Die Wirtschaftslage in der Ukraine und der IWF

Dritter Versuch

Nach zwei erfolglosen Versuchen des IWF, die Ukraine auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen, könnte der dritte Anlauf nun von mehr Erfolg gekrönt sein. Für die Mehrheit der Bevölkerung dürfte dies katastrophale Folgen haben.

Selten hat eine Regierung bereits zu Beginn ihrer Tätigkeit ihre Pläne im Sozialbereich so unverblümt eingestanden wie gegenwärtig die der Ukraine. Etwas selbstmitleidig hatte Übergangsministerpräsident Arsenij Jazenjuk die Übernahme des Amtes angesichts der anstehenden »unpopulären Maßnahmen« als »politischen Selbstmord« bezeichnet, dem er sich aber ganz offensichtlich gerne zu stellen bereit war, während Übergangspräsident Alexander Turtschinow den kommenden »harten Sparkurs« noch ausdrücklicher verteidigte. Es gelte, die Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, das Vertrauen der Gläubiger und Investoren wiederzugewinnen und das Leben der Bürger zu normalisieren, meinte Turtschinow Ende Februar auf seiner ersten Pressekonferenz als Präsident. Um wen es sich bei dem Adressaten dieses Programms zur Vertrauensrückgewinnung in erster Linie handelt, ist kein Geheimnis. Die Ukraine werde zukünftig »alle Auflagen des IWF erfüllen«, versprach Jazenjuk bereits vor dem Eintreffen einer Delegation des Internationalen Währungsfonds Anfang März im Gespräch mit der Financial Times. »Wir haben keine anderen Optionen«, so der derzeitige und auch für die kommende Amtszeit designierte Regierungschef des Landes weiter.
Der IWF ist seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch – das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine war nach dem Beginn der Krise um etwa 15 Prozent gesunken, die Industrieproduktion gar um 34 Prozent – und der weitgehenden Zahlungsunfähigkeit des Landes im Jahr 2008 in der Ukraine tätig. Bisher allerdings mit wenig Erfolg. Bereits im Oktober 2009 hatte der damalige Präsident, Viktor Juschtschenko, die vom IWF geforderte Beibehaltung der Kriterien zur »Festsetzung des Existenzminimums und des Mindestlohns« nicht gegen die Mehrheit im ukrainischen Parlament durchsetzen können, obwohl es sich dabei neben der Senkung der Energiesubventionen, Privatisierungen sowie Einsparungen im öffentlichen Dienst und bei den Sozialausgaben, um eine der unabdingbaren Voraussetzungen für den Erhalt von Stützungskrediten durch die UN-Sonderorganisation handelte. Hintergrund waren unter anderem die von der damaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit der russischen Regierung initiierten Verhandlungen über verbilligte Gaslieferungen und eine Erhöhung der Transitgelder für russisches Gas, die der Regierung mehr Spielraum verschaffen sollten – letztlich aber vor allem Timoschenko und ihren Vertrauten zu­gute kamen.

Nicht viel besser funktionierte die Zusammenarbeit des IWF mit dem seit 2010 amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch. Die Regierung habe die im Beihilfeabkommen 2010 vereinbarten Wirtschaftsreformen nicht weiterverfolgt, hieß es in einer Bestandsaufnahme zur Lage in der Ukraine vom Dezember 2013. »Das Programm entgleiste nach kurzer Zeit«, weshalb auch die zugesagten Gelder nicht hätten ausgezahlt werden können, schrieben die Experten des IWF. Auch Janukowitsch hatte versucht, die Reformen zugunsten einer Zusammenarbeit mit Russland auszusetzen, das Kredite in Höhe von 15 Milliarden Euro ohne spezifische Auflagen in Aussicht gestellt hatte, um seine Präsidentschaft zu retten. Dass ihm auch das nichts genutzt und eventuell seinen Sturz sogar beschleunigt hat, ist Ironie der Geschichte.
Das Lavieren zwischen den Blöcken wird zukünftig aber einer »verlässlichen Zusammenarbeit« (Jazenjuk) mit dem IWF weichen müssen. Geradezu begeistert zeigte sich der Direktor der Europa-Abteilung des IWF, Reza Moghadam, nach seinem Besuch in der Ukraine Anfang März von der neuen »prowestlichen« Regierung. Diese sei wild entschlossen, eine »Agenda wirtschaftlicher Reformen« in Angriff zu nehmen, so Moghadam. Jazenjuk hatte den gegenwärtigen Finanzbedarf der Ukraine auf mindestens 20 Milliarden Euro beziffert. Ende März nun sagte der IWF zu, in den kommenden beiden Jahren zwischen 14 und 18 Milliarden US-Dollar an Krediten an die ukrainische Regierung zu zahlen. Zusammen mit den Kreditzusagen und Hilfsgeldern aus der EU und den USA könnte die ukrainische Regierung so demnächst mit bis zu 27,5 Milliarden Dollar rechnen, was nach derzeitigem Umrechnungskurs etwa der Summe entspräche, die Jazenjuk angegeben hatte.

Umsonst gibt es die Gelder nicht. Die Forderung der IWF-Direktorin Christine Lagarde, die Ukraine möge »nun einen Gang hochschalten«, kann als Drohung verstanden werden. Und die Regierung beginnt bereits zu reagieren. Die ersten Maßnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits, das im Jahr 2012 noch 7,2 Prozent betrug und nach Schätzungen im vergangenen Jahr noch deutlich höher gelegen hat, sind bereits ergriffen worden. Zehn Prozent der 249 000 Stellen im öffentlichen Dienst sollen in den kommenden Monaten gestrichen werden, kündigte die Regierung in der vergangenen Woche an. Noch schwerer wiegen könnte die seit Jahren vom IWF geforderte Reduktion der Gassubventionen für die Bevölkerung, die etwa 7,5 Prozent des Staatshaushalts ausmacht.
Fast alle Heizungen in der Ukraine werden mit Gas betrieben, für das bisher lediglich 16 Prozent des Weltmarktpreises berechnet wurden. Der Staatskonzern Naftogas hat jüngst angekündigt, den Gaspreis für die Bevölkerung ab dem 1. Mai um 50 Prozent zu erhöhen. Dem nächsten Winter dürften viele Ukrainer mit Angst entgegensehen.
Auch bei den Renten dürfte gespart werden. Zwar kündigte Jazenjuk bisher lediglich an, Sonderrenten für Staatsanwälte, Richter und die Miliz zu streichen, langfristig aber könnte auch das allgemeine Rentenniveau gesenkt werden. Die Reduktion der Subventionen für die Energieversorgung und demnächst wahrscheinlich auch für die Mietkosten dürften einen Großteil der Rentner, von denen etwa 80 Prozent die staatliche Mindestrente von umgerechnet 81 Euro beziehen, in weitere Verelendung stürzen.
Auch die Privatisierung, seit jeher eines der wichtigsten Ziele des IWF, soll vorankommen. Bei einem, wie es hieß, »Treffen europäischer Geschäftsleute in Kiew« vor dem Besuch der IWF-Delegation hatte Jazenjuk bereits angekündigt, er werde die »Privatisierung von Teilen des Erdöl- und Gassektors der Ukraine« einleiten. Nach diversen nicht dementierten Medienberichten soll der Verkauf des Gasnetzes an den US-Konzern Chevron bereits beschlossene Sache sein. Und auch die Aufhebung des Verkaufsverbots landwirtschaftlicher Nutzflächen an Ausländer soll bereits in Arbeit sein, die ausländischen Investoren den Zugriff auf die ukrainischen Schwarzerdeböden – sie gehören zu den fruchtbarsten der Welt – gewährleisten sollen.
Dass die ukrainischen Oligarchen – die reichsten 50 Ukrainer besitzen etwa zwei Drittel des gesamten Vermögens des Landes – dabei kräftig mitverdienen werden, steht außer Frage. Bereits bei den ersten Privatisierungen nach dem Einstieg des IWF in der Ukraine waren etwa bei der des Stahlwerks Kryworischstal vier Milliarden und der der ukrainischen Telekom mehrere hundert Mil­lionen Dollar auf ihren Konten gelandet.
Die Vergabe der Gouverneursposten im Osten der Ukraine an Oligarchen wie den Bankier und drittreichsten Mann des Landes, Ihor Kolomojskyj, in Dnipropetrowsk oder den Besitzer der ISD, eines der größten Bergbaukonzerne der Welt, Ser­gej Taruta, den neuen Gouverneur der Donezk-Region, hat dies bereits verdeutlicht. Und auch der designierte neue Präsident, der sogenannte Schokoladenkönig Petro Poroschenko, dürfte dafür Gewähr bieten.
Profitieren wollen aber auch die Konzerne der »strategischen Partner der Ukraine« (Barack Obama) in den USA und vor allem Westeuropa. Nicht nur wird die vom IWF geforderte Aufhebung der Dollarbindung des Hrywnja und die damit zu erwartende steigende Inflation Investitionen in der ehemaligen Sowjetrepublik verbilligen, auch die Löhne dürften spätestens nach der endgültigen Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU nach der Präsidentenwahl im Mai unter noch größeren Druck geraten und so Inves­titionen überaus rentabel machen.

Nicht nur die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung hofft auf eine »Neubestimmung von Löhnen und Renten«, auch das Auswärtige Amt wirbt für die Standortvorteile der Ukraine. Ein »vergleichsweise niedriges Lohnniveau bei grundsätzlich hohem Ausbildungsstand« habe das Land zu bieten, heißt es in dessen neuestem Länderreport. Noch genauer hat es der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) durch einen von ihm in Auftrag gegebenen internationalen Vergleich der Arbeitskosten im verarbeitenden Gewerbe berechnen lassen. Diese sind in die Ukraine mit genau drei Euro pro Stunde für das Kapital erfreulich billig, das Land liegt damit weit abgeschlagen nicht nur hinter den Industrieländern – in Westdeutschland betragen sie 38,90 Eu­ro, in Ostdeutschland 23,60 Euro, in Frankreich 36,80 Euro und in den USA 25,90 Euro –, sondern auch hinter Polen (6,65 Euro), Russland (5,90 Eu­ro) und selbst China (4,00 Euro). In der EU ist Arbeitskraft lediglich in Bulgarien mit 2,90 Euro noch billiger zu haben.
Aber nicht nur in der Studie wünscht man sich eine weitere Senkung der Löhne, auch die ukrainische Regierung und der IWF haben bereits angekündigt, die Löhne an das Weltmarktniveau anpassen zu wollen. Trotz eines Durchschnittslohns von umgerechnet 300 und eines Mindestlohns von 110 Euro sieht man offensichtlich noch Spielraum nach unten. Schon jetzt leben über 30 Prozent der Bevölkerung von Einkommen unter dem Existenzminimum. Es werden mehr werden. Zu befürchten steht, dass man sich in Kiew, Berlin, Brüssel und Washington auch damit nicht endgültig zufrieden geben wird.