Der Kampf der Kurden im nordsyrischen Kobanê

Allein gegen den Terror

Im nordsyrischen Kobanê sind die Kurdinnen und Kurden in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat auf sich allein gestellt. Die konservative türkische Regierung versucht, von dem Konflikt zu pro­fitieren.

In einem Video auf Youtube ist Leyla, eine Kämpferin der syrisch-kurdischen Miliz YPG im Krankenhaus ein paar Stunden vor ihrem Tod zu sehen. Sie wurde beim Kampf um Kobanê (Jungle World 40/2014) schwer verwundet. Sie singt davon, dass ihr Sterben nicht sinnlos sei. Sie kämpfte für eine autonome Zone in Syrien, in der die Kurdinnen und Kurden sich selbst verwalten können. »Unterstützt uns, wir wollen ein Modell für den Nahen und Mittleren Osten sein. Teilt dieses Video, es ist unserem Kampf gewidmet«, heißt es im Video. Es hinterlässt ein beklemmendes Gefühl: weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit tobt in Nordsyrien ein erbitterter Kampf. Es ist erschütternd zu sehen, wie in den Mainstream-Medien die deutschen Waffenlieferungen an die Peshmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) von Massoud Barzani als ernsthafte Maßnahme präsentiert werden. Die YPG und die PKK waren es, die die Yeziden vom Berg Sinjar im Nordirak durch Rojava leiteten. Rojava ist eine Region in Nordsyrien, die noch von den Kurdinnen und Kurden kontrolliert wird, die Stadt Kobanê liegt im Zentrum Rojavas. Die KDP beteuerte stets, Christen, Yeziden oder derzeit eben die YPG unterstützen zu wollen, hat sich aber oft zurückgezogen, sobald der Islamische Staat (IS) auftauchte. Die KDP nennt sich zwar demokratisch, doch schon immer ging es Barzani vor allem um seine eigene Bereicherung und seinen Machterhalt.
Ende der neunziger Jahre schaute die KDP seelenruhig zu, wie die Truppen Saddam Husseins das Gebiet der mit ihr rivalisierenden kurdischen Partei »Patriotische Union Kurdistans« (PUK) von Jalal Talabani durchzogen und die Peshmerga vor sich her trieben. Der 2006 hingerichtete ira­kische Diktator hatte eine Absprache mit Barzani getroffen, unterstützte ihn und machte mit ihm Geschäfte beim Ölschmuggel, um das Embargo zu umgehen. Es kam dann zu einem Friedensvertrag zwischen KDP und PUK. Die PUK kontrolliert seither den an den Iran grenzenden Teil des Nordirak, ihre Hauptstadt ist Suleymaniah. Die KDP sitzt in Selahaddin bei Erbil. Beide Parteien haben sich immer wieder mit anderen Partnern gegen­einander, gegen die irakische Regierung oder gegen die der Nachbarländer verbündet. Derzeit will die KDP die Verbindungen zur türkischen Regierung bewahren. Deswegen kooperiert sie anscheinend beim Kampf gegen den IS. Eine Abkehr von dieser Politik ist aber jederzeit möglich. Selbst die Christinnen und Christen, die zu Tausenden aus der Ninive-Ebene im Nordirak vertrieben wurden, haben mittlerweile eine eigene Miliz gegründet, weil sie der KDP beim Kampf gegen den IS nicht vertrauen.

Der IS hat Kobanê fast umzingelt. Die Jihadisten greifen mit schwerer Artillerie von drei Seiten aus an, die Kurden haben nur noch die türkische Grenze im Rücken, von der aus sie nicht angegriffen werden. Hunderte Kurdinnen und Kurden, die der YPG von der Türkei aus zur Hilfe eilen wollten, wurden von türkischen Sicherheitskräften mit Tränengas daran gehindert. Die türkische Regierung behauptet, den IS nun bekämpfen zu wollen. In Wahrheit wartet sie wohl auf eine Gelegenheit, um eine »Pufferzone« in Syrien einzurichten. Die Türkei würde dann das Kurdengebiet kontrollieren und der IS könnte sich ruhig und friedlich nach Mossul und Raqqah zurückziehen.
Die YPG in Syrien hat bislang militärisch mehr geleistet als die irakisch-kurdischen Peshmerga und die US-amerikanische Luftwaffe zusammen. Es gelang ihr kurz vor dem islamischen Opferfest am Freitag voriger Woche, einen Panzer und Artillerie vom IS zu erbeuten. Hunderte Kämpfer des IS sollen dabei getötet worden sein. Dieser Erfolg hat die Kurdinnen und Kurden zunächst angespornt, sich weiter mit aller Kraft zu widersetzen. Doch es gibt keinen Anlass zu Euphorie. Auch die Kämpfer des IS sind Überzeugungstäter.
Die Türkei beginnt jetzt allerdings unter internationalem Druck, die Einreise von Jihadisten aus dem Ausland strenger zu überwachen. Ein Jihadist aus Deutschland erzählte der Süddeutschen Zeitung und dem WDR-Magazin Monitor, dass die Polizei in Kayseri, wo einer seiner Onkel wohne, die Busbahnhöfe kontrolliere. Das wird Jihadisten aus der Türkei allerdings nicht daran hindern, die Grenze nach Syrien zu überqueren. Im türkischen Netz kursieren angesichts der US-amerikanischen Luftangriffe jetzt schon Aufrufe, gegen die Einmischung aus dem Ausland vorzugehen. Es ist exemplarisch für die Denkweise von Jihadisten, die eigene Einmischung in andere Länder als religiös motivierte Heldentat zu bejubeln und gleichzeitig Menschen grausam zu ermorden, weil sie der Zivilbevölkerung in Syrien Hilfsgüter bringen. Alan Henning aus Großbritannien, der als freiwilliger Helfer einen Hilfskonvoi für syrische Flüchtlinge begleitete, wurde am Freitag vergangener Woche ermordet. Einen Tag vor dem Opferfest, einem der höchsten muslimischen Feiertage. Sicher hat Abu Bakr al-Baghdadi in Mossul die Hinrichtung der Geisel als heroischen Auftakt des IS-Schlachtfestes gerühmt.

Die kurdischen Nachrichtenagenturen Firat (Euphrat) und Dicle (Tigris) bezeichnen die Schlacht um Kobanê als historisch. Sie ist es auch in vielfacher Hinsicht. Die YPG hat es geschafft, innerhalb der Kurdengebiete erstmals ein nicht von einem Clanchef geleitetes autonomes Gebiet zu begründen. Zentral dafür ist etwa der derzeitige gleichberechtigte Kampf von Männern und Frauen innerhalb der YPG. Darin zeigt sich der Wunsch nach einem anderen Rollenmodell für die Frauen in der Region. Die türkische Soziologin Nazan Üstündağ hat in Rojava geforscht und kommt zu dem Ergebnis, dass dort beispiellose dezentrale kommunale Strukturen entstanden sind. Die Türkei wird seit Jahren von vielen Journalisten und Regierungsvertretern hinsichtlich ihres angeblichen gesellschaftlichen Erfolgsmodells vollkommen überbewertet. In der Türkei ist die politische Macht komplett in der Hand der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) gebündelt. Sie verficht ein islamisch-konservatives Rollenmodell, Kopftücher wurden gerade an Schulen erlaubt, Tattoos und Piercings hingegen verboten. Begründet werden diese Repressalien und konservativen Maßnahmen immer von grinsenden Politikern, die milde verkünden, dass sie entscheiden, was gut für ihr Volk ist und was nicht. »Für das Volk trotz des Volkes« war bereits vor 100 Jahren ein Slogan der Jungtürken; leider hat die Türkei eine lange Tradition der oligarchischen Bevormundung. Bereits die Kemalisten haben so regiert, jetzt weiß die AKP, was am besten für alle Bürgerinnen und Bürger der Türkei ist.

Das sogenannte Kurdenproblem versucht die türkische Regierung gerade im Rahmen ihrer Politik als regionale »Ordnungsmacht« in sunnitischen Gebieten mit Hilfe des Islamischen Staats zu lösen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündete vor zehn Tagen vor dem türkischen Unternehmerverband ganz offen, dass die Türkei ihre Grenze schützen werde und damit gleichzeitig kontrollieren wolle, was in Nordsyrien und dem Nordirak politisch und wirtschaftlich vor sich geht. »Wir respektieren die Autonomie unserer Nachbarn«, sagte er großspurig, »aber wir werden entscheiden, was in der Grenzregion passiert.« Die türkische Wirtschaftswelt wurde süffisant darauf hingewiesen, dass sie sich entscheiden müsse, ob sie davon profitieren oder verlieren wolle. »Wer uns unterstützt, wird gute Geschäfte machen, wer es nicht tut, wird große Nachteile verzeichnen«, so Erdoğan. Die Großindustriellen saßen mit saurer Miene in der ersten Reihe, aber sie kuschen derzeit alle. Und nicht nur sie. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Istanbul erklärte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, dass man sich nicht mehr in Krisengebieten einmische. Das habe ja in der Vergangenheit schon nicht funktioniert. Jetzt müsse Europa den lokalen Widerstand unterstützen. Vor elf Jahren hatte die Intervention im Irak eine Auflösung der bis dahin bestehenden UN-Schutzzone zur Folge gehabt. Al-Qaida und andere Jihadisten hatten zuvor eine untergeordnete Rolle gespielt. Doch durch die offenkundig auf falschen Vorwürfen beruhende militärische Einmischung wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Sich jetzt hinzustellen und zu sagen, »ihr müsst euch selbst helfen«, ist nicht nur zynisch, sondern politisch kurzsichtig. Die Regierung der Türkei müsste täglich internationale Schelte bekommen, weil sie die Konflikte im Nachbarland kräftig schürt, stattdessen wird sie für ihre Flüchtlingspolitik gelobt. Der Kampf um Kobanê kann von den Kurdinnen und Kurden aufgrund ihrer unzureichenden Bewaffnung kaum gewonnen werden. Dieser Ort im Norden Syriens ist tragischerweise eine der wichtigsten Keimzellen für eine gesellschaftliche Utopie in der Region. Sollte der IS dort siegen und die Türkei ihre Pufferzone einrichten, entstünde eine extremistische Enklave unter Protektion eines Nato-Partners, eine komplett absurde politische Konstellation mit der EU als Nachtwächter am Rande des Geschehens.