Neue Debatten über das Betreuungsgeld

Kohle statt Kita

Seit einem Jahr gibt es für Eltern, die ihre Kleinkinder nicht in Kitas oder von Tagesmüttern betreuen lassen, das Betreuungsgeld. Dies war auf Wunsch der CSU eingeführt worden. Nun hat eine Studie festgestellt, dass sich Eltern häufig aus materieller Not dafür entscheiden, ihre Kinder nicht in eine Kita zu schicken.

Im Juni hat die ehemalige Bundesfrauenministerin Kristina Schröder ihr zweites Kind bekommen. Die Bundestagsabgeordnete und ihr Mann, der Staatssekretär Ole Schröder (beide CDU), haben Anspruch auf Betreuungsgeld, wenn sie für ihre Tochter kein staatliches Betreuungsangebot nutzen. In Interviews hat die Kristina Schröder stets offen gelassen, ob sie von der von ihr eingeführten Prämie fürs private Kinderhüten Gebrauch machen würde. »Betreuungsgeld heißt jedenfalls nicht, dass man nicht berufstätig ist. Es bedeutet, dass Eltern die Betreuung privat organisieren«, sagte sie etwa der Rheinischen Post auf die Frage, ob das Geld für sie in Frage käme. »Ich bin grundsätzlich froh, diese Möglichkeiten der unterschiedlichen Betreuung zu haben.« Wer nicht so privilegiert ist wie das bestens alimentierte Politikerpaar, kann nicht zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Viele entscheiden sich für Kohle statt Kita, weil sie schlicht das Geld brauchen.
Das Betreuungsgeld war eines der zentralen Projekte der antifeministischen Ministerin, die damit ein Ziel der CSU verwirklichte. Es ist gleichzeitig mit dem Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte für unter Dreijährige eingeführt worden, der seit einem Jahr gilt. Im Jahr 2013 wurden etwa 100 000 neue Kitaplätze geschaffen, damit die Kommunen den Rechtsanspruch auf eine Betreuung erfüllen können. Trotzdem gibt es noch immer nicht genügend Plätze, vor allem in den größeren Städten. Durch das Betreuungsgeld sinkt die Nachfrage nach Plätzen, die Kommunen müssen weniger für die Erfüllung des Rechtsanspruchs tun. Ideologisch wird das anders vermarktet: Eltern sollen die »Wahlfreiheit« haben, ihr Kind selbst zu betreuen oder betreuen zu lassen, wurde Kristina Schröder nie müde zu erklären. Für Wohlhabende sind Mitnahmeeffekte vorgesehen. Denn Betreuungsgeld und Erwerbstätigkeit – und das Kind von Opa, Oma, Aupair oder sonst wem betreuen zu lassen – sind vereinbar. Bei Hartz-IV-Beziehenden wird es gnadenlos angerechnet.

Das Betreuungsgeld bekommen seit einem Jahr Eltern, die ihr Kleinkind nicht in einer Einrichtung oder von einer Tagesmutter betreuen lassen. Es wird gezahlt für Kinder im Alter zwischen 15 Monaten und drei Jahren, und zwar maximal 22 Monate lang. Seit 1. August gibt es im Monat 150 Euro, vorher waren es 100 Euro. Daran ändern auch die Ablösung der schwarz-gelben Regierung nichts. Schröders Nachfolgerin Manuela Schwesig (SPD) hält nichts von dem Bonus für die Nachwuchspflege, der die traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter zementiert. Sozialdemokraten, Grüne und Linkspartei, selbst Teile der CDU lehnen das Betreuungsgeld entschieden als »Herdprämie« ab. Sie fürchten, dass das Geld Kinder aus bildungsfernen Schichten von Bildungseinrichtungen fernhält. Die SPD hat im Wahlkampf zwar großmäulig angekündigt, den Obolus für das Kinderhüten abzuschaffen. Aber in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU und vor allem der CSU konnte oder wollte sie sich nicht durchsetzen.
In Niederbayern bekommen 84 Prozent der Eltern das Betreuungsgeld. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass das Betreuungsgeld in erster Linie an Frauen fließt, obwohl natürlich auch Väter es beantragen können: 95 Prozent der Beziehenden sind weiblich. Zwischen dem 1. August und dem 31. Dezember 2013 wurde das Betreuungsgeld bundesweit 64 877 Mal bewilligt. Die Nachfrage steigt rasant. Laut Statistischem Bundesamt haben in den ersten drei Monaten 2014 schon rund 146 000 Personen das Betreuungsgeld bezogen, davon stammten mit 33 500 die meisten aus Bayern. Zum Vergleich: Zu Beginn des Kindergartenjahrs 2013/14 besuchten 490 000 Ein- bis Zweijährige eine Einrichtung oder gingen zu einer Tagesmutter.

Die vor kurzem veröffentlichte Untersuchung des Forschungsverbund der Technischen Universität Dortmund und des Deutschen Jugendinstituts München zeigt, dass viele das Betreuungsgeld nicht deshalb beziehen, weil sie es besser finden, ihre Kleinkinder zu Hause zu behalten. »Geht man von der gut belegten Annahme aus, dass der Bildungsstatus und der Erwerbsstatus der Eltern auch Indikatoren für die ökonomische Situation der Familie darstellen, dann ist das Betreuungsgeld vor allem für Familien attraktiv, die in einer ökonomisch depravierten Situation leben oder möglicherweise von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind«, so Kirsten Fuchs-Rechlin, eine der vier Autorinnen der Studie. Für die Untersuchung wurden mehr als 100 000 Eltern nach ihren Motiven für den Bezug des Betreuungsgeldes gefragt, allerdings schon vor dessen Einführung. Danach gibt es einen Zusammenhang zwischen häuslicher Betreuung und formal geringer Bildung. Fatal ist: Auch für Familien, in denen die Hauptsprache nicht Deutsch ist, ist der materielle Faktor oft entscheidend für die eigene Betreuung der Kleinkinder. Ein Viertel der Familien, in denen nicht vor allem Deutsch gesprochen wird, wollten wegen des materiellen Anreizes keine außerhäusliche Betreuung für des Nachwuchses. »Bezogen auf soziale Selektionsmechanismen lässt sich das Betreuungsgeld als besonderer Anreiz für sozial eher benachteiligte Familien identifizieren, kein Angebot frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung zu nutzen«, stellt Fuchs-Rechlin fest. Von den Paaren ohne Bildungsabschluss favorisierten 31 Prozent die Betreuung ihrer Kinder zu Hause, weil dadurch Geld in die Haushaltskasse kommt. Von denen mit einem Hauptschulabschluss als höchstem Bildungszeugnis waren es 23 Prozent, von denen mit mittlerer Reife 14 Prozent. Von den Befragten mit Abitur wollten sich zehn Prozent wegen des materiellen Anreizes für die Betreuung des Kindes zu Hause entscheiden, bei den Akademikern acht Prozent.

Grüne und Linkspartei fordern die sofortige Abschaffung des Betreuungsgeldes. »Es schafft Fehlanreize und zementiert die ohnehin schon große Chancenungleichheit für Kinder in Deutschland«, heißt es in einer Mitteilung der Grünen zu der Studie. Auch SPD und Linkspartei kritisieren vor allem »Fehlanreize« und fehlende Entwicklungschancen für Kinder. »Mit dem Betreuungsgeld werden genau die Kinder aus den Kitas ferngehalten, die am meisten davon profitieren würden«, so der familienpolitische Sprecher der Fraktion der Linkspartei im Bundestag, Jörn Wunderlich. Von den negativen Folgen für Frauen ist in der öffentlichen Diskussion kaum noch die Rede. Dabei stehen sie außer Frage. Eine Untersuchung im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Auswirkungen des Betreuungsgeldes in Schweden, Norwegen und Finnland betrachtet. »Grundsätzlich zeigen die Studien aus allen drei Staaten, dass sich das Betreuungsgeld negativ auf die Gleichberechtigung der Geschlechter auswirkt, sowohl in Bezug auf eine gendergerechte Arbeitsteilung in Familien als auch auf die Gendergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt.« Nach einer Studie der OECD sank in Norwegen die Quote der am Arbeitsmarkt beteiligten Zuwanderinnen um 15 Prozent.

Die Konservativen stört das nicht. CSU-Politiker erklären das Betreuungsgeld mit Hinweis auf die hohen Antragszahlen zu einem Erfolgsmodell. »Die Haltung von Grünen und SPD ist eine Beleidigung aller Eltern mit Hauptschulabschluss oder mit Migrationshintergrund«, erklärte Gerda Hasselfeld, die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Das ist der übliche infame Trick, mit dem Konservative stets die bestehenden Hierarchien verteidigen. Sie unterstellen Kritikern die Geringschätzung derer, die Opfer der bestehenden Verhältnisse sind. Und wenn Kinder aus Migrantenfamilien nicht richtig Deutsch können, werden die Eltern dafür verantwortlich gemacht – nicht falsche Anreize etwa durch das Betreuungsgeld, das diese Kinder systematisch von Bildungseinrichtungen fernhält. Bei Sozialdemokraten ist die antifeministische und integrationsfeindliche Prämie unbeliebt. »Wir sind sofort bereit, das Betreuungsgeld wieder abzuschaffen«, sagte etwa die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Carola Reimann, nach Bekanntwerden der Dortmunder Studie. Aber mehr als solche Lippenbekenntnisse sind nicht drin. Einen Koalitionsstreit riskieren die Genossen nicht. Man halte sich an den Koalitionsvertrag, ließ Ministerin Schwesig verlauten. Wie ihre Parteifreunde hofft sie, dass das Bundesverfassungsgericht die Sache erledigt. Der Stadtstaat Hamburg hat im Frühjahr 2013 Klage gegen das Betreuungsgeld eingereicht – mit dem Argument, dass der Bund dafür nicht zuständig sei. Das Urteil wird im Laufe der Legislaturperiode erwartet.