Tod im Stadion. Die Hillsborough-Tragödie vor 25 Jahren

Folgenschwere Fehlentscheidung

Vor 25 Jahren starben im englischen Hillsborough-Stadion fast hundert Menschen. Die Auswirkungen dieser Tragödie sind noch heute spürbar.

Hillsborough ist eigentlich nur ein kleiner, relativ unbedeutender Vorort im Nordwesten der englischen Industriestadt Sheffield. International bekannt wurde die Stadt durch eine Katastrophe. In Hillsborough befindet sich das Stadion des Traditionsvereins und viermaligen englischen Meisters Sheffield Wednesday, in dem vor 25 Jahren, am 15. April 1989, das Halbfinale des FA-Cups zwischen den beiden Spitzenmannschaften FC Liverpool und Nottingham Forest ausgetragen werden sollte – auf neutralem Boden, wie es damals üblich war.
Die Fans von Liverpool sollten das Spiel von der Leppings-Lane-Tribüne aus sehen, die bei Spielen von Sheffield Wednesday als Gästekurve ausgewiesen war. Da sich am Eingang viel zu wenige Drehkreuze befanden und diese außerdem nicht gerade in bestem Zustand waren, warteten kurz vor Anpfiff noch immer Tausende Zuschauer auf Einlass. In dieser Situation traf der verantwortliche Leiter des Polizeieinsatzes, Chief Superintendent David Duckenfield, eine folgenschwere Entscheidung: Er ließ ein Tor öffnen, durch das die wartenden Massen in die ohnehin überfüllten mittleren Blocks der Tribüne drängten. Immer mehr Menschen versuchten, in den Block zu gelangen, etliche von ihnen wurden zerquetscht, andere einfach totgetrampelt – während das Spiel bereits lief und um sie herum die Zuschauer ihre Mannschaften anfeuerten. Am Ende lag die Zahl der Toten bei 96, die der Verletzten bei rund 800. Eine direkte Folge der Katastrophe von Hillsborough war der sogenannte Taylor-Report, eine bereits im August 1989 veröffentlichte Untersuchung der Vorfälle unter der Aufsicht des Richters Lord Taylor. Darin wurden Dutzende Maßnahmen vorgeschlagen, um den Besuch von Fußballstadien sicherer und angenehmer zu machen. Die bekannteste von ihnen war die komplette Abschaffung von Stehplätzen in den oberen Ligen. Das freilich hatte Margaret Thatchers Innenminister Douglas Hurd ohnehin schon angekündigt und zwar bereits zwei Tage nach den Geschehnissen von Hillsborough.
Ebenfalls noch 1989 verpflichtete der Football Spectators Act die Vereine in den höheren englischen Ligen, ihre Stadien binnen weniger Jahre zu reinen Sitzplatzstadien umzubauen. Der Widerstand gegen diese durchaus radikale Entscheidung, die allem, was bis dahin englische Fankultur ausgemacht hatte, fundamental entgegenstand, war vergleichsweise gering. »Es ging uns damals vor allem darum klarzustellen, dass nicht Fans für die Katastrophe verantwortlich waren, sondern die Polizei«, sagt Kevin Miles, der heute Vorsitzender der Football Supporters’ Federation (FSF) ist.
Tatsächlich ergab eine unabhängige Untersuchung 2012, dass die Stadionkatastrophe vor allem dem Versagen der Polizei vor Ort geschuldet war. Die Polizei von South Yorkshire und Premierminister David Cameron entschuldigten sich – für die Hinterbliebenen mag das eine lang ersehnte Genugtuung gewesen sein, die Auswirkungen der Katastrophe auf die Welt des Fußballs ließen sich dagegen nicht mehr rückgängig machen.
Vielleicht greift es aber auch zu kurz, die Ereignisse von Hillsborough und den Taylor-­Report allein für die Einführung von reinen Sitzplatzstadien und die damit einhergehende drastische Veränderung der englischen Fankultur verantwortlich zu machen. Richtiger wäre es, den beiden eine katalysierende Wirkung zuzuschreiben. Die Welt des Fußballs und vor allem der englische Profifußball steckten damals nämlich ohnehin in einer Krise, Reformen waren dringend nötig. Viele Stadien in England waren regelrechte Bruchbuden und die oft gefeierte Fankultur war vielfach nur ein beschönigender Ausdruck für raufende und saufende, oft rassistische und nationalistische Männerhorden, die für alle, die nicht zur jeweiligen Gruppierung gehörten, ein Ärgernis, nicht selten sogar eine Bedrohung darstellten.
Wegen der Krawalle zwischen englischen Hooligans und italienischen Ultras rund um das Finale des Landesmeisterpokals im Brüsseler Heysel-Stadion 1985 waren außerdem englische Teams vorübergehend von den europäischen Pokalwettbewerben und damit von einer wichtigen Einnahmequelle ausgeschlossen worden. Es lag also nahe, zu versuchen, mehr Geld auf dem nationalen Markt zu erwirtschaften. Wichtige Weichenstellungen hierfür waren die Gründung der Premier League 1992 und die gleichzeitige Einführung von Spielübertragungen durch den Pay-TV-Sender Sky.
Trotz ähnlicher Bedingungen nahmen die Dinge in Deutschland einen anderen Lauf. Auch hier befand sich der Fußball Ende der achtziger Jahre in einer selbstverschuldeten Krise und auch hier folgten die Einführung von Pay-TV und ein Umbau der Stadien. Doch während in England nur in einem sehr begrenzten Rahmen protestiert wurde und wirkliche Gegenbewegungen etwa durch Gründung eigener Vereine – zu nennen sind beispielsweise der FC United of Manchester und der AFC Wimbledon – erst Jahre später entstanden, entzündete sich in Deutschland an den Fragen der Sitzplätze und der fernsehgerechten Anstoßzeiten eine regelrechte Protestwelle, die schließlich in die Entstehung einer aktiven und kritischen Fankultur mündete. Träger des Protestes waren vielerorts um Fanzines versammelte Szenen, die wichtige Impulse für die 1993 erfolgte Gründung des Bündnisses aktiver Fußballfans (BAFF) gaben. Auch die heutige Ultrakultur ist ein Erbe dieser Entwicklungen.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Vorfälle von Hillsborough eine zentrale Rolle für die abweichende Entwicklung auf der Insel spielten. Während es unter Fußballfans in Deutschland mit Adrian Maleika 1983 und Mike Polley 1990 gerade einmal zwei Todesopfer zu verzeichnen gab, waren es in England an nur einem einzigen Tag, eben jenem 15. April 1989, beinahe hundert. Gegen diese Zahlen und gegen die Macht der erschütternden Bilder, die in ihrer Wirkung vielleicht am ehesten mit denen des Unglücks bei der Loveparade 2010 in Duisburg verglichen werden können, halfen auch keine Argumente. Außerdem gab es in England, das unter dem sozialen Kahlschlag der Ära Thatcher litt, kaum noch jemanden, der sich nach all den Niederlagen mit der Polizei und der Politik anlegen wollte.
Heute jedoch gilt die englische Premier League als die spielerisch höchstklassige Liga der Welt, die Zuschauerzahlen sind nach der NFL und der Bundesliga die dritthöchsten weltweit. Das Stehen wird in vielen Stadien in den sogenannten Singing Areas wieder weitgehend toleriert. »Außerdem sind Gewalt und Rassismus merklich zurückgegangen«, fügt Miles hinzu. Man könnte also durchaus behaupten, der Erfolg gebe denjenigen recht, die die Versitzplatzung vorangetrieben haben.
Mit dem sozialen Ausschluss gibt es jedoch auch eine Schattenseite. War der Fußball Ende der achtziger Jahre noch ein Ort gesellschaftlicher Teilhabe, an dem auch Arbeiter und ärmere Menschen zusammenkommen konnten, sind die Ticketpreise heute bis in die vierte Liga so hoch, dass viele sich einen regelmäßigen Stadionbesuch nicht leisten können. Gerade in England, das sich selbst gern als Heimat des Fußballs bezeichnet, sollte sich eigentlich gegen einen solchen Umgang mit dem Kulturgut Fußball mehr Protest regen. Andererseits hätte es auch nie so weit kommen dürfen.