Die neue Berechnung des Bruttoinlandsprodukts in der EU

Alles zählt

Bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts innerhalb der EU werden neuerdings auch informelle und illegale ökonomische Aktivitäten berücksichtigt. Insgesamt ändert sich dadurch jedoch wenig.

2014 sollte das Jahr des Aufschwungs werden. Wieder einmal. 3,2 Prozent globales Wachstum hatte die Weltbank im Januar für das laufende Jahr prognostiziert – fast 50 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Vor allem die entwickelten Nationalökonomien sollten Schrittmacher des Weges aus der Krise sein. In diesen werde die Wirtschaft in Schwung kommen »und das sollte in den kommenden Monaten ein stärkeres Wachstum in den Entwicklungsländern unterstützen«, hatte Jim Yong Kim, der Präsident der Weltbank, bei der Vorstellung der Prognose gesagt. Für die kommenden vier Jahre sollte das Wachstum der OECD-Länder durchschnittlich 2,4 Prozent betragen – ziemlich genau doppelt soviel wie in den vergangenen vier Jahren. Bereits ein halbes Jahr später war die Euphorie allerdings verflogen. Im Juni musste die Weltbank eingestehen, dass die Prognose vom Januar zu positiv ausgefallen sei, und die Zahlen deutlich sinken.
Besonders stagnierend stellt sich nach wie vor die Lage in Europa dar. Selbst die optimistische Weltbank hatte für die EU-Staaten zu Jahresbeginn nur mit einem Wirtschaftswachstum von kaum mehr als einem Prozent gerechnet, was nach Veröffentlichung der Zahlen für das zweite Quartal in der vergangenen Woche für einige Staaten aber auch schon wieder hinfällig sein dürfte. Erstmals seit fast zwei Jahren musste auch Deutschland einen Rückgang um 0,2 Prozent hinnehmen, während sich in Frankreich die Stagnation um ein weiteres Vierteljahr verlängerte. Zwar konnte die Bundesrepublik eine Erhöhung des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um etwa 80 Milliarden Euro zum Vorquartal vermelden, was einer Steigerung um knapp drei Prozent entspricht. 2013 betrug das BIP 2,738 Billionen Euro. Zu einer guten Nachricht taugte dies dennoch nicht, war dieser Anstieg doch lediglich der Umstellung der Berechnungsgrundlage geschuldet.

Erstmals nämlich wurde die Wirtschaftsleistung nach einer neuen EU-Richtlinie berechnet, die die Kommission 2010 beschlossen hatte. Das »Europäische System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung« (ESVG) enthält nunmehr auch einige bisher nicht erfasste Wirtschaftsbereiche. »Sex, Drogen und Waffen für das BIP«, versuchte die FAZ die Reform reißerisch zusammenzufassen. Wobei mit Sex hier Prostitution gemeint ist, die in Deutschland aufgrund ihrer Legalität im Gegensatz zu den vielen anderen EU-Staaten bereits seit längerem in den Statistiken auftaucht. Die Bruttowertschöpfung – vom Umsatz gehen die bereits andernorts veranschlagten Kosten für Miete, Kondome, Reizwäsche und andere Vorleistungen ab – liegt hier nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bei annähernd 7,5 Milliarden Euro, die zumindest teilweise steuerlich erfasst wurden.
Nun werden auch Erträge aus dem Zigarettenschmuggel und dem Verkauf von illegalen Drogen in das BIP einberechnet, deren Höhe auf reinen Schätzungen beruht. Immerhin hatte der deutsche Zigarettenverband durch das systematische Sammeln von Verpackungen aus dem Müll und anschließende Hochrechnungen die Zahl geschmuggelter und anschließend in der Bundesrepublik konsumierter Zigaretten auf drei Milliarden geschätzt, was nun von der Statistikbehörde übernommen wurde. Auf vier Milliarden Euro taxierte der Verband den Steuerschaden. Dagegen musste in Hinblick auf den illegalen Drogenkonsum auf Befragungen und Daten des Bundeskriminalamts zurückgegriffen werden, um überhaupt eine Basis zu schaffen.
Deutlich niedergeschlagen haben sich diese Aktivitäten aber bisher nicht. »Derzeit kann durch die Einbeziehung von Drogen- und Schmuggelaktivitäten voraussichtlich von einer Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts um insgesamt etwa 0,1 Prozent ausgegangen werden«, schreibt das Statistische Bundesamt in einer Pressemitteilung. Dass diese Zahl so gering ausfällt, liegt dabei weniger an der geringen Verbreitung von Drogen in der Bundesrepublik als daran, dass hier lediglich der Gewinn aus dem Handel zu Buche schlägt, wohingegen die Produktion und damit ein bedeutender Teil der Wertschöpfung andernorts stattfindet. Die Hoffnung, durch Kiffen die deutschen Bilanzen nachhaltig zu verbessern, wäre demnach eine Illusion.

Etwas stärker fällt die nunmehr verfügte Einbeziehung von Waffenkäufen ins Gewicht. Bisher waren diese nicht als Investition berücksichtigt worden, weil, wie der damalige stellvertretende Präsident des Statistikamts, Walter Rademacher, in einem Brief an den Chef der UN-Statistikbehörde schrieb, »deren Hauptzweck wie allgemein bekannt die Zerstörung von Werten« sei und ihr Erwerb somit kaum »als Kapitalbildung angesehen werden« sollte. Dabei könnten die Jahr für Jahr steigenden Waffenverkäufe der Bundesrepublik – Deutschland ist mittlerweile der drittgrößte Exporteur von Rüstungsgütern weltweit – hier einen auch statistisch zu erfassenden Wachstumsmarkt darstellen.
Den mit Abstand größten neuen Posten stellen aber die ebenfalls neu aufgenommenen Forschungs- und Entwicklungskosten dar, die bisher, wie in den Bilanzen der Betriebe üblich, als Vorleistungen und Abschreibungen galten. Nun werden sie zusätzlich als Kapitalbildung berücksichtigt, weil, so die Begründung der EU-Kommission, ihr Eigenwert, zum Beispiel durch den Verkauf von Patentrechten, weiter steige. Auf annähernd drei Prozent des gesamten BIP taxiert das Statistische Bundesamt diesen Bereich. Nur in Finnland und Schweden sind die Forschungs- und Entwicklungsausgaben mit jeweils um die 3,5 Prozent des BIP noch höher.
Einen bedeutenden Bereich stellt weiterhin die sogenannte Schwarzarbeit dar, die zwar in den einzelnen Wirtschaftssektoren unter dem Begriff »Schattenwirtschaft« einbezogen wird, deren Ausmaße aber weiterhin umstritten sind. So werden etwa in der Landwirtschaft Ertragspauschalen in Relation zur Nutzfläche berücksichtigt, um den Einsatz nicht angemeldeter Erntehelfer mitzuerfassen. Angesichts der weit auseinanderliegenden Schätzungen, die den jährlichen Umsatz der Schwarzarbeit zwischen 140 und 420 Milliarden Euro verorten und damit auf bis zu 15 Prozent des Gesamtumsatzes der deutschen Wirtschaft taxieren, bleiben die Zahlen dennoch mindestens nebulös. Die einzig verlässlichen Zahlen bieten hier die rund 95 000 Ermittlungsverfahren, die im vergangenen Jahr eingeleitet wurden.

Aber auch ohne die stärkere Berücksichtigung dieses Faktors haben die veränderten Berechnungsgrundlagen die Gesamtwirtschaftsleistung innerhalb der EU rechnerisch um 2,4 Prozent steigen lassen. Da man sich allerdings in den europäischen Institutionen bereits darauf verständigt hatte, auch die Zahlen der vergangenen Jahre bis ins Jahr 1991 auf Basis der neuen Richtlinie neu zu berechnen, schlägt sich dies nicht in einem nominalen Wirtschaftswachstum nieder. So besteht der einzige Nutzen der Neuberechnung derzeit darin, die Staatsschuldenquoten zu senken und mehr neue Kredite aufnehmen zu können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Dies erklärt, warum gerade Deutschland sich lange gegen die Richtlinie gewehrt hatte. »Dieser statistische Effekt spielt vor allem den Ländern mit hohen Schuldenständen in die Karten«, zitiert die FAZ ein Mitglied des Haushaltsausschusses aus den Reihen der Regierungskoalition. Als vielzitiertes Negativbeispiel dient hier der Fall Griechenlands. 2006 erhöhte das Land sein BIP um 9,6 Prozent durch Einbeziehung dieses Faktors – und kam so an neues Geld. Dass 25 Prozent des BIP aus Schwarzarbeit stammten, wie die griechische Regierung zunächst veranschlagt hatte, war damals von der EU nicht akzeptiert worden, obwohl der Wert von vielen Experten als realistisch eingeschätzt wurde.
Mit der Lebensrealität haben die Daten sowieso nicht viel zu tun. Nicht nur, weil wegen der Schwierigkeiten der Erfassung, wie Joseph Schumpeter bereits 1939 in seinem Buch über die »Konjunkturzyklen« geschrieben hatte, eine Größe wie das BIP lediglich ein »Produkt der Einbildung« ist. Auch über die Verteilung des Wohlstands, die Arbeitslosigkeit, ökologische Schäden und den Zustand der öffentlichen Leistung, sowie dem Zugriff aus sie gibt das BIP keinen Aufschluss. Lediglich der Auf- und Abschwung einzelner Nationalökonomien oder der kapitalistischen Produktionsweise im Ganzen werden ersichtlich. Die den Erfahrungen der vergangenen Jahre zum Trotz durch die Weltbank prognostizierten Anstiege von 3,4 beziehungsweise 3,5 Prozent für die kommenden beiden Jahre werden unabhängig von allen Berechnungsgrundlagen am Ende doch nicht herausspringen.