Sexuelle Vielfalt

Kinder haben’s gut. Sie sind »das lieblichste Pfand in der Ehe« (Luther), »kleine Sonnen« beziehungsweise »Spiegel, auf die noch kein Staub gefallen ist« (Internet). Die Zahl ihrer Fürsprecher ist mächtig und außer ganz schlechten Menschen ist kaum jemand gegen sie. Wie ein Löwe kämpft etwa der Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg, Bernd Saur, für die Reinheit ihrer unbefleckten Kinderseelchen und gegen den sexbesessenen pädagogischen Mainstream: »Respekt und Fürsorge gebieten es, unsere Kinder – und dies gilt zuvörderst für staatliche Schulen – vor entwicklungspsychologisch nicht vertretbaren Übergriffen durch entfesselte, offensichtlich komplett enttabuisierte Sexualpädagogen zu schützen.«
Als versierte Lehrerin beschränke ich mich selbstverständlich ohnehin auf entwicklungspsychologisch vertretbare Übergriffe wie Notengebung, Ausschimpfe und Liebesentzug und pflichte Herrn Saur im Übrigen unbedingt bei, dass Sexualpädagogen einer strikten Tabuisierung unterworfen werden sollten, zuvörderst an staat­lichen Schulen. Aber ich glaube doch, dass die derzeit recht aufgeregt geführte Diskussion um sexuelle Vielfalt im Sexualkundeunterricht die wichtigen Fragen hartnäckig ignoriert. Saur beklagt, dass angeblich Themen wie »Spermaschlucken, Dirty Talking, Oral- und Analverkehr und sonstige Sexualpraktiken inklusive Gruppensex-Konstellationen, Lieblingsstellung oder die wichtige Frage ›Wie betreibt man einen Puff‹« in den Klassenzimmern diskutiert werden sollen. Aber so wird’s ja wieder nicht laufen, das wissen wir doch, da wird doch wieder vorher schön sortiert. Höchstens am Gymnasium werden dann am Ende auch wirklich die betriebswirtschaftlichen Erwägungen, die beim Betreiben eines Bordells in Betracht gezogen werden sollten, durchgenommen. Wer lediglich den erweiterten Hauptschulabschluss anstrebt, muss dagegen wahrscheinlich nur »rein, raus, rein, raus, rüberrollen, schnarchen« fehlerfrei aufsagen können. Ist das gerecht? »Lederpeitsche und Fetische wie Windeln, Lack und Latex«, die Saur zufolge als Lehrgegenstände in den Bildungsplan integriert werden sollen, sind ja wohl stofflich eher fortgeschritten und kommen dann wieder nur bei den feisten Akademikerkindern an, das kümmerliche Arbeiterkind hingegen kann schauen, wo's bleibt. Sollte nicht gerade beim sensiblen Thema Sexualität auf Chancengleichheit geachtet und unterschiedslos allen Kindern eine umfassende Bildung zugänglich gemacht werden? Gebieten Respekt und Fürsorge nicht, »Dildo, Taschenmuschi, Vibrator, Handschellen, Aktfotos, Vaginalkugeln« und welch weitere Utensilien die in Saurs Fantasie wild wuchernden »abstruse(n) Vorstellungen einer modernen Sexualpädagogik« beinhalten, gerecht zu teilen unter den kleinen Sonnen, damit sie ihre Spiegel schön gleichmäßig einstauben können? Ich denke doch.