebenso konstatieren, dass der Spiegel aus dem Buch einen Vorabdruck brachte, und ebenso die Bild-Zeitung; letztere veröffentlichte die Auszüge gleich über mehrere Tage. Daher wurde das hitzig diskutierte Buch auch ein großer Erfolg, es wurden deutlich über anderthalb Millionen Exemplare verkauft, Sarrazin ist mit diesem Buch ein reicher (oder vielmehr noch reicherer) Mann geworden. Doch der »Diskussionsveteran« fühlte sich schrecklich angegriffen. Obschon er als Banker den Lehrsatz kennen müsste, demzufolge man nur einer Statistik trauen darf, die man selbst gefälscht hat, und obschon man ihm nachgewiesen hat, dass er für »Deutschland schafft sich ab« nur jene Statistiken und Untersuchungen angeführt hatte, die zu seiner Argumenta­tion passen, fühlt sich der Autor hintergangen. Er sei ja, das habe man ihm mehrfach attestiert, schreibt er, auf dem aktuellen Stand der Forschung, dementsprechend sei die Kritik kaum nachvollziehbar. Vor allem aber unterstellt er seinen Kritikern wie etwa Frank Schirrmacher, der der Debatte um das Buch mehrere Seiten im Feuilleton der FAZ einräumte und Sarrazin dort auch auf seine Kritikerinnen und Kritiker antworten ließ, dass sie sein Buch nicht oder nicht richtig gelesen hätten; anderen, etwa Gabor Steingart vom Handelsblatt, wirft er vor, wissentlich oder aus Schlamperei falsch zitiert und den Inhalt falsch zusammengefasst zu haben. Kurz – eigentlich habe niemand seine Thesen, die er für Tatsachen hält, widerlegen können. Daher sind über 60 der rund 400 Seiten seines neuen Buches der Debatte um »Deutschland schafft sich ab« gewidmet, selbstredend muss Sarrazin keinen Fehler einräumen. Dass er damals, wie die Süddeutsche Zeitung bereits drei Monate nach Erscheinen des Deutschland-Buches nachwies, besonders anstößige Formulierungen in neueren Auflagen geändert hatte, erwähnt Sarrazin mit keiner Silbe. Dafür trieft das jüngste Werk vor Selbstmitleid. In »Der neue Tugendterror«, das in Auszügen in der Bild-Zeitung erscheint, wird Muslimen keine genetische Minderwertigkeit attestiert (der Autor will aber von der These, dass ein Großteil der Intelligenz vererbt werde, nicht lassen), gleichgeschlechtliche Liebe soll natürlich nicht verurteilt werden. Auch sollen alle gleich vor dem Gesetz sein, eine Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe aber lehnt er ab. Manche sind gleicher als andere. Vor allem geht es Sarrazin um die »Gleichheitsideologie«, die zu bekämpfen sei. Der Autor behauptet, dass die Medienvertreter, die in der Mehrheit links dächten (selbstverständlich hat er dafür eine Statistik), aus christlicher oder marxistischer Prägung heraus davon ausgingen, dass alle Menschen gleichwertig seien, für diese Idee von der Gleichheit die Fakten verfälschten und einen Tugendterror entfachten, der Sarrazin an die Schreckensherrschaft der Jakobiner und – selbstverständlich – Stalins erinnert. Unter Bezugnahme auf Elisabeth Noelle-Neumann redet er von einer »Schweigespirale«, mit der die Medien unliebsame Meinungen zu verdrängen suchten. Dass sein Buch vorabgedruckt wurde, er in großen Zeitungen und Sälen Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen, reichte nicht. Denn noch hat er nicht alle Deutschen für sich und seine harschen Thesen gewinnen können, und das allein nötigt ihn dazu, in einem Buch die Political Correctness, die er für absolut dominant in den Medien hält, anzugreifen. Wenn er wüsste, wie wenig in den Medien über Lebensumstände oder Streiks von weniger Privilegierten zu lesen und zu hören ist, er wäre erschüttert. Wäre er das wirklich? Nein. Sarrazin, der Marx und seine Theorien so wacker bekämpft, dass man ahnt, dass er wirklich nicht weiß, woher seine Partei kommt, ist vor allem narzisstisch gekränkt. Ausgerechnet seine eigene Klasse nämlich verweigert ihm die Anerkennung, um die er ringt. Wenn etwa Jan Fleischhauer, der Vorzeigekonservative des Spiegel, in dem neuen Buch nur »die Mär vom armen Opfer Sarrazin« sieht und ihm also die Gefolgschaft verweigert, berührt das den ehemaligen Finanzsenator mehr, als wenn Hunderte AfD-Wählerinnen und -Wähler ihn loben. Sarrazin zeigt sich in seinem Buch als ganz passabler Autor, doch immer, wenn er humorig sein will, misslingt ihm das vollkommen. Schnell bemerkt man bei der Lektüre, dass der Autor beim Schreiben äußerst angespannt gewesen ist und dass er genau jene unterdrückte Wut in sich fühlte, die er all jenen Journalistinnen und Journalisten unterstellt, die sein Buch ablehnten. So wähnt er sich auch abwechselnd vor der Inquisition der römisch-katholischen Kirche, fühlt sich von neuen Robespierres oder Stalins bedrängt und ertrinkt dabei in Selbstmitlied. Aus diesem heraus aber will er nun »die katholische Soziallehre, den Feminismus, die Bewegung der Schwulen und Lesben, die Theologie-, Philosophie- und Soziologie-Lehrstühle und sowieso alle heimatlos gewordenen Sozialisten, Marxisten und ihre geistigen Erben« als dem Tugendwahn verfallene darstellen, deren Moralvorstellungen es ihnen nicht mehr erlauben, die Fakten zu sehen. Sarrazin dagegen, ganz Aufklärer, und, obschon er Max Horkheimer zitiert, von der »Dialektik der Aufklärung« völlig unbeeindruckt, weiß, dass es eben ungleich zugehen muss in der Welt und einzig, wie er ausführt, das Eigentum und die absolute individuelle Freiheit den Fortschritt bringen. Wer auf dem Weg abgehängt wird, hat eben Pech gehabt. So wie etwa sein eigener Sohn Richard, der Hartz IV beziehen musste, während sein Vater das Geld nur so scheffelte. Pech gehabt haben auch die Kundinnen und Kunden der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Als Sarrazin dort Aufsichtsratsvorsitzender war, ließ sich die BVG 2007 auf einen riskanten Finanzdeal mit der US-Bank JP Morgan ein, den weder der zuständige Mitarbeiter der BVG noch der Aufsichtsrat verstanden hatte. Die Aufsichtsräte, darunter Sarrazin, billigten das Geschäft. Nun hat die Bank die BVG auf rund 200 Millionen Euro verklagt. Falls das Unternehmen die Summe zahlen muss, dürfte das mittelfristig Auswirkung auf die Fahrpreise haben. Stört das den »Diskussionsveteran«? Es ficht ihn nicht an. Und er wird schon irgendeine Statistik finden, die belegt, dass er trotzdem recht hat, wie immer. Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, 400 Seiten, 22,99 Euro