Die Debatte über die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen

Humanität geht anders

In Deutschland wird über die Aufnahme syrischer und irakischer Flüchtlinge debattiert.

Er stehe »mit dem Rücken zur Wand«, und zwar »fest angelehnt«, sagte Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) vorige Woche der Süddeutschen Zeitung. »Unsere Erstaufnahmestelle ist um 500 Personen überfüllt, weil wir die Flüchtlinge von dort aus nicht in die Folgeunterbringung abgeben können. Uns fehlen für dieses Jahr 4 000 zusätzliche Plätze.« Und ob diese 4 000 Plätze überhaupt reichten, sei offen. Tatsächlich kolportiert Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) seit einiger Zeit eine Prognose von 200 000 Asylanträgen in Deutschland in diesem Jahr. Bis April gingen beim Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) etwa 43 000 Erstanträge ein. Sollte de Maizières Einschätzung zutreffen, wäre das die höchste Zahl von Anträgen seit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993. »Da würden wir finanziell und räumlich vor unglaublichen Problemen stehen«, sagt Scheele. Im Schnitt müsse Hamburg 20 000 Euro investieren, um einen Platz zu schaffen, aufs ganze Jahr gerechnet werde Hamburg etwa 250 Millionen für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen ausgeben. Scheele fordert deshalb Hilfen des Bundes: »Wenn ich mir Städte im Ruhrgebiet anschaue, die schon in der Haushaltssicherung sind – das können wir Kommunen nicht alleine stemmen.« Gemäß dem als »Königsteiner Schlüssel« bekannten Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge innerhalb Deutschlands ist Hamburg für die Aufnahme von etwa drei Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland zuständig. Kämen 2014 tatsächlich insgesamt 200 000 Asylbewerber, wären das 6 000 Menschen.

Angesichts der Einwohnerzahl Hamburgs von etwa 1,8 Millionen und des Umstands, dass es sich um eine der wohlhabendsten Städte Europas handelt, mutet Scheeles Klage absurd an. Es ist auch nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass seit Jahrzehnten nicht für ausreichend billigen Wohnraum gesorgt wurde und nun die Gentrifizierung in den Großstädten zeitlich mit den steigenden Asylzahlen zusammenfällt. Gleichwohl hat Scheele Recht, wenn er den Bund in die Pflicht nehmen will: Dessen Einnahmen sprudeln, die Städte bekommen zu wenig davon ab. Die Bundesregierung hat die Verantwortung für Flüchtlinge nicht nur auf andere Staaten abgewälzt, sondern auch nach innen auf die Städte und Gemeinden: Diese zahlen für Unterkunft und Versorgung der ihnen zugewiesenen Flüchtlinge. Deren Klage wiederum instrumentalisiert jetzt die Union, die für diese Art der Lastenverteilung die Verantwortung trägt. Sie benutzt die schwierige Lage der Städte, um die Forderung nach der Aufnahme weiterer Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, abzuweisen. In den Kommunen werde schon jetzt »nicht ständig Hurra gerufen«, sagte etwa Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vor der Innenministerkonferenz (IMK) am 12. Juni in Bonn.
Nach monatelangen Verhandlungen hatten die Innenminister dort die Aufnahme von weiteren 10 000 Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland beschlossen und dies als »größten Beitrag eines Landes in der EU« (de Maizière) gefeiert. Insgesamt nimmt Deutschland damit 20 000 Flüchtlinge im Rahmen humanitärer Aufnahmeprogramme auf. Nach welchen Kriterien die jetzt beschlossenen 10 000 Syrer ausgewählt werden, weiß das BAMF nach eigenen Angaben noch nicht. Vermutlich werden Flüchtlinge zum Zuge kommen, für die in Deutschland lebende Angehörige schon im Rahmen der beiden ersten Kontingente eine Einreiserlaubnis beantragt haben – das waren 76 000.
»Es bedeutet, dass mehr als 60 000 antragstellende Flüchtlinge aus Syrien mit Verwandten in Deutschland in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit vor den Grenzen der Festung Europa bleiben werden«, sagte Günter Burkhardt von Pro Asyl. Sein Kollege Karl Kopp schrieb: »Alle politisch Verantwortlichen bezeichnen die Flucht aus Syrien als die größte humanitäre Katastrophe in diesem Jahrhundert, sie reden von Solidarität mit Flüchtlingen und den Nachbarstaaten Syriens. Zeitgleich passiert nichts in der EU in Richtung konzertierter Flüchtlingsaufnahme.« Im vierten Jahr des Bürgerkriegs in Syrien stelle sich für Europa nicht mehr die Frage, ob Schutzsuchende auf den Kontinent kommen. »Es geht nur noch um den humanitären Preis dafür: Werden sie als Leichen angeschwemmt, an den Landesgrenzen gewaltsam zurückgeprügelt, inhaftiert in Elendslagern an den Außengrenzen und dann in die Obdachlosigkeit geschickt, oder ist Europa bereit, den Fliehenden diese Martern zu ersparen?«
Volker Türk, UNHCR-Direktor für Flüchtlingsschutz, erinnerte anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni daran, dass seit Beginn des Syrien-Konflikts in sämtlichen Industrieländern knapp 96 000 Asylgesuche von Syrern gestellt wurden. Libanon mit 4,5 Millionen Einwohnern hat mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Er erwarte, dass die Zahl der Ankünfte über das Mittelmeer weiter ansteige: »Aber wir glauben, dass dies für Europa insgesamt händelbar ist. Europas Belastung ist nichts im Vergleich mit den Nachbarregionen. Man darf da die Perspektive nicht verlieren.«

Angesichts des Vormarsches der radikalislamischen Isis-Kämpfer im Irak steht schon die nächste Flüchtlingsdebatte an: Absehbar sei »die nächste humanitäre Katastrophe im Mittleren Osten«, sagte Cem Özdemir (Grüne). »Da ist die Hilfe Deutschlands und der gesamten Europäischen Union ein Muss – sowohl in der Region als auch durch die Aufnahme von Flüchtlingen.« Ähnlich äußerte sich die flüchtlingspolitische Sprecherin der Linkspartei, Annette Groth. Die Union sieht das anders. Für sie ist Deutschland sehr wohl an seiner Belastungsgrenze angelangt. De Maizière will die Zahl der Anträge unbedingt reduzieren: »Denen, die nicht verfolgt sind und trotzdem kommen, müssen wir aber sagen: Für euch gibt es hier keinen Aufenthaltsstatus. Wir müssen genauso gegen die vorgehen, die das Asylrecht missbrauchen«, sagte er der Welt.
Dazu hat er gleich mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht, die Union wirbt derzeit um Zustimmung dafür beim Koalitionspartner SPD. Mit dem »Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« will de Maizière die Abschiebehaft ausweiten; Flüchtlinge, die über einen anderen EU-Staat gekommen sind, sollen generell eingesperrt werden. Das wird auch zahlreiche Syrer betreffen. Vor allem aber will de Maizière die Balkanstaaten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als »sichere Herkunftsländer« einstufen. Seit die Visumpflicht für diese Länder aufgehoben wurde, haben besonders viele Roma aus der Region in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Die werden zwar alle abgelehnt, müssen aber regulär geprüft werden. Die von de Maizière geplante Gesetzesänderung, die auch im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, würde die umgehende Abschiebung der Roma ermöglichen. Gleichzeitig ist Sie ein Testlauf: Am liebsten würde das Innenministerium diese Liste, auf der bislang neben den EU-Staaten nur die Schweiz, Norwegen, Senegal und Ghana stehen, nach Belieben erweitern dürfen.

Auch hier wird die vom Bund zu verantwortende Lage der Städte politisch instrumentalisiert: Thomas Strobl, Landesvorsitzender der CDU in Baden-Württemberg, appellierte an die grün-rote Landesregierung: »Unsere Kommunen brauchen in dieser schwierigen Situation Hilfe und Unterstützung.« Serbien, Mazedonien und Bosnien als »sicher« einzustufen, »wäre ein wichtiger Schritt, weil es Verfahren abkürzen, Ämter, Kommunen und Landkreise entlasten würde«, sagte Strobl und forderte, Baden-Württemberg solle dem Gesetzentwurf im Bundesrat zustimmen. Doch die von SPD und Grünen regierten Länder wollen nicht: Bei der Bundesratssitzung am Tag nach der Innenministerkonferenz lehnten sie den Gesetzentwurf ab. »Die Asylanträge aus diesen Ländern müssen weiterhin individuell und sorgfältig geprüft werden«, sagt die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Irene Alt (Grüne). Ähnliches zeichnet sich beim »Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« ab. Im Vermittlungsausschuss wird die Union nun wohl Zugeständnisse machen müssen.