Horst Herold und seine Fahndungsmethoden

Der negative Rasterfahnder

Horst Herold war von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamts. Als staatsgläubiger Linker betrieb er die Computerisierung der Fahndungsmethoden, die heute noch die Polizeiarbeit prägen.

Als in der vergangenen Woche im bayerischen Rosenheim ein Pensionär seinen 91. Geburtstag feierte, interessierte sich dafür kein Schwein. Dabei pflegt der Jubilar einen unkonventionellen Lebensstil: Als einziger Zivilist verbringt er seit etwa 35 Jahren seine Tage und Nächte auf dem Gelände einer Kaserne der Bundespolizei. Mit wohlwollender Duldung des Grundstückeigners hat er dort ein Einfamilienhaus errichten lassen, in dem er bisweilen Betrachtungen sozial- und rechtsphilosophischer Art anstellt. Nahezu verbissen kreisen dann seine Gedanken um Gesellschaft, Staat und deren Feinde. Unterbrochen werden diese Phasen offenbar durch solche der Melancholie des Lebenslänglichen. »Ich bin der letzte Gefangene«, soll er einmal bekannt und diese Feststellung durch die kryptischen Worte »der RAF« abgerundet haben.

Wer ist dieser rätselhafte Gefangene? Nun, es ist der promovierte Jurist Horst Herold, von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), eine prominente Persönlichkeit der »alten« Bundesrepublik; ein Held des bewaffneten Rechtsstaats, der ihm wohl nicht zu Unrecht die Niederschlagung der bewaffneten Rebellion der Roten Armee Fraktion (RAF) mitverdankt.
So trist wie in der vergangenen Woche ging es zu den runden Geburtstagen des Mannes auf dem Rosenheimer Kasernengelände nicht zu. Dann erschienen nämlich die Hagiographen und lauschten den Erzählungen des eigensinnigen Eremiten, um ihm daraus später in den Massenmedien für Gebildete denkwürdige Ehrenkränze zu flechten: Als »Kriminalphilosoph« verehrte ihn die Autorin Dorothea Hauser anlässlich seines 80. Geburtstags 2003 in der Zeit und vergaß auch nicht, Herold als Ideengeber »für das, was heute Internet heißt«, und als »frühen Anwalt des Datenschutzes« auszurufen. Zum 90. Geburtstag vor einem Jahr übernahm Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung diese Phrasen und verlieh verbal noch einen Orden: »Dr. jur. Horst Herold, der wohl beste Polizist, den Deutschland je hatte.« Das erinnert an US-amerikanische Polizeiserien, in denen manchmal ein engagierter Cop die Unterstützung seiner Kollegen durch die Versicherung erfährt: »Er ist ein guter Polizist.«
Horst Herold war ein solcher Polizist. Er verteidigte den spätbürgerlichen deutschen Staat um den Preis der Aufhebung beanspruchter Bürgerlichkeit. In den siebziger Jahren betrieb er die Computerisierung der Fahndung nach damals organisiert agierenden Staatsfeinden. Diese hob, geographisch, dann zusätzlich personell definierten Raster- und Schleierfahndungen die ideologisch postulierte Autonomie der Staatsbürger gegenüber der Staatsmacht de facto auf. Hatten bis zu dem Zeitpunkt nicht nur erklärte Konformisten die wundersame Wandlung der Deutschen von Untertanen in mündige Bürger abfeiern können, fanden sich nun ausnahmslos alle als zumindest potentielle Träger von ermittlungsrelevantem Datenmaterial wieder. Das unter Herolds Anleitung entwickelte Fahndungssystem »Personen, Institutionen, Objekte, Sachen« (Pios) verarbeitete während des »Deutschen Herbstes« im September und Oktober 1977 mehr als 70 000 polizeirelevante Daten.
Das erscheint lächerlich wenig angesichts von Milliarden derzeit tagtäglich allein durch die NSA verarbeiteter Daten. Aber wie heutzutage das Vorgehen der NSA den gleichermaßen verbündeten wie konkurrierenden Diensten anderer Staaten als Ansporn gilt, so waren auch seinerzeit die von Herold ersonnenen Neuerungen offenbar bahnbrechend für das Polizeigewerbe. Zum 80. widmete Dorothea Hauser im erwähnten Artikel dem Geburtstagkind auch diese Anerkennung: »Die New Yorker Polizei ist mit der Kriminalgeographie erfolgreich und einige sehen inzwischen sogar, dass das Prinzip der negativen Rasterfahndung Persönlichkeitsrechte nicht verletzt, sondern schont.«

Kriminalgeographie war ein von Herold zu Beginn seiner BKA-Karriere verwirklichtes Anliegen: Sowohl Tatorte als auch Herkunftsorte der Täter sollten, falls nicht sowieso identisch, in ein polizeirelevantes Verhältnis gesetzt werden. So etwas wird heutzutage nicht nur in New York, sondern fast überall getan. Das Polizei- und Ordnungsrecht deutscher Bundesländer beispielsweise kennt sogenannte gefährdungsrelevante Orte, an denen die Polizei und die Ordnungsämter ohne jegliche konkrete Begründung berechtigt sind, Personen zu überprüfen. Und auch im zivilen Bereich der Kreditvergabe weiß man inzwischen um geographisch kritische Bereiche. Die Schufa erstellt ihre gefürchteten Scores bereits seit etwa 20 Jahren auch anhand von Wohnorten der Kredit- und Kaufwilligen.

Die negative Rasterfahndung freilich ist so etwas wie die Umkehrung der Grundsätze des traditionellen bürgerlichen Kriminalrechts, weil sie zwar die Trennung von Schuldigen und Unschuldigen, von Verdächtigen und Unverdächtigen als Ergebnis, aber nicht als Voraussetzung der Polizeiermittlungen definiert. In Hausers Geburtstagsprosa liest sich das so: »Der Computer wirkt dabei wie ein riesiger Radiergummi, der alle uneinsehbar gegeneinander gespielten Daten löscht, die nicht ins Raster passen. Ein einziges Mal ist sie unter Herolds Ägide durchgeführt worden: Im Februar 1979 wurde der gesamte Großraum Frankfurt durchgerastert, übrig blieben zwei Leute. Einer war ein gesuchter Drogenhändler, der andere das RAF-Mitglied Heißler.« So einfach geht das: zwei Schädlinge erwischt und Millionen Unschuldige entlastet.
Ein Computer als »riesiger Radiergummi« vermag wohl auch historisches Wissen zu löschen. Die negative Rasterfahndung als Trennung der zu Identifizierenden vom Rest wurde im Zweiten Weltkrieg auch in den von Deutschen besetzten osteuropäischen Ländern praktiziert. Etwa so: Eine Gruppe männlicher Gefangener wurde in das Quartier der SS oder der Gestapo gebracht. Der Befehl »Hosen runter« ertönte, in der Folge wurden die Unbeschnittenen von den Beschnittenen unterschieden und freigelassen. Was mit den anderen geschah, weiß man.
Es wäre nun bequem, das erfolgreiche Wirken Horst Herolds ebenso wie die Peinlichkeiten seiner Geburtstagsclaqueure unter der Rubrik »Fortwirken des NS in der Demokratie« abbuchen zu können. Aber der Eremit auf dem Kasernengelände war stets ein Linker, einer, dessen Denken seine Hagiographin Dorothea Hauser »zwischen Utopismus und unorthodoxem Marxismus« einordnet. Bereits 1997 hatte sie ein Büchlein mit dem Titel »Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes« veröffentlicht, eine politisch-affirmative Schrift, die gleichwohl einen gewissen Informationsgehalt beanspruchen darf, zumindest was Herold betrifft.

Schon als Kind kam der 1923 Geborene über den »Kommunistischen Jugendverband« mit der stalinistischen Staatsgläubigkeit in Kontakt. Während des NS und seiner Wehrmachtstätigkeit eher auf Distanz zu den Nazis, trat er bald nach 1945 der SPD bei und hielt den damaligen Jusos Vorträge über Dialektischen Materialismus. Dieser Ersatzreligion der staatsorientierten Arbeiterbewegung, die anstelle notwendiger Emanzipation von Arbeit, Geld und Staat die »Einsicht in die Notwendigkeit« und die entsprechende Unterwerfung predigte, sollte er verhaftet bleiben, auch als oberster Polizeifunktionär der Bundesrepublik. Schon als früher Computerfreak verstand Herold Kybernetik als »Fortschreibung des Dialektischen Materialismus, seine Konkretisierung und Mathematisierung«, wie ihn Hauser zitiert.
Heutzutage wird Herold auch in den USA als Pionier des Data Mining geschätzt. Hat man einst die Idee der Kriminalgeographie dankbar adaptiert, revanchiert man sich heute gern mit der Weitergabe von Erkenntnissen aus der »voraussehenden Polizeiarbeit« (predictive policing) an die deutschen Kollegen beziehungsweise Konkurrenten. Der Konzern IBM offeriert internationalen Interessenten eine Software-Palette namens »Ana-lyst’s Notebook« mit der Möglichkeit, »Netze, Muster und Trends in immer größeren Mengen strukturierter und unstrukturierter Daten zu erkennen und relevante Informationen weiterzugeben, mit denen sich kriminelle, terroristische und betrügerische Aktivitäten ermitteln, vorhersagen und unterbinden lassen«. Das ist sicher ganz in Herolds Sinn.