Bericht von der türkisch-irakischen Grenze

Kurdische Verteidigung

Kurdische Kämpferinnen und Kämpfer in der Türkei und im Nordirak bündeln derzeit alle Kräfte, um den Vormarsch des Islamischen Staats aufzuhalten. Während immer mehr Menschen aus dem Irak und Syrien vor dem Terror des IS in die Türkei fliehen, verfolgt die türkische Regierung im Umgang mit den Islamisten skrupellos ihre Interessen. Eine Reportage von der türkisch-irakischen Grenze.

Bereits in Istanbul sind die Spuren des Krieges überall sichtbar. In der historischen Altstadt unterhalb der Süleymania-Moschee leben die aus Krisenregionen Geflohenen in verfallenden Altbauten. Ein kleiner Junge sitzt am Rand einer schmutzigen Pfütze und schmiert sich Schlamm auf den Kopf. Erwachsene schlendern gleichgültig vorbei, niemanden kümmert es. Sie alle haben schrecklichere Dinge gesehen als ein verdrecktes Kind mit Hospitalismus-Erscheinungen. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien, einige aus dem Irak, ein paar aus Afghanistan. Ob ihre Häuser noch stehen, wissen sie nicht. Zu Hause, das ist für sie in Al-Qamishli, an der türkischen Grenze, oder in Aleppo, einst einer blühenden, reichen Handelsstadt in Nordsyrien. Heute sieht es dort aus wie in Beirut während des Bürgerkriegs: eine zerbombte Altstadt und eine verarmte Bevölkerung.
Der 20jährige Ahmet hat dort seine Großeltern zurückgelassen. Sie wollten Aleppo nicht verlassen. »Mein Opa hat sein Leben lang Schuhe in der Altstadt repariert«, erzählt er traurig. Es klingt wie ein Märchen von einer nur noch in Traumvorstellungen existierenden Welt. »Heute ist sein Laden kaputt, manchmal bringen Nachbarn noch Schuhe nach Hause. Niemand hat Geld für neue.« Ahmet selbst trägt billige Sportschuhe, die er bei Straßenhändlern gekauft hat. Er wohnt jetzt seit Monaten auf den Istanbuler Straßen. Das Geld, das er aus Syrien mitgebracht hatte, ist längst aufgebraucht. Es gibt ein paar Hilfsorganisationen in der Stadt, die Kleidung und Schuhe an Flüchtlinge verteilen, doch zu denen will Ahmet nicht gehen. Viele davon haben einen islamistischen Hintergrund. »Das sind genau die Leute, die den Islamischen Staat und die al-Nusra-Front bei uns unterstützen. Denen bringen sie Waffen und wollen uns Flüchtlingen gegenüber wohltätig sein?« Er schnaubt verächtlich.
Das Viertel Beyazıt, in dem die Süleymania-Moschee steht, grenzt an das Viertel Fatih, in dem viele Islamisten wohnen. Die Moschee, die zwischen dem großen Basar und dem imposanten historischen Eingangstor der Universität Istanbul liegt, diente der islamistischen Bewegung vor allem in den neunziger Jahren, als sie noch in der Opposition war, als Ort für Massendemonstrationen. Noch heute sehen viele Beyazıt als ihr Territorium an. Freitag vergangener Woche wollte eine Gruppe von Studierenden der Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul gegen die Brutalität des Islamischen Staats (IS) demonstrieren. Kurz vor der Kundgebung tauchte eine Gruppe islamistischer junger Männer auf, die sich selbst »Muslimische Jugend« nennt. Die Männer trugen mit Nägeln gespickte Knüppel und die typische Uniform des IS: schwarze Tuchkleidung mit schwarzer Kopfkapuze.
Auf mehreren im Internet kursierenden Videos ist die gewalttätige Bande zu sehen, wie sie Tische durch den Raum schleudert, drohend mit den Knüppeln wedelt und »Allahu Akbar« kreischt. Im Hintergrund sind verängstigte türkische Studierende zu hören. Alle sind fassungslos, die Universität wird normalerweise streng bewacht. Wie konnten die bewaffneten Salafisten das Gebäude betreten? Wie konnten sie ungehindert wieder verschwinden, nachdem ein Studierender eine Kopfverletzung erlitt, weil ein Vertreter der »Muslimischen Jugend« eine Sodaflasche nach ihm geworfen hatte? Das Sicherheitspersonal hat offensichtlich entweder selbst Angst oder kein Interesse daran, sich diesen Leuten in den Weg zu stellen.
Prügelnde Islamisten unterstützen bereits seit einiger Zeit bei Demonstrationen die regulären türkischen Ordnungskräfte. Dort agieren sie mit herkömmlichen Polizeischlagstöcken und sind für ihre Brutalität bekannt. Sie operieren immer als zahlenmäßig überlegene Gruppe, isolieren ihre Opfer, schlagen und treten sie dann erbarmungslos krankenhausreif.

Im türkischen Internet wird derweil der Kampf um die nordsyrische Kurdenenklave Kobanê mit Entsetzen verfolgt. Auch vielen, die noch nie etwas von Kobanê gehört haben, ist plötzlich klar geworden, dass die seit Jahren hinter den Kulissen mit der PKK verhandelnde türkische Regierung gerade ihr PKK-Problem mit Hilfe des Islamischen Staats löst. Die nordsyrische YPG, ein PKK-Ableger, kämpft derzeit mit dem Rücken zur Wand gegen den IS. Die Salafisten sind bestens mit Waffen ausgerüstet und erhalten über die türkische Grenze hinweg steten Zulauf an Mitstreitern. Die YPG hat neben der Frauenbrigade auch Kinder und nicht ausgebildete Frauen bewaffnet. Sie haben nur Kalaschnikows, der IS kämpft mit schwerer Artillerie. Während die offizielle Weltpolitik die Freilassung der 49 türkischen Geiseln bestaunt, die Anfang Juni im türkischen Konsulat von Mossul in die Gefangenschaft des IS geraten waren, demonstrieren unbemerkt von der internationalen Medienwelt Tausende in der Türkei gegen die bigotte türkische Politik. Die Freilassung der Geiseln war ein Deal. Die türkische Tageszeitung Hürriyet meldete am 23. September, die Türkei habe im Austausch gegen die Geiseln die syrische Rebellengruppe Liwa al-Tawhid dazu bewegt, 50 Mitglieder des IS aus der »Kriegsgefangenschaft« zu entlassen. Ein Tauschhandel unter Freunden quasi.
Doch nichts, was die Türkei momentan tut, inklusive der Unterbringung von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, hat etwas mit herkömmlicher Diplomatie oder humanitärer Hilfe zu tun. Die türkische Regierung setzt clever und skrupellos die eigenen Interessen durch. Die erfolgreiche Befreiung der Geiseln kommentierte Präsident Recep Tayyip Erdoğan lapidar: »Egal wie, das erklär ich euch nicht, meine Bürger sind wieder zu Hause.« Als nächstes wird die Türkei am 2. Oktober darüber entscheiden, ob sie eine »Sicherheitszone« an ihren Grenzen einrichtet.
Ein seit Jahren von der türkischen Regierung gehegter Traum soll dadurch Wirklichkeit werden: Eine von der Türkei kontrollierte Enklave im Nordirak und in Nordsyrien. Die PKK-nahen Kurden werden vom Islamischen Staat bekämpft und sterben oder landen in türkischen Flüchtlingscamps. Der Islamische Staat kontrolliert die ölreiche Region Mossul und verscherbelt Rohstoffe billig an die Freunde in Ankara. Die internationale Allianz gegen den IS fliegt Luftangriffe und bildet kurdische Peshmerga aus. Vor allem mit der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) von Mesut Barzani versteht sich die türkische Regierung bestens. Die ist kriegsmüde und käuflich und deswegen das geringste kurdische Übel. Außerdem hat sie keine Skrupel, Christen und Yeziden – die gehören nicht zum Barzani-Clan – Elend und Vertreibung zu überlassen.

In Silopi, an der türkischen Grenze zum Nordirak, hat die kurdische Stadtverwaltung ein adrettes Flüchtlingscamp eingerichtet. Direkt am Eingang hängt das Konterfei von dem seit 15 Jahren auf der Gefängnisinsel İmralı einsitzenden Abdullah Öcalan. Im Camp leben vor allem yezidische Flüchtlinge, die vom IS vom Berg Sinjar an der irakischen Grenze zu Syrien vertrieben wurden. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des Camps haben die Gräuel des IS aus nächster Nähe erlebt. Fast in jedem Dorf wurden yezidische Männer auf den Dorfplätzen öffentlich hingerichtet und die Frauen und Mädchen verschleppt. Die Stimmung unter den Flüchtlingen ist bedrückt. Auf tagelangen Gewaltmärschen sind sie bis in die Türkei gelangt. Kämpfer der kurdischen YPG und der PKK hatten einen Korridor eingerichtet, durch den sie fliehen konnten. Derzeit müssen die Kurden alle Kräfte bündeln, um den Vormarsch des IS aufzuhalten, immer weniger Yeziden aus dem Sinjar-Gebirge schaffen es bis hierher. Die Kurden aus Syrien müssen selbst fliehen und bringen ihre Familien in die Türkei in Sicherheit.
Mehmet Eren, ein junger Anwalt, der ehrenamtlich im Camp arbeitet, ereifert sich. »Warum ist die PKK immer noch in Europa verfemt, während die Türkei die Islamisten logistisch unterstützt und dabei der ganzen Welt frech in das Gesicht lacht?« Die Kritik ist berechtigt, aber einseitig. Warum hat die PKK den sogenannten Friedensgesprächen zwischen dem türkischen Geheimdienst und dem gefangenen Öcalan vertraut? Was gerade passiert, ist unter anderem eine Folge der anführerzentrierten Doktrin der PKK.
Doch solche Fragen sind hier verpönt, die Camp-Leitung ist stramm auf PKK-Linie. In der Frauengruppe werden yezidische Frauen mit dem Katechismus der PKK, den Schriften Öcalans, vertraut gemacht. Leyla von der Frauenbrigade ist eine etwa 35jährige Kurdin, die bereits seit 15 Jahren in den irakischen Bergen lebt. Sie ist von Kopf bis Fuß ein Parteikader, die PKK und der bewaffnete Kampf sind ihr Leben. Sie erzählt den traumatisierten Yezidinnen davon. Doch deren Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das Schicksal der auf dem Berg Sinjar verbliebenen Verwandten. Leyla wird ungeduldig. Die PKK will, dass die Yeziden, die auch Kurden sind, kämpfen. »Die wollen alle nach Europa, wir wollen sie ausbilden, damit sie ihre Heimatdörfer vertei­digen«, sagt sie.
Hier in Silopi, wo die prokurdische Partei HDP die Stadtverwaltung leitet, fühlt sich Leyla sicher. In den vergangenen Monaten hat sie mit den Genossen von der YPG in Syrien gekämpft. »Es ist schwierig, zurückzukommen«, sagt sie. »Die Türkei versucht, uns daran zu hindern, die Grenze nach Syrien zu überqueren.« Das ist verständlich. Die Regierung hat ein Interesse daran, die kurdische Enklave Kobanê und mit ihr die PKK-nahe YPG fallen zu sehen.

An der Grenze zum Irak stehen viele LKW, die Güter in das Nachbarland liefern. Türkische Baumaterialien, türkischer Tee, Anisschnaps und vieles, vieles mehr. Durch die jahrzehntelangen Wirtschaftskrisen ist der Nordirak importabhängig. Der Lebensstandard ist dort zwar relativ hoch, die Produktivität jedoch niedrig.
Das Kloster Deer Alsayda im nordirakischen Alqosh ist menschenleer. Im Garten sitzt der Abt Gabriel K. Toma neben einem Peshmerga-Soldaten auf der Hollywood-Schaukel. An einer Säule lehnen zwei Kalaschnikows. Der IS war Mitte Juni fast bis Alqosh vorgedrungen. Alle Bewohner wurden in die Provinzhauptstadt Dohuk evakuiert. Nach dem amerikanischen Luftangriff zogen sich die Terroristen wieder nach Mossul zurück. Doch das garantiert der christlichen Bevölkerung keine Sicherheit. Der Abt, Oberhaupt aller chaldäisch-katholischen Kirchen im Nordirak, ist desillusioniert. Wenn der IS wieder vorrücken sollte, muss er das Kloster verlassen. »Ich bin sonst der Erste, den sie hier hinrichten«, sagt er lakonisch. Am Sonntag, den 23. Juni, ermordeten radikal­islamische Terroristen den Franziskanerpriester François Murad. Er wurde im nordsyrischen Gassanieh in aller Öffentlichkeit geköpft. Dem Gefesselten wurde vor einer grölenden Menge mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten und der Kopf abgetrennt. Der katholische Priester hatte im örtlichen Kloster Schutz gesucht, das von der Terrorgruppe Jabhat al-Nusra angegriffen wurde. Im August war bereits der italienische Jesuitenpater Paolo Dall’Oglio ermordet worden. Vor einem Jahr wurden zwei Bischöfe aus Aleppo entführt, von ihnen fehlt seitdem jede Spur.
Der Peshmerga-Kämpfer trinkt seinen Tee aus und springt von der Hollywood-Schaukel. Er muss zu seinem Posten zurück. Die assyrischen Christen haben mittlerweile eine eigene Miliz gegründet. Sie trauen den Kurden nicht, die in der Vergangenheit zwar Schutz versprochen haben, aber vor dem vorrückenden Islamischen Staat zurückgewichen sind. Von Alqosh nach Mossul sind es nur 30 Kilometer. Die Strecke wird von den Peshmerga »gesichert«, aber was sollen ein paar Männer mit Kalaschnikows gegen eine bestens ausgerüstete Mörderbande ausrichten, die in Stoßtrupps mit schweren Geschützen auf ihren Pickups angerast kommt und alles plattwalzt, was sich ihr entgegenstellt? Abt Gabriel K. Toma ist wie die meisten Christen der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft eine Schutzzone einrichten und militärisch verteidigen müsse.
Alqosh ist heute eine adrette Kleinstadt mit hübschen Bungalows in blühenden Gärten. Die Stadt liegt in der Ninive-Ebene, einer von Kurden und assyrischen Christen bewohnten Region nördlich von Mossul.
Evan Alqasnoyan ist 24 Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern in Alqosh und hat vor zwei Monaten, kurz nach dem Vormarsch des IS, geheiratet. Das junge Paar musste damals kurzzeitig nach Dohuk ziehen, weil es in Alqosh zu gefährlich war. Evan hat seine Frau an der Universität von Mossul kennengelernt. Beide studierten dort Anglistik und hatten es nicht leicht. Bereits seit 2003, als die UN-Schutzzone im Irak nach der Intervention der USA aufgehoben wurde, grassieren salafistische Bewegungen in der Region. Evan holt seine Kalaschnikow aus dem Schlafzimmer, ein neues Modell, das er stets griffbereit unter dem Bett liegen lässt. »Der IS liebt Überraschungsangriffe. Wenn es ihm gelingt, die Peshmerga zu überrennen und bis Alqosh zu gelangen, ohne dass die Peshmerga uns warnen können, dann müssen wir uns verteidigen.« Es ist nicht recht vorstellbar, wie das gelingen sollte. Der Plan der Handvoll Menschen, die noch in Alqosh ausharren, besteht darin, den Rückzug aus der Stadt zu erkämpfen. Das bedeutet, ein Teil opfert sich, damit die übrigen fliehen können. Evans Mutter serviert lächelnd Tee, im Garten spielen Evans kleine Neffen. Die stoische Ruhe dieser Menschen ist bewundernswert.
Die Christen in der Region sind Vertreibung gewohnt. Schon unter dem Regime Saddam Husseins waren Kurden, Christen, Yeziden und Schiiten das Ziel von Angriffen. Der Regierung in Bagdad traut bis heute niemand im Nordirak über den Weg. Ob Maliki oder ein anderer an der Macht ist, von der Zentralmacht wird der Nordirak mit seinen reichen Ölquellen in Mossul und Kirkuk vor allem als Geldquelle gesehen. Evan würde, wie viele seiner Generation, am liebsten auswandern. Nach Europa, Kanada oder in die USA. Momentan ist es für Iraker jedoch fast unmöglich, ein Visum zu bekommen.
In der Provinzhauptstadt Dohuk ist in den vergangenen Jahren der Wohlstand gewachsen. Moderne Wohnblocks sprießen überall, die Baustellen werden momentan von Flüchtlingen bevölkert. Etwa eine halbe Millionen Menschen sind in den vergangenen drei Monaten hierher geflüchtet. Vor allem Christen aus der Ninive-Ebene und Yeziden aus dem Sinjar-Gebirge. Die Verfolgung von Minderheiten hat wenig mit der Religion zu tun, vielmehr ist sie ein Merkmal extremistischer Bewegungen mit faschistoiden Zügen. Und eine solche ist der Islamische Staat zweifelsohne, zumal er international operiert und Psychopathen aus der ganzen Welt anlockt. Den Christen wird als Angehörigen einer Buch­religion übrigens vom IS die Wahl gelassen, zu konvertieren, eine Steuer zu zahlen oder zu verschwinden. Alle entscheiden sich für Letzteres, denn zahlen bedeutet nur einen Aufschub des Unabwendbaren: Tod oder Vertreibung.