Asylsuchende in Eisenhüttenstadt

»In dieser Stadt kommen wir nicht weiter«

In der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt wohnen derzeit mehr als 1 000 Menschen. Die Einrichtung ist am Rande ihrer Kapazitäten. Die Jungle World hat die Heimbewohner besucht.

»Wir sind in Eisen«, ruft Mase aus dem Tschad ins Telefon. Mehrere Tage nachdem die Gerhard Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg geräumt worden war, hatten er und seine beiden Freunde in Berlin einen Asylantrag gestellt. Noch am gleichen Tag wurden sie in die Erstaufnahmestelle Eisenhüttenstadt gebracht. »Hier gibt es nichts rundherum«, tönt Mases Stimme verzerrt aus dem Handy, »bald wollen wir zurück nach Berlin.«
Die Zentrale Erstaufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Brandenburg befindet sich in einer ehemaligen Kaserne am Rande der Stadt an der polnischen Grenze. Anders als in manchen Bundesländern gibt es in Brandenburg reine Abschiebegefängnisse, von denen sich eines auf der riesigen Anlage des Erstaufnahmekomplexes befindet. Derzeit sind dort vier männliche Flüchtlinge inhaftiert. Doch auch die Bedingungen, unter denen die Bewohner in der direkt neben dem Abschiebegefängnis gelegenen Erstaufnahmestelle untergebracht sind, unterscheiden sich kaum von denen in Abschiebegefängnissen, in denen Flüchtlinge vollkommen isoliert und abgeschirmt von der Welt leben.
Als wir Mase und seine beiden Freunde anrufen, stellt sich heraus, dass sie bereits in ein Flüchtlingsheim in Neuruppin verlegt worden sind. Langsam entfernt sich der Zug von Berlin, es sind keine mehrstöckigen Häuser mehr zu sehen, sondern nur noch Schrebergärten. Bald rauschen rechts und links nur noch dunkelgrüne Kiefern vorbei. Nach anderthalb Stunden und Umsteigen in Frankfurt/Oder kommen wir schließlich in Eisenhüttenstadt, dem früheren Stalinstadt, an. Weiße, leuchtend gelbe Altbaufassaden strahlen uns entgegen. Es ist Freitag, 14 Uhr, der Imbiss am Bahnhof hat bereits geschlossen. Außer ein paar Flüchtlingen und einigen Schülern ist keine Menschenseele zu sehen.
Mit dem Bus durchqueren wir die menschenleere Innenstadt und gelangen nach 20 Minuten an den Stadtrand. An einem Waldstück steigen wir aus, in einem Niemandsland, umrandet von tristen Plattenbauten. Hier an der Peripherie Deutschlands landen Flüchtlinge aus Ländern, in denen Hunger und Krieg herrschen. Ihre Not bleibt für die Gesellschaft unsichtbar.
»Es gibt verschiedene Arten von Unsichtbarkeit. Manche Menschen werden nicht gesehen, weil sie sich verstecken, manche werden nicht bemerkt, weil sie in Gegenden leben, die man nie besucht, an der Peripherie, und manche Menschen werden nicht gesehen, weil man wegsieht oder durch sie hindurch. Was sichtbar wird, wenn man sich an den Rand begibt und die Umfangslinie abschreitet, sind nicht sie, sondern wir«, schrieb Carolin Emcke in ihrer Reportage über das Leben der Flüchtlinge am Rande von Eisenhüttenstadt in der Zeit.
Die Flüchtlinge, die hier untergebracht sind, werden entweder irgendwo in Deutschland aufgegriffen oder sie haben einen Asylantrag gestellt. In der Erstaufnahmestelle werden sie registriert, fotografiert, mit Nummern versehen und bis zu drei Monaten untergebracht, bis sie entweder ausgewiesen oder »weiterverteilt« werden. Das bundesweite Verteilungssystem für die Erstverteilung von Asylbegehrenden (EASY) ermittelt die Erstaufnahme-Einrichtungen in den Bundesländern und weist »quotengerecht« zu.
»Wo Du hinkommst, ist reiner Zufall, das ist wie beim Lottospielen«, sagt George Maita, ein Kurde aus Aleppo, den wir im Männerhaus der großen Anlage der Erstaufnahmestelle treffen, wo die zahlreichen Flüchtlinge in mehreren Häuser und Containern leben. Nach seiner Flucht aus Syrien stellte George im Juli seinen Asylantrag in Dortmund, weil seine Tochter dort studiert. Da sie ihn aber finanziell nicht versorgen kann und in einem Studentenwohnheim lebt, musste George in ein Heim. Aber damit, dass er in eine Einrichtung verlegt wird, die mehr als 400 Kilometer entfernt von der Stadt liegt, in der seine Tochter lebt, hatte George nicht gerechnet. Vor allem deshalb nicht, weil es auch eine Erstaufnahm-Einrichtung in Nordhein-Westfalen gibt. »Wir baten darum, dass sie mich in ein Heim verlegten, das sich in der Nähe meiner Tochter befindet. Aber sie warfen mich vom Westen in den Osten«, erzählt der gebrechliche ältere Mann, der nur noch ein Bein hat und fast blind ist. Man habe ihm geraten, nach Eisenhüttenstadt zu gehen, um die Prozedur zu beschleunigen. »Nun warte ich bereits zwei Monate hier.« George lässt sich seine Traurigkeit und Erschöpfung nicht anmerken, aber aus seinem Gesicht spricht Enttäuschung.
»Für die Verteilung der Asylbewerber gibt es keine klaren Kriterien. Nein, es gibt überhaupt keine Kriterien, ihre Herkunft und ihre familiäre Situation werden weder bei der Erstaufnahme noch bei der Weiterverteilung berücksichtigt«, kritisiert er. Ebenso kann er keine Logik in der Festsetzung des Datums für das Interview erkennen. Dabei werden die Asylbewerber nach ihrer Herkunft und den Gründen für ihre Flucht gefragt. Die Befragung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung im Asylverfahren. Auf Grundlage dessen wird nach der Prüfung der Asylgründe Asyl gewährt oder nicht. »Das Verrückte ist, dass Abdallah und ich hier am selben Tag angekommen sind. Aber Abdallah hatte sein Interview am 21. Juli und meines wurde auf dem 2. September gelegt«, erzählt George. Abdallah kommt aus Qamishli, an der Grenze zum Irak, und ist kein Christ wie George, sondern Muslim, die beiden sind eng befreundet. Abdallah sitzt mir gegenüber, aber seine Augen blicken ins Nichts. Einen Moment lang überlege ich, ob auch er blind ist.
Gabriel, ein junger Syrer aus Qamishli, bringt zwei Tassen mit heißem Kaffee und bietet uns eine Zigarette an. Gabriel kam mit einem Studentenvisum hier an und studierte drei Monate lang an der Humboldt-Universität in Berlin. »Als mein Visum ablief, warf mich der Hausmeister aus dem Studentenwohnheim. Daraufhin habe ich mich bei der Ausländerbehörde in der Turmstraße gemeldet und die haben mich hierhin gebracht. Aber ich langweile mich sehr hier, es gibt hier nichts zu tun außer Warten. Warten auf den Transfer. Wohin? Irgendwohin.«
Gabriel spricht sehr gut Englisch und fungiert im Männerhaus als Dolmetscher. Er bringt uns in einen Raum, in dem drei junge Männer aus Gaza untergebracht sind, die erst vor kurzem hier eingetroffen sind. Einer von ihnen, Mahmoud, sitzt in Wollpulli in seinem Bett, obwohl es 15 Uhr nachmittags ist und draußen die Sonne scheint. Vor wenigen Tagen ist er vor den Luftangriffen in Gaza über das Mittelmeer, die Türkei und Griechenland nach Deutschland geflohen. Mahmoud macht einen apathischen Eindruck. Sein Bettnachbar, Mohamed, setzt sich neben uns und reicht uns eine Dose Cola. Er zeigt uns Fotos von seiner Frau und seiner Tochter, die er in Gaza zurückgelassen hat. »Warum hast du sie nicht mitgenommen?« fragen wir. »Meine Frau ist taub und stumm«, antwortet er. Er starrt auf das Foto und verkneift sich die Tränen.
»Kommt rüber zum Eritrea-Haus«, sagen Freunde zu uns. Wir machen uns auf den Weg zu dem Haus am Eingang des Komplexes. Die jungen Männer aus Eritrea, die hier wohnen, warten bereits an der Tür des Hauses auf uns. Sie zeigen uns die beiden Räume, in denen sie schlafen. Jeweils 20 Flüchtlinge sind hier in die Zimmer gepfercht, die wie lange Gänge einer Krankenstation aussehen. Sie erzählen uns von einem Freund aus Eritrea, der aus dem Krankenhaus entlassen wurde, obwohl er noch nicht gesund war. Als wir gerade gehen wollen, fragt uns einer von ihnen, ob wir ihnen Deutsch beibringen können: »Wir würden gerne Deutsch lernen, aber es gibt nur einmal in der Woche eine Stunde Unterricht. Könnt ihr uns unterrichten?«

Mit 1 136 Personen, die derzeit in Eisenhüttenstadt und den beiden vor kurzem eröffneten Außenstellen untergebracht sind, platzt die Erstaufnahmeeinrichtung aus allen Nähten. Dieses Jahr rechnet das Land Brandenburg mit 6 000 Flüchtlingen, das sind doppelt so viele wie 2013. Die meisten Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt kommen derzeit aus Serbien, Eritrea und Syrien. Die Landesregierung Brandenburg hat zusätzliche Mittel für ihre Unterbringung in den Landkreisen angekündigt. »Die Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt ist – wie in allen anderen Bundesländern auch – von den stark angestiegenen Zugangszahlen geprägt. Allein im Juli kamen 568 Menschen zu uns, im selben Monat stieg die Zahl der Bewohner von 906 auf 1 136 Personen mit weiter stark steigender Tendenz«, sagte der Pressesprecher des brandenburgischen Innenministeriums, Wolfgang Brandt, der Jungle World.
Anfang August wurden bereits 100 Flüchtlinge in die Außenstelle des Lagers in Frankfurt/Oder verlegt. »Angesichts dieser Umstände kämpften die Mitarbeiter Tag für Tag darum, allen neu ankommenden Asylsuchenden noch eine Unterkunft und die erforderliche Versorgung zukommen zu lassen, was sich angesichts der Umstände immer schwieriger gestaltet«, sagt Brandt. Vielleicht erklärt dies, warum zahlreiche Flüchtlinge sich über die Behandlung durch die Krankenschwestern und die Sozialarbeiter beschweren. »Als ich hier zur Krankenschwester gegangen bin, weil ich Probleme mit meinen Augen hatte, hat sie mich angeschrien und gesagt: ›Geh’ raus und kauf dir deine Brille selber‹«, erzählt Ali Tabara*, ein 25jähriger Syrer, der aus Yarmuk geflohen ist, wo viele palästinensische Syrer leben. Dies habe ihn sehr verletzt.
Brandts Auskünften zufolge legt die Erstaufnahmeeinrichtung Wert auf einen vorsorgenden Gesundheitsschutz und bezahlt daher auf Grundlage von §6 AsylblG Hilfsmittel einfacher Ausführung wie Hörgeräte, Brillen und Prothetik sowie eine psychologische Betreuung. Der Pressesprecher räumt jedoch ein, wegen der wachsenden Zahl von Asylbewerbern in der Einrichtung nehme der Stress bei den Krankenschwestern und dem niedergelassenen Vertragsarzt zu. Außerdem werde die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Asylsuchenden angestrebt. Hierfür sei allerdings auch die Unterstützung aller anderen Akteure im Gesundheitswesen erforderlich.
Auch die Angestellten, bei denen Ali und seine beiden Cousins Kleidung zum Waschen abgeben wollten, hätten sie angeschrien, sagt Ali. Jetzt waschen sie ihre Klamotten selbst.
Unerträglich finden sie auch das Essen, das sie nicht anrühren. »Es gibt hier jeden Tag Reis mit Tomatensoße und wir haben das Gefühl, sie wärmen mindestens drei Tage lang das Essen vom Vortag auf«, so Ali. Daher würden er und seine Cousins sich selbst Lebensmittel von den 46 Euro kaufen, die sie alle zehn Tage erhielten. Das Geld reiche aber nicht aus, um satt zu werden. Die Kochplatte, die im Zimmer steht, haben sie sich selbst gekauft. Denn im Wohncontainer gibt es nichts außer der Toilette und dem Wasserhahn des Waschbeckens. Kochen in den Containern ist verboten, eine Tätigkeit, die die Flüchtlinge von ihrem tristen Alltag ablenken könnte.

Ali und seine Cousins sind durch den Krieg in Syrien aus ihrem Leben gerissen worden. Ali studierte dort Informatik, Hamza und Karim Medienwissenschaften. »Wir wollen weiter studieren. Aber in dieser Stadt kommen wir nicht weiter. Es gibt hier kein Leben«, sagt Ali trocken. Seit Monaten hat er nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen, die aus Yarmuk in den Libanon geflohen ist. Nach ihrer Flucht aus Syrien über Bulgarien seien sie zunächst nach Bayern gelangt, wo sie drei Tage in einem Flüchtlingsheim verbracht hätten. Dort habe es ihnen viel besser gefallen. »Das Essen war besser, wir bekamen mehr Geld und wurden respektvoll behandelt«, resümiert der Syrer und setzt seine schwarze Hornbrille auf. »Aber hier fühlen wir uns wie in einem Gefängnis. Wir wollen hier nicht wartend sterben.«
Zwei Somalier kommen herein. Einer zeigt auf seinen Bauch. Er habe schreckliche Schmerzen, die Krankenschwester des Lagers aber habe ihm versichert, mit ihm sei alles in Ordnung, und habe ihm keinen Krankenschein ausgehändigt. »Er hat Würmer und manchmal kommen sie nach oben, das tut sehr weh«, übersetzt der 17jährige Somalier Moez die Worte seines Freundes. Nach Brandts Aussagen kommt zwei Mal wöchentlich der Vertragsarzt in die Erstaufnahmestelle. Ein Arzt für 1 136 Personen – das ist absolut unzureichend. Vielleicht erklärt dies, warum die Krankenschwestern dem Somalier bisher noch keinen Krankenschein gegeben haben, der ihm ermöglicht hätte, von dem Amtsarzt oder aber einem anderen in Eisenhüttenstadt ansässigen Arzt untersucht zu werden. Der minderjährige Moez lebt inzwischen im Flüchtlingsheim in Fürstenberg. Am Anfang sei er auch hier gewesen, sagt er. »Im Supermarkt hat die Kassiererin mit einem Taschentuch das Geld von mir in Empfang genommen«, erzählt er lachend. Die anderen stimmen in sein Lachen ein, aber es ist ein bitteres, verzweifeltes Lachen.
Auf dem Rückweg vom Männerhaus kommen wir an der Wiese der Anlage vorbei, auf der Kinder von Flüchtlingen spielen. Ihre Mütter stehen in der Nähe und unterhalten sich. Eine junge Frau aus dem Kosovo kommt auf uns zu. Sie spricht perfekt Deutsch, da sie als Kind bereits in Deutschland gelebt hat. Sie erzählt uns von einer Beratung bei einer Sozialarbeiterin. »Ich dachte, diese Frau könnte mir helfen, aber sie sagte zu mir: ›Du kommst aus Serbien. Hier wirst du sowieso kein Asyl bekommen. Geh’ zurück nach Serbien.‹ Ich antwortete ihr: ›Ich komme aus dem Kosovo und wurde nur in Serbien geboren.‹ Sie kennen meine Geschichte doch gar nicht. Sie wissen gar nicht, was mir passiert ist«, erzählt sie empört. Sie habe das Gespräch nach kurzer Zeit abgebrochen, denn das sei gar keine Beratung gewesen, die Frau habe nur versucht, mehr Informationen aus ihr herauszubekommen und diese schriftlich festzuhalten. Außerdem habe sie sie davon überzeugen wollen, Asylstopp zu beantragen. »Ich vertraue den Mitarbeitern hier nicht mehr und gebe keine Informationen mehr über mich preis. Meine Freundinnen hatten mich schon vorgewarnt, aber ich dachte, diese sogenannte Beratung könnte mir helfen«, sagt sie wütend. Auch habe ihr die Sozialarbeiterin versichert, ein Besuch bei ihren Verwandten käme für sie erstmal nicht in Frage, ohne Gründe dafür anzugeben. Sie sei dann zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegangen. Die Mitarbeiter dort hatten sich bereit erklärt, ihr eine Besuchergenehmigung auszustellen. »Aber im Moment kann ich nicht fahren, denn ich bin krank geworden. Ich habe mich bei meiner Tochter angesteckt, denn hier sind so viele Kinder krank«, fügt sie hinzu und sieht auf einmal sehr müde aus.

* Name von der Redaktion geändert