Syrische Flüchtlinge in Armenien

Das zweite Exil

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs flüchteten aus Syrien Tausende Angehörige der armenischen Minderheit nach Armenien. Doch in der Kaukausrepublik haben sie mit vielen Problemen zu kämpfen.

An die täglichen Meldungen über die Gefechte im Bürgerkrieg seines Landes hatten sich Garo Arojan und seine Familie eigentlich schon gewöhnt. 2012 befand sich der Syrien-Konflikt noch in seiner Anfangsphase. Doch im Juli desselben Jahres wurde auch die Herkunftsstadt der Arojans, die Metropole Aleppo, zum Schlachtfeld, die Kämpfe dauern bis heute an. Die Nachrichten über die heranrückenden Rebellen der Freien Syrischen Armee und die Propaganda des Regimes von Präsident Bashar al-Assad: In wenigen Wochen wurden sie für Garo Arojan von abstrakten Erzählungen aus den Medien zu realen Erlebnissen, als auch in dem Viertel, in dem er wohnte, die Maschinengewehrschüsse zu hören waren, Tote und Verletzte in die überfüllten Krankenhäuser gebracht wurden, blutbefleckte Splitter aus Glas und Beton auf den Straßen lagen und Ausgangssperren verhängt wurden.

»Nach dem dritten Bombardement aus der Luft meinte meine Mutter: ›Du musst hier weg‹«, erzählt der 19jährige. Im August 2012 floh er zunächst in den Libanon. Weiter ging es über den Flughafen von Beirut, mit einem One-Way-Ticket, das ihm seine Familie, die in Syrien geblieben war, gekauft hatte. Das Ziel: Eriwan, die Hauptstadt Armeniens. »Das war dann sozusagen das Geschenk für meinen Schulabschluss«, sagt Garo Arojan.
Nun studiert er in Eriwan Informatik, unterstützt von einem staatlichen Stipendium. Er ist einer von 12 000 armenischen Syrern, die seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs nach Armenien geflohen sind. Für manche war die Republik im Südkaukasus nur ein Transitland, um nach Nordamerika, Westeuropa oder Russland weiterzuziehen. Viele sind jedoch geblieben, hier im »Mutterland«, wie viele der Geflüchteten aus der armenischen Diaspora es nennen. Die christlichen Armenier erleben aus ihrer Sicht zum zweiten Mal in 100 Jahren Vertreibung und Exil: Nach dem Völkermord im Osmanischen Reich von 1915 verstreuten sich die Überlebenden im Nahen Osten, insbesondere in Syrien und im Libanon. Jetzt fliehen viele auch von dort. Bis zum Bürgerkrieg lebten mindestens 35 000 Armenier in Sy­rien, mittlerweile ist diese Zahl nach Schätzung des UN-Flüchtlingskommissariats auf etwa 20 000 geschrumpft.
Der Zuzug aus der Diaspora des Nahen Ostens stellt Staat und Gesellschaft in Armenien allerdings vor viele Fragen und Herausforderungen. Wie lassen sich die Neuangekommen, die in ­Syrien oftmals der Oberschicht angehörten, in ein Land integrieren, das noch vor 23 Jahren Teil der Sowjetunion war? Nationalistische Kräfte betonen, die »Einheit« des armenischen Volkes sei stark. Und wie können die syrischen Armenier sich in einem Land eine Existenz aufbauen, in dem die Arbeitslosigkeit bei mindestens 17 Prozent liegt und das wesentlich von Rücküberweisungen im Ausland arbeitender Migranten abhängt?
»Die Syrien-Armenier fühlen sich hier zu Hause und gleichzeitig fremd«, sagt Anahit Hayrapetjan von der Niederlassung des UN-Flüchtlingskommissariats in Eriwan. Hayrapetjan betreut seit Ausbruch des Bürgerkriegs die nach Armenien kommenden Flüchtlinge und kennt die typischen Probleme. Weil das Regime Bashar al-Assads, das von vielen syrischen Armeniern unterstützt wird, ihre Konten hat einfrieren lassen, verloren viele ihr Vermögen. Dass sie deshalb auf Spenden, Subventionen und die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen angewiesen sind, sei für viele demütigend.

»Von den Armeniern, die immer noch in Syrien sind, möchten viele aus reinem Stolz nicht nach Armenien ziehen«, sagt Hayrapetjan. Hinzu komme, dass die Regierung in Eriwan unter Präsident Sersch Sargsjan ein doppeltes Spiel spiele: Einerseits stelle der Staat Wohnungen und Hilfsangebote zur Verfügung und wolle die Flüchtlinge assimilieren. Jedoch habe die Regierung auch ein Interesse am Fortbestand der armenischen Diaspora in Syrien und im ganzen Nahen Osten: »Aus Prestigegründen und Wirtschaftsinteressen will die politische Elite Armenier in Damaskus und Beirut vor Ort haben.«
Für Richard Giragosian vom Think Tank Regional Studies Center liegt das Problem in der vollkommen ungewohnten Lebenswelt, die die Flüchtlinge in Armenien vorfinden. »In Syrien gehörten sie zur wirtschaftlichen Elite des Landes, hier müssen sie mit den ansässigen Einwohnern um die wenigen Jobs konkurrieren«, sagt Giragosian, der selbst als Diaspora-Armenier aus den USA nach Eriwan kam. »Die postsowjetische Bürokratie stellt für sie eine Hürde dar. Heiratsurkunden anerkennen zu lassen oder ein Kleinunternehmen zu gründen, läuft in Armenien grundsätzlich anders als in Syrien.«
Anfangs hatte auch Garo Arojan mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Da war der ostarmenische Dialekt, den er am Anfang kaum verstand. Oder die Menschen auf den Straßen und in den U-Bahnen, die kaum lächelten und ihn anstarrten, weil er mit seinen kurzen Hosen und seinem Bart optisch nicht dem armenischen Mainstream entspricht. »Erst dachte ich, ich sei nicht willkommen«, sagt Arojan. »An der Universität wollte keiner mit mir reden.« Mittlerweile fühlt er sich in Eriwan zu Hause, selbst wenn er seine Schwester und seine Eltern vermisst, die wegen ihrer Arbeitsplätze in Aleppo geblieben sind und die ihn gelegentlich besuchen kommen. Ob er glaubt, dass auch sie ihm irgendwann nach Armenien folgen werden? Garo Arojan überlegt kurz, dann sagt er, in Aleppo seien seit kurzem die Wasserleitungen immer öfter kaputt. »An den Stromausfall haben sich viele gewöhnt, aber wenn es nicht mal mehr fließend Wasser gibt, werden sicher noch mehr Leute aus Syrien abhauen.«