Nach den Wahlen in der Ukraine

Der Winter wird kalt

Nach den Parlamentswahlen in den von der Zentralregierung kontrollierten Gebieten der Ukraine sind proeuropäische Abgeordnete in der Mehrheit. Im Osten der Ukraine gehen die Kämpfe weiter.

Dass Parlamentswahlen auch dann stattfinden können, wenn in einem Teil des Landes bürgerkriegsartige Zustände herrschen, hat die Ukraine am vergangenen Sonntag anschaulich demons­triert. Der scheidende Vorsitzende der Kommission der Europäischen Union, José Manuel Barroso, bezeichnete den Wahlausgang gar vorschnell als »Sieg der Demokratie«. So viel Zweckoptimismus mag dem Umstand geschuldet sein, dass proeuropäische Kräfte in der Rada nun eine eindeutige Mehrheit bilden. Für den amtierenden ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bietet die neue Parlamentszusammensetzung theoretisch ebenfalls eine solidere Basis für seine weiteren politischen Vorhaben, allerdings haben die Wahlen Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk enorm gestärkt und Poroschenkos unumstrittenen Führungsanspruch wenn nicht in Frage gestellt, so doch relativiert.
Nach Auszählung von 85 Prozent der Stimmen liegt die »Volksfront« von Arsenij Jazenjuk mit 22 Prozent etwa einen halben Prozentpunkt vor dem »Block Poroschenko«. Durch die Parteilisten wird die Hälfte der Abgeordneten der Rada bestimmt. Poroschenkos »Block« konnte zusätzlich etliche Direktmandate gewinnen, unter anderem erhält so auch der Sohn des Präsidenten, Aleksej Poroschenko, einen Sitz. Mit elf Prozent der Stimmen folgt überraschenderweise die christdemokratische »Selbsthilfe« des Lwiwer Bürgermeisters Andrej Sadowyj, danach mit etwas weniger als zehn Prozent der »Oppositionelle Block«, dem im Wesentlichen ehemalige Anhänger der »Partei der Regionen« angehören, die dem nach Russland geflüchteten ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch als Hauspartei diente. Die »Radikale Partei« von Oleh Ljaschko, der sich als ukrainisches Pendant des in Russland erfolgreichen rechtspopulistischen Politclowns Wladimir Schirinowskij versucht, kam auf etwas über sieben Prozent. Zur politischen Revanche reichte es für die ehemalige »Gasprinzessin« Julia Timoschenko mit unter sechs Prozent nur knapp, immerhin nahm ihre Partei »Batkiwschtschina« die Fünf-Prozent-Hürde, woran die Partei Swoboda von Oleh Tjahnybok knapp gescheitert war. In die Rada gelangen dennoch mehrere ihrer Vertreterinnen und Vertreter über Direktmandate, einige ihrer skandalträchtigsten Kader, beispielsweise Irina Farion, müssen sich in den kommenden Jahren allerdings mit außerparlamentarischen Aktivitäten begnügen.

Noch am Wahlabend triumphierte Poroschenko mit der Aussage, das »Volksgericht« habe der Kommunistischen Partei das »Todesurteil« erteilt, da erstmals seit 96 Jahren im ukrainischen Parlament keine Kommunisten vertreten seien. »Die Ukrainer versetzten der fünften politischen Kolonne einen entscheidenden Schlag!« ließ der Präsident verlauten. Weniger als vier Prozent der Stimmen sind für die ukrainischen Kommunisten ein niederschmetterndes, aber vorhersehbares Ergebnis. Anders als ihre früheren Koalitionspartner von der ehemaligen »Partei der Regionen« verabschiedeten sich die Kommunisten zu spät von der Idee, die Parlamentswahlen geschlossen zu boykottieren, als dass sie ihren Rückstand mit einem wenigstens halbwegs überzeugenden Wahlkonzept hätten aufholen können.
Ohnehin kommt es im ukrainischen Parlamentsgeschäft vor den Wahlen letztlich weniger auf die programmatischen Aussagen an als auf rechtzeitige Absprachen mit den für Lobbyarbeit zuständigen Kräften. Die neue Rada mag zwar ihren Blick in erster Linie nach Europa richten, an ihrer Funktionsweise als Plattform für die Interessen der ukrainischen Oligarchie wird sich aber kaum etwas ändern. Allerdings – denn auch das gehört zu den Auswirkungen der Maidan-Proteste – bieten sich für Nichtregierungsorganisationen beispielsweise bei der Ausgestaltung neuer Gesetze wesentlich mehr Möglichkeiten, qualifizierte Expertenmeinungen geltend zu machen, als im postsowjetischen Raum gemeinhin üblich.
Verbal und visuell spielt der Abschied von der sowjetischen Vergangenheit und ihrer Symbolik in der ukrainischen Politik eine herausragende Rolle. Die Kommunistische Partei sah sich überdies mit der Drohung eines Verbots konfrontiert, was sich mit ihrer Wahlniederlage vermutlich vorerst erledigt hat. Überall im Land verteilte Lenin-Statuen gerieten bereits auf dem Höhepunkt der Maidan-Proteste im vergangenen Winter zum Streitfall. Ende September kochten die Emotionen wieder hoch, als in Charkow mehrere hundert Verfechter der ukrainischen Einheit ein riesiges Lenin-Denkmal vom Sockel rissen. Am Vortag protestierten dort Kommunisten gegen die im Osten der Ukraine stattfindenden Kriegshandlungen und der mittlerweile gerichtlich abgesegnete Sturz Lenins liest sich somit als provokantes Manöver gegen die wenigen, die lautstark ihre Kritik am Vorgehen der ukrainischen Führung gegen die sogenannten Volksrepubliken im Donbass äußern.

In der öffentlichen Diskussion stehen sich in der Ukraine zwei unterschiedliche, sich offenbar gegenseitig ausschließende Ansätze gegenüber: eine von sozialem Paternalismus geprägte Sowjetnostalgie sowie ein national bis nationalistisch angehauchtes Selbstverständnis, das sich im Rahmen eines russisch dominierten Herrschaftsraums nur schwerlich entfalten konnte. Allerdings demonstrierte Oleh Ljaschko im Wahlkampf, dass sich, durch rechts- und linkspopulistische Parolen, zumindest Teile beider Ansätze zusammenfügen lassen. Seine »Radikale Partei« sollte bei den Parlamentswahlen vor allem Stimmen der vormals kommunistischen Wählerinnen und Wähler und jener binden, die bei den letzten Parlamentswahlen die rechtsradikale Partei Swoboda unterstützt hatten.
Ljaschkos relativer Erfolg basiert jedoch auch auf seiner demonstrativen, scheinbar Defizite der Kiewer Zentralregierung ausgleichenden Fürsorglichkeit zugunsten ukrainischer Frontkämpfer. Die Wahlen fanden vor dem Hintergrund bewaffneter Auseinandersetzungen im Donbass statt, die 70 Prozent der ukrainischen Bevölkerung als kriegerische Auseinandersetzung mit Russland einstufen. Wer sein Leben für die Ukraine riskiert, dem gebührt demnach der Heldenstatus. Glanz fällt auch auf jene ab, die sich wie Ljaschko mit den Helden in Szene setzen. Bei der Linken finden sich keine Heldenkämpfer und es gibt derzeit, trotz kläglicher Versuche eine politische ­Alternative aufzubauen, keinen einzigen linken Zusammenschluss, der auch nur die geringste Chance hätte, im ukrainischen Establishment Einfluss zu gewinnen.
Bei der extremen Rechten lassen sich ebenfalls strukturelle Probleme beobachten, die sie jedoch durch die öffentliche Präsenz einzelner bekannter Vertreter ausgleichen kann. Zwar schaffte es auch der »Rechte Sektor« unter Dmytro Jarosch nicht, sich als Partei zu etablieren, über ein Direktmandat hält Jarosch trotzdem Einzug in die Rada. Vom Heldenbonus profitiert außerdem einer der Schlüsselfiguren der ukrainischen Neonaziszene, Andrij Bilezkyj. Der Anführer des Bataillons Asow im Rang eines Oberstleutnants kandidierte im Kiewer Stadtteil Obolon ebenfalls erfolgreich für ein Direktmandat, obwohl er anfänglich als Kandidat auf der Liste von Jazenjuks »Volksfront« gehandelt wurde. Immerhin werden Neonazis in der nächsten Regierungskoalition wohl keine Rolle mehr spielen.
Zur Vergabe stehen derzeit jedoch nicht alle 450 Sitze in der Rada, sondern maximal 423. Denn die Parlamentswahlen fanden nicht in der gesamten Ukraine statt, sondern nur in den von der Kiewer Regierung kontrollierten Landesteilen, also weder auf der Krim und in Sewastopol – die zwar weiterhin zur Ukraine gehörig, aber als zeitweise besetztes Gebiet gelten – noch in der Donezker und Lugansker »Volksrepublik«. Dort wollen die Aufständischen am 2. November eigene Wahlen für parlamentarische Volksvertretungen und zur Ernennung eigener Staatsoberhäupter abhalten, was ihnen weniger innen- als außen politisch Legitimation als vollwertige Verhandlungspartner verschaffen soll.

Trotz der Anfang September vereinbarten Feuerpause wird in den umkämpften Gebieten weiter geschossen, die Zahl der Toten steigt. Kiew spricht von über 2 000 Angriffen auf die Stellungen der ukrainischen Streitkräfte, die Aufständischen berichten ebenfalls von gezieltem Beschuss seitens der Armee. Unabhängig davon ist derzeit nur schwer vorstellbar, wie der Aufbau einer zivilen Staatlichkeit in den beiden Regionen aussehen könnte. Mit den sinkenden Außentemperaturen ist die lokale Bevölkerung auf finanzielle Unterstützung und humanitäre Hilfe angewiesen. Hinweise, dass in Russland gesammelte Hilfsgüter und Spenden nicht bei den Bedürftigen ankommen, häufen sich. Weder in der Donezker noch in der Lugansker »Volksrepublik« kann von einer halbwegs verhandlungsfähigen Führung die Rede sein. Interne gewaltsame Zusammenstöße unter konkurrierenden Clans gehören zum Alltag. Das Verständnis für soziale Bedürfnisse der Bevölkerung scheint bei den Machthabern ohnehin nur gering ausgeprägt zu sein. Am 23. Oktober forderten Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Kundgebung in der Lugansker Bezirksstadt Brjanka die seit vier Monaten ausstehende Auszahlung ihrer Renten. Bewaffnete Verfechter der Lugansker »Volksrepublik« lösten die Kundgebung mit Schüssen in die Luft auf.
De facto hat die Regierung in Kiew ihre Hoheitsrechte über einen Teil des Donezker und Lugansker Gebietes längst verloren und es ist nicht abzusehen, dass sich dies in den Herbst- und Wintermonaten ändern wird. Dieser Übergangzustand dürfte der Kiewer Regierung derzeit insofern gelegen kommen, als dass ohnehin keine Mittel für die Region zur Verfügung stehen, die 2013, also noch vor Beginn der Auseinandersetzungen, mit einer Negativbilanz abgeschnitten hat. Der Donbass ist ein Kostenfaktor, den Kiew unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen nicht tragen kann. Gleichzeitig haben sich mit Beginn der Heizperiode Defizite bei der Kohleversorgung aufgetan, da der Konflikt Lieferungen aus dem Donbass in die Restukraine verhindert. Dort sieht sich die Bevölkerung unweigerlich mit der sich verschlechternden sozioökonomischen Lage konfrontiert, während die neu zu bildende Koalitionsregierung unter Arsenij Jazenjuk harte neoliberale Reformen jetzt erst recht in Angriff nehmen wird.