Donatella Rovera im Gespräch über schiitische Milizen im Irak

»Staat und Milizen operieren gemeinsam«

Der Islamische Staat (IS) geht im Irak mit großer Brutalität gegen seine Gegnerinnen und Gegner vor. Doch auch manche der mit ihm verfeindeten Milizen sind nicht zimperlich. Der kürzlich erschienene Bericht »Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq« von Amnesty International untersucht den staatlich gedeckten Terror schiitischer Milizen im Irak. Donatella Rovera ist Autorin des Berichts und Senior Crisis Response Adviser bei Amnesty International. Seit 1990 ermittelt sie Menschenrechtsverletzungen in Krisenregionen. Mit ihr sprach die Jungle World über die Gewalt der Milizen im Irak.

Im Titel Ihrer Studie ist von Milizenherrschaft im Irak die Rede. Wo findet diese statt?
Überall, mit Ausnahme des kurdisch kontrollierten Nordirak. Aber dort, wo die irakische Armee ist, sind auch die Milizen, und die sind vielerorts viel präsenter und stärker als die Armee.
Also herrscht auch in den Gebieten, die nicht vom IS oder den Kurden kontrolliert werden, nicht der irakische Staat?
Staat und Milizen operieren gemeinsam. Der große Unterschied ist, dass es für staatliche Sicherheitskräfte Gesetze und Kontrollmechanismen gibt, wie mangelhaft diese auch ausgeprägt und durchgesetzt sein mögen, während die Milizen außerhalb jedes gesetzlichen Rahmens agieren. Oft ist es auf den ersten Blick schwer, sie überhaupt von der Armee zu unterscheiden, sie tragen Uniformen, fahren Militärfahrzeuge, nutzen Militäreinrichtungen, aber sie folgen nur ihren eigenen Regeln. Es gibt vier große Milizen, sie kämpfen an der Front, aber agieren auch in Städten und Dörfern, unterhalten Kontrollposten und entführen Menschen – von Festnahmen kann man ja nicht sprechen, da die Milizen keine legalen Kräfte sind. In den vergangenen Jahren haben sie die ausländischen Truppen im Irak attackiert, aber auch die Sunniten. Sie waren zu einem großen Teil für den sehr blutigen sektiererischen Krieg verantwortlich, besonders 2006 und 2007. 2008 wurden sie auch aufgrund internationalen Drucks offiziell aufgelöst, aber in Wirklichkeit haben sie nie ihre Waffen abgegeben, sie haben nur weniger offen agiert. Und seit Beginn dieses Jahres sind sie wieder sehr aktiv, sie kontrollieren Stadtteile Bagdads und begehen schwere Menschenrechtsverletzungen.
Wie ist das Verhältnis zwischen Armee, Polizei und den Milizen?
Das ist schwer zu sagen, ich kann nur beobachten, dass die Milizen überall frei und offen agieren, in der Hauptstadt wie in Dörfern, sie paradieren in Uniform und mit Waffen. Sie kämpfen auch Seite an Seite mit der irakischen Armee. Ich habe ein Bild aus dem irakischen Fernsehen getwittert, auf dem ein Kommandant der Badr-Miliz, Hadi al-Amiri, der vor kurzem noch Transportminister war, in Uniform an der Front mit irakischen Armeeoffizieren zu sehen ist.
Gibt es kein Interesse des Staates, die Kontrolle über sein Territorium zu behalten?
Nein, jede Regierung, die seit dem Fall Saddam Husseins an der Macht war, hat Milizen toleriert, sie ermutigt und mit ihnen kooperiert. Es gibt große Überschneidungen zwischen dem politischen und militärischen Flügel der Milizen. Es sind schiitische Milizen, die unter schiitisch dominierten Regierungen an die Macht kamen.
Welche Menschenrechtsverletzungen begehen diese Milizen?
Sie begehen schwere Menschenrechtsverletzungen und auch Kriegsverbrechen. Sie entführen meist junge sunnitische Männer. Manche operieren als rein kriminelle Organisationen und entführen auch Angehörige anderer Konfessionen. Nicht-Sunniten werden nach Zahlung eines Lösegeldes meist freigelassen, Sunniten oft dennoch ermordet. Es gibt dabei ein Moment der Rache, denn es kam zu einer Zunahme ihrer Aktivitäten und Verbrechen, als sunnitische Gruppen Teile des Iraks erobert haben, etwa als Isis im Januar Teile Faludjas in der Region-Anbar erobert hat, und dann im Juni, als Isis mit Mossul die zweitgrößte Stadt im Irak übernommen hat. Die Milizen haben gegen Isis gekämpft, während die irakische Armee größtenteils geflohen ist und ihre Waffen in die Hände von Isis gefallen sind.
Kann man sagen, dass der IS eine Reaktion auf den Terror der Milizen darstellt, oder ist es andersherum?
Das ist die Frage, auf die niemand wirklich eine Antwort hat. Die Aktivitäten von Isis in seiner vorherigen Form als al-Qaida und die der schiitischen Milizen gehen viele Jahre zurück. Die große, vom Iran unterstütze Badr-Miliz hat schon in den achtziger Jahren gegen das Regime Saddam Husseins gekämpft. Aber der Großteil der Aktivitäten und das Wachstum der schiitischen Milizen kamen nach der Besatzung des Landes durch die US- und Koalitionskräfte 2003. Seitdem haben schiitische Milizen sunnitische bewaffnete Gruppen und auch Zivilisten angegriffen, und sunnitische Gruppen haben überall im Irak das Gleiche gegenüber Schiiten getan. Der Unterschied ist, dass al-Qaida, oder heute der IS, illegale Organisationen und in Opposition zum Staat sind, während die schiitischen Milizen nicht nur mit Duldung, sondern mit Unterstützung und Ermutigung durch den Staat agieren.
Der IS hat das klare Ziel der Errichtung eines Kalifats. Was wollen die schiitischen Milizen?
Ihre Ziele sind ähnlich. Sie streben nach Kontrolle über Territorium, Bevölkerung und Ressourcen, und sie wollen die Sunniten vertreiben. Man findet bei den schiitischen Milizen einen unterschiedlichen Grad an religiösem Eifer, einige äußern sich strikt islamistisch. Die Rhetorik gegen ausländische Truppen war bestimmt von einer Mischung aus Religion und Nationalismus.
Wie positioniert sich der traditionelle schiitische Klerus zu den Milizen?
Anfang Juli, nach dem Fall Mossuls, hat die höchste schiitische Autorität, Ayatollah Sistani, Freiwillige aufgefordert, zu den Waffen zu greifen. Das schien ein Aufruf zu sein, sich der Armee anzuschließen, aber in Wirklichkeit haben sich die meisten Freiwilligen den Milizen angeschlossen. Die Milizen waren ganz offen und stark in schii­tischen heiligen Städten wie Kerbala und Najaf aktiv und es gab keine Verurteilung durch den schiitischen Klerus. Man kann sagen, dass er zumindest keine Probleme mit den Milizen hat, und einige Milizen präsentieren sich als Verteidiger der religiösen Heiligtümer.
Welche Rolle spielen die Islamische Republik Iran und die iranischen Revolutionsgarden?
Die Milizen wurden historisch durch den Iran unterstützt. Da sie unkontrolliert agieren können, kann man nicht wissen, wer für ihre Uniformen, Waffen oder eventuellen Gehälter aufkommt. Sie werden mit Sicherheit durch den Iran unterstützt und iranische Kämpfer, besonders Revolutionsgardisten, wurden in jüngster Zeit Seite an Seite mit schiitischen Milizen beobachtet.
Die Frage drängt sich auf, wen man im Irak überhaupt unterstützen kann und soll, wenn sich zwei schlechte Lager bekämpfen?
Wie meistens bei Konflikten sind die Dinge nicht schwarz und weiß. Aber mit Sicherheit wissen besonders die ehemaligen Besatzungskräfte im Irak sehr genau, wozu die Milizen im Stande sind, denn diese haben jahrelang offen und systematisch die US-Kräfte und ihre Verbündeten angegriffen. Dennoch sehen wir gerade einen Mangel an politischem Willen, internationalen Einfluss zu nutzen, und klare politische Leitlinien festzulegen, nach denen auch die Existenz und das Verhalten der schiitischen Milizen inakzeptabel sind. Im Moment gäbe es durchaus internationale Druckmittel, da die irakische Regierung Unterstützung im Kampf gegen den IS erhält. Wenn Leute sich am Kampf gegen den IS beteiligen wollen, sollten sie dies in der irakischen Armee tun, und sie sollten dies innerhalb eines anerkannten gesetzlichen Rahmens tun. Leider schweigt die internationale Gemeinschaft zu den Milizen und unternimmt nichts.
Können Sie etwas zu den kurdischen Peshmerga sagen, die nicht zuletzt mit deutschen Waffen unterstützt werden? Wie ist deren ­Verhältnis zu den Milizen und zu iranischen Kräften?
Es gab Fälle offener Kooperation in manchen Frontgebieten, ansonsten operieren sie in unterschiedlichen Teilen des Landes. Vor einigen Monaten wurde etwa das Dorf Amerly vom IS belagert, und der IS wurde von Peshmerga, Milizen, der irakischen Armee und iranischen Kämpfern gemeinsam zurückgedrängt. Aber das waren bislang begrenzte Fälle. Man wird sehen, ob sie stärker kooperieren, wenn es zu einer Offensive gegen den IS kommt, um Territorium zurückzuerobern. Kurdische Kommandanten haben sich in den Medien mit iranischen Kämpfern gezeigt und zu einer Kooperation bekannt.
Könnte es sein, dass Sunniten angesichts schiitischer Milizen den IS als das kleinere Übel betrachten?
Man kann nur spekulieren, was Menschen in Gebieten unter IS-Kontrolle denken, denn wir haben keinen Zugang mehr dorthin. Aber das sektiererische Verhalten der Milizen in Kombination mit der sehr sektiererischen Politik der vergangenen irakischen Regierungen unter Ministerprä­sident Nouri al-Maliki hat sicher dazu beigetragen, dass einige Sunniten sich nicht gegen die Eroberung durch den IS gewehrt haben, wenn sie ihn nicht sogar unterstützen.
Was hat sich geändert, seit Haider al-Abadi Ministerpräsident wurde?
Es ist noch sehr früh, um etwas zu sagen. Erst vorige Woche wurden die beiden wichtigsten Ministerposten besetzt, die des Innen- und des Verteidigungsministers. Man muss abwarten, ob in den nächsten Wochen und Monaten Schritte unternommen werden. Bislang haben wir zumindest keine Abnahme der Aktivitäten der Milizen ge­sehen.
Was sollte die internationale Gemeinschaft von al-Abadi fordern?
Die internationale Gemeinschaft sollte sehr klar und entschlossen fordern, dass die Milizen, die außerhalb jedes Gesetzes agieren, aufgelöst werden, und dass die Milizionäre, die schwere Vergehen und Kriegsverbrechen begangen haben, dafür verantwortlich gemacht werden.