Die Deflation hat Europa erreicht

Es geht abwärts

In Europa droht in einigen Ländern aufgrund der Austeritätspolitik eine Deflation. Dadurch sinken zwar zunächst die Preise, doch wie eine Inflation ist auch eine Deflation nicht unproblematsich.

Sie ist der Schrecken der Ökonomen und gilt als größte Gefahr für Wohlstand und Spareinlagen. Seit Beginn der Schuldenkrise warnt insbesondere die Deutsche Bundesbank vor einer drohenden Inflation, die wegen der expansiven Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgezeichnet sei. Auf dem Höhepunkt der Krise gab es zahllose Berichte über die deutschen Inflationsängste, Auslandskorrespondenten versuchten, den rätselhaften deutschen Sparzwang mit dem nationalen Trauma der Hyperinflation in den zwanziger Jahren zu erklären.
Mittlerweile gibt es tatsächlich große ökonomische Probleme, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Statt einer Geldentwertung droht eine Verknappung, eine Deflation.

Paradoxerweise beginnen die Schwierigkeiten mit einer scheinbar guten Nachricht: Waren und Dienstleistungen werden nicht teurer, sondern billiger. Fallende Preise führen jedoch zu problematischen Reaktionen, denn schon bald werden Löhne und Gehälter den schwindenden Gewinnen angepasst. Die Nachfrage sinkt ebenfalls, weil Verbraucher mit weiter sinkenden Preisen rechnen. Der deflationäre Prozess führt schließlich dazu, dass Unternehmen weniger investieren und Banken ihre Kreditvergabe reduzieren. Die Konsequenzen sind nicht weniger verheerend als bei einer Inflation. Weil Investitionen ausbleiben, steigt die Arbeitslosenrate und die Wirtschaft fällt in eine Rezession. Selbst exzessive Staatsausgaben helfen dann nicht mehr weiter.
Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Japan. Die japanische Regierung initiierte in den vergangenen beiden Jahrzehnten mehrere umfangreiche Investitionsprogramme, um die Deflation zu beenden, in der sich das Land seit den neunziger Jahren befindet. Genützt haben die Maßnahmen nur wenig. Erst vor kurzem stieg die Inflationsrate wieder auf über ein Prozent. Doch mittlerweile weist Japan, die ehemals führende asiatische Wirtschaftsmacht, mit Staatsschulden in Höhe von 214 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (über sieben Billionen Euro) den weltweit höchsten Schuldenstand aus – selbst die Verschuldung von Griechenland und den USA ist demgegenüber vergleichsweise bescheiden.
In Europa droht nun ausgerechnet Schweden, das lange Zeit als ökonomisches Musterland galt, der japanischen Entwicklung nachzufolgen. Seit über einem Jahrzehnt verfolgt die Regierung ein rigides monetaristisches Programm: Staatliche Ausgaben wurden reduziert, Staatsschulden abgebaut, der Bankensektor reguliert. Mit Beginn der weltweiten Finanzkrise 2008 forcierte die schwedische Reichsbank ihre Strategie des knappen Geldes – das Gegenteil der von den USA und Großbritannien betriebenen Politik. Zuerst fielen die Preise nur leicht, dann sank die Inflationsrate fast auf null, seit diesem Jahr liegt sie schon deutlich darunter. Zugleich steigen die Staatsschulden und die Arbeitslosigkeit. Der US-Ökonom Paul Krugman bezeichnete die schwe­dische Erfahrung als »ein Schauspiel des Sadomonetarismus«, die Reichsbanker hätten alles ihrem Kult des harten Geldes unterworfen.

Ähnlich wie in Schweden, wenn auch aus anderen Gründen, entwickelt sich die Wirtschaft in Spanien. Dort sank die Infaltionsrate im März unter null Prozent. Zuvor war dies bereits in Griechenland, Zypern, der Slowakei und Portugal geschehen. In den restlichen 13 Eurostaaten steigen die Preise ebenfalls nur noch langsam. Insgesamt betrug im März die Preissteigerung im Vergelich zum Vorjahresmonat gerade einmal 0,5 Prozent. Die EZB hält zwei Prozent für erstrebenswert.
Zumindest in den Staaten der europäischen Peripherie sind die Ursachen einfach zu ermitteln. Seit mehreren Jahren sinken dort wegen der rigiden Sparauflagen die Einkommen, die Nachfrage geht kontinuierlich zurück. Die Deflation wurde von der sogenannten Troika aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds bewusst initiiert. »Eine Deflation in Südeuropa ist erforderlich, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, die zuvor durch eine überbordende Inflation vernichtet wurde«, urteilt Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Sind die heimischen Waren wegen der niedrigen Löhne wieder günstiger, können sie einfacher exportiert werden. Allerdings weiß auch Sinn, dass eine lang anhaltende Deflation die südeuropäischen Gesellschaften in den Ruin treiben kann – sie macht es fast unmöglich, die Schulden abzubauen, die bei einer Inflation nach und nach entwertet würden.
Hinzu kommt, dass sowohl Japan wie auch die USA seit geraumer Zeit versuchen, ihre Währungen, Yen und US-Dollar, abzuwerten, um ihre Exporte zu steigern. Dadurch verteuerte sich in den vergangenen Jahren der Euro, was wiederum die wirtschaftliche Entwicklung in Europa schwächt und die Deflation beschleunigt.
Aber auch die ökonomisch prosperierenden Länder Europas tendieren zur Deflation. Obwohl in Deutschland die Wirtschaft boomt und die Arbeitslosigkeit niedrig ist, steigen hier die Preise nur noch langsam. Eine Ursache sind die sinkenden Einkommen und der stark gewachsene Niedriglohnsektor. So hatte die New York Times kürzlich verwundert festgestellt, dass die deutsche Mittelschicht kaum noch vom Wirtschaftswachstum profitiere. Um gerade einmal 1,4 Prozent sei das reale Einkommen dieser Schicht gestiegen – und zwar in den vergangenen zehn Jahren zusammengenommen. Wegen der vergleichsweise niedrigen Löhne gelingt Deutschland zwar ein Exportrekord nach dem anderen, es erzeugt aber zugleich einen gewaltigen Druck auf die Konkurrenten. Sie müssen ihre Lohnkosten ebenfalls senken.
Der kontinuierliche Abstieg der Mittelschicht in Deutschland ist zudem einer Steuerpolitik geschuldet, die vor allem niedrige und mittlere Einkommen belastet. Lohnabhängige müssen so teils drastische Einbußen hinnehmen, während Vermögende über lukrative Anlagemöglichkeiten verfügen. Deutschland gehört mittlerweile zu den Staaten mit einer extremen Einkommens­ungleichheit, ebenso wie die USA. Dort hat die Mittelschicht ihren Status als reichste der Welt verloren. Verdiente 1978 in den USA ein durchschnittlicher Arbeiter noch rund 48 000 US-Dollar brutto im Jahr, sind es heute nur noch 33 000 US-Dollar, wie der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem derzeit viel diskutierten Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« darstellt. Demnach besitzen heute in den USA die reichsten 400 Bürger so viel wie 150 Millionen aus den unteren Einkommensgruppen.

Wer hat, dem wird gegeben, lautet die etwas banale Erkenntnis von Pikettys Werk über den modernen Kapitalismus, der zugleich durch schwindende Nachfrage und hohe Verschuldung gekennzeichnet ist. Diese beiden Probleme zu bekämpfen, kann sich in Europa nur die EZB leisten, weil nur sie über die Ressourcen verfügt, um die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen.
In jüngster Vergangenheit hat die EZB auf die deflationäre Entwicklung reagiert, indem sie den Leitzins sukzessive senkte. Geschäftsbanken können sich derzeit für einen historisch niedrigen Satz von 0,25 Prozent Geld leihen – ohne dass sich dadurch ihre Kreditvergabe wesentlich ändern würde. Die Banken horten das billige Geld und geben es aufgrund der zweifelhaften Konjunkturaussichten nur eingeschränkt an Unternehmen weiter.
Weil weitere Zinssenkungen kaum mehr möglich sind, denken die Zentralbanker über verschiedene Szenarien nach. Eine Möglichkeit wäre, die Geschäftsbanken mit Strafgebühren zu belegen, wenn sie ihr billig erhaltenes Geld nicht weitergeben. Ein anderer Weg besteht darin, die ­Notenpresse anzuwerfen. Nach Angaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwägt die EZB derzeit Ankäufe von Staatsanleihen in Höhe von einer Billion Euro. Demnach könnte die Inflation im günstigsten Fall auf 0,8 Prozent angehoben werden, es wären aber auch nur 0,2 Prozent möglich. »Im EZB-Rat herrscht Einstimmigkeit, gegebenenfalls auch weitere unkonventionelle Maßnahmen im Rahmen unseres Mandats einzusetzen, wenn die Inflation zu lange sehr niedrig bleibt«, erklärte EZB-Präsident Mario Draghi kürzlich. »Wenn nötig, können wir schnell handeln.« Der Spiegel berichtete sogar, dass »als letzte Waffe« das Anleiheprogramm »unbegrenzt« fortgeführt werden könne, wenn das Billion-Euro-Programm nicht ausreiche, um die Deflation zu bekämpfen.
Dass die Lage ernst ist, verdeutlichen auch die Reaktionen von Jens Weidmann, dem Präsidenten der Bundesbank, und seinem finnischen Kollegen Erkki Liikanen, die mögliche EZB-Anleihekäufe nicht mehr kategorisch ausschließen möchten. Es ist noch nicht lange her, dass Weidmann solche Ansinnen verteufelt hatte, weil »Notenbankfinanzierung süchtig machen kann wie eine Droge«, wie er vor zwei Jahren dem Spiegel erklärte. Weidmann wurde damals für seine Haltung gefeiert und als tapferer Ritter dargestellt, der einsam gegen ein Geld vernichtendes Ungeheuer ankämpft. Ironischerweise könnte es nun dazu kommen, dass die EZB wegen der deutschen Sparpolitik alle Schleusen öffnet – und die Bundesbank sie dabei unterstützen muss.