Europawahlkampf der deutschen Oppositionsparteien

Blass nach Brüssel

Im Europawahlkampf präsentieren sich die Linkspartei, die Grünen und die FDP blass und verhalten.

Am Schluss seiner Rede wird Alexis Tsipras pathetisch. »Wir sind die Kraft der Hoffnung und der Perspektive«, ruft der 39jährige Grieche den Delegierten auf Englisch entgegen. Es gehe um »ein politisches Projekt für die Wiederherstellung eines demokratischen, sozialen und ökologischen Europa«. Die Linke vereine die Menschen in Europa. Sie werde »die angenehme Überraschung dieser Wahl sein«.
Knapp eine halbe Stunde spricht Tsipras am zweiten Samstagabend im Mai auf der – wie es offiziell heißt – zweiten Tagung des vierten Parteitags der Linkspartei im Berliner Velodrom. Der »Bürgerschreck und Hoffnungsträger« (Frankfurter Rundschau) ist Vorsitzender der griechischen Syriza, der derzeit stärksten Partei links der Sozialdemokratie in der EU. Bei den Europawahlen am kommenden Sonntag tritt er als Spitzenkandidat der Europäischen Linken an. Seine Rede endet mit: »Venceremos! Hasta la Victoria siempre!« Die Versammelten spenden stehend Beifall, Fahnen werden geschwenkt. Gemeinsam stimmen sie das alte italienische Arbeiterlied »Bandiera rossa« an. Dann geht es weiter mit der Wahl des Bundesschatzmeisters.
»Im Mittelpunkt des Parteitages standen Satzungsänderungen und die Wahl des Parteivorstandes«, heißt es auf der Internetseite der Linkspartei. Und das kurz vor den Europawahlen. Venceremos? Wir werden siegen? Für die deutsche Linkspartei gilt das eher nicht. Denn das würde
etwas mehr Enthusiasmus erfordern. Der Kampf für eine andere, bessere EU steht nicht allzu weit oben auf der Prioritätenliste. Dafür ist die Linkspartei, trotz aller gegenteiligen Bekundungen, soziokulturell schlicht zu deutsch und zu provinziell. Die Europawahlen sind für sie eine von vielen Wahlen in diesem Jahr. Ihr Blick ist nicht nach Brüssel gerichtet, sondern nach Dresden, Erfurt und Potsdam. Über Tsipras schrieb unlängst die Frankfurter Rundschau, zu seinen »Marotten« gehöre es, »niemals eine Krawatte anzuziehen, nicht mal bei einem Staatsbankett«. Das kann man von den Spitzenkandidaten, die in der zweiten Jahreshälfte für die Linkspartei bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg antreten, nicht behaupten. Stattdessen stehen sie für rot-rot-grüne Blütenträume.

In Zeiten der Großen Koalition müsste die inner- wie außerparlamentarische Opposition eigentlich erstarken. Doch das ist bislang nicht in Sicht. Wobei es von den kleinen Parteien der Linkspartei immerhin noch am besten geht. Unter ihren gerade wiedergewählten Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger hat sich die Partei konsolidiert. Der selbstzerfleischende Streit vergangener Jahre scheint der Vergangenheit anzugehören. Das sorgt in den Umfragen zwar nicht für Höhenflüge, aber auch nicht für Abstürze. Bei den jüngsten Sonntagsfragen für die Bundestagswahl liegt sie zwischen acht und zehn Prozent. Das gleiche gilt für die Europawahl. Die Linkspartei kann also mit einem leichten Zuwachs gegenüber ihrem Abschneiden 2009 rechnen. Damals erhielt sie einen Stimmenanteil von 7,5 Prozent. Allerdings sieht es nicht danach aus, dass damit auch eine Steigerung der Mandatszahl verbunden wäre. Bisher ist sie mit acht Abgeordneten im Europaparlament vertreten. Trotzdem könnte die Fraktion der linken Parteien im Europaparlament diesmal stärker werden als die der grünen Parteien. Denn anders als in der Bundesrepublik werden die Parteien links der Sozialdemokratie, folgt man den Prognosen, in den südlichen Ländern wie Griechenland, Spanien, Frankreich und möglicherweise sogar mit der Liste »L’Altra Europa con Tsipras« (»Ein anderes Europa mit Tsipras«) in Italien deutlich zulegen.

Die Grünen müssen hingegen mit Verlusten rechnen, vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland. Möglicherweise war es keine so gute Idee, ausgerechnet die Beratungsfirma Joschka Fischer & Company die Dachkampagne für den Europawahlkampf organisieren zu lassen. Der Grund könnte auch ein anderer sein. Eigentlich müssten die grünen Parteien aufgrund ihrer proeuropäischen Ausrichtung Gewinne verzeichnen. Schließlich sind die Voraussetzungen optimal. Denn die Krise der EU sorgt für eine Polarisierung: Sie ist zwar einerseits Nährboden für euroskeptische und -gegnerische Parteien, was sich am erschreckenden Aufschwung rechts­populistischer und -extremistischer Parteien wie der UKIP in Großbritannien, der FPÖ in Österreich oder des Front National in Frankreich zeigt.
Doch auf der anderen Seite gibt es glücklicherweise auch eine nicht zu unterschätzende zahl von Menschen, die die europäische Idee gegen nationalistische Tendenzen entschieden vertei­digen wollen. Das beste Beispiel dafür sind die Niederlande. Da steht der Partij voor de Vrijheid des rechten Hetzers Geert Wilders, der unter dem Motto »NExit« (Niederlande-Exit) für einen EU-Austritt eintritt, die proeuropäische links­liberale Partei D66 gegenüber. In den Umfragen konkurrieren sie um den ersten Platz in der Wählergunst. Die regierenden Christ- und Sozialdemokraten rangieren dahinter.
Wie sich das proeuropäische Potential mobilisieren lässt, bewies bei den vergangenen Europawahlen in Frankreich eindrucksvoll Daniel Cohn-Bendit. Seine Liste Europe Écologie landete mit 16,3 Prozent der Stimmen nur knapp hinter der Parti Socialiste. Man kann Cohn-Bendit vieles vor­werfen, das meiste zu recht, beispielsweise seinen unerträglichen Bellizismus. Nur nicht Nationalismus, der liberale Ex-Revoluzzer ist tatsächlich Europäer mit Haut und Haaren. Seit Jahrzehn­ten streitet der noch amtierende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, der nun in den Ruhestand geht, mit Inbrunst für seine Vision: die Vereinigten Staaten von Europa. Genau daran mangelt es dem heutigen grünen Führungspersonal. Der Mut, offensiv für mehr statt weniger Europa einzutreten, fehlt ihnen. Es fehlt ihnen ein Cohn-Bendit. Stattdessen haben sie als europäische Spitzenkandidatin die allzu glatte Ska Keller, als deutsche Spitzenkandidatin die hölzerne Rebecca Harms – und niemanden, der die europäische Idee verkörpert. Entsprechend uninspiriert wirkt ihr Wahlkampf.
Darüber hinaus haben die deutschen Grünen sich immer noch nicht von ihren Verlusten bei der Bundestagswahl erholt. Im Bundestag wirken sie blass. Sie lavieren sich irgendwie durch. So ist es kein Wunder, dass sie in den jüngsten Umfragen weiterhin nicht ihr Potential ausschöpfen können. Derzeit rangieren die Grünen in Umfragen zwischen neun und elf Prozent. Das ist zwar eine Steigerung gegenüber dem Desaster vom vergangenen September, bleibt jedoch hinter den Ergebnissen der Europawahlen 2004 und 2009 zurück, bei denen die Partei jeweils auf einen Stimmenanteil von rund zwölf Prozent kam.

Gleichwohl sind die Probleme der Grünen gering im Vergleich mit denen der anderen liberalen Partei in der Bundesrepublik. Für die FDP sieht es ganz düster aus. In den Umfragen dümpelt sie zwischen drei und vier Prozent und liegt damit noch hinter ihrem katastrophalen Bundestagswahlergebnis von 4,8 Prozent. Sie kann froh sein, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl gekippt hat, sonst hätte es am Wahlabend richtig knapp werden können. Aber auch so wird sie den Großteil ihrer Mandate verlieren. Mit ihrer damaligen Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin erhielt die FDP 2009 noch elf Prozent der Stimmen. Den Namen der einstigen Vorzeigepolitikerin, die vor drei Jahren über eine Plagiatsaffäre gestolpert ist, nimmt in der Partei heute niemand mehr gerne in den Mund. Der Bonner Alexander Alvaro, ihr Nachfolger als Vizepräsident des EU-Parlaments, verzichtete ebenfalls auf eine erneute Kandidatur. Die Staatsanwaltschaft hat ihn wegen eines Verkehrsunfalls unter Drogeneinfluss und mit Todesfolge angeklagt. Auch im EU-Parlament lief es für die FDP in der ablaufenden Legislaturperiode nicht besonders gut.
Der neue Parteivorsitzende Christian Lindner hat die große Chance, die sich ihm mit der Europawahl geboten hat, nicht genutzt. Denn das pro-europäische Potential hätten auch die Freidemokraten für sich erschließen können. Lindner hätte sich bloß die niederländische D66, die immerhin mit der FDP in derselben Fraktion im EU-Parlament sitzt, zum Vorbild nehmen müssen. Das wäre ein Zeichen für einen Neuanfang gewesen. Dabei hätte er wenig zu verlieren gehabt: Die Euroskeptiker am rechtsliberalen Rand der FDP wählen ohnehin die »Alternative für Deut­schland« (AfD), die laut Demoskopen mit einem Stimmenanteil von bis zu sieben Prozent weitaus bessere Aussichten hat. »Die AfD sagt: Mut zu Deutschland. Ich sage: Mut zu Europa«, verkündete Lindner in Dresden auf dem Parteitag der FDP, der zur gleichen Zeit wie der der Linkspartei stattfand. Es wirkte wie ein leerer Spruch. Mehr ist es auch nicht. Europa? Was das für die Partei bedeutet, erläuterte FDP-Spitzenkandidat Alexander Graf Lambsdorff: Die brutale Austeritätspolitik müsse fortgesetzt, der Druck auf die Krisenländer aufrechterhalten werden. Außerdem sei er gegen das Glühbirnenverbot und die Duschkopf-regulierung. »Wer FDP will, muss auch FDP wählen«, schloss Lambsdorff seine Rede. Zum Glück wollen das nicht mehr viele.