Stresstest für die europäischen Banken

Sparend bis zum Siechtum

Der sogenannte Stresstest für Banken der Eurozone hat nicht alle realen Gefahren für die Konjunktur berücksichtigt. Wahrscheinlicher als ein erneuter Crash ist eine Depression, weil zu wenig konsumiert und zu viel gespart wird.

In 160 Metern Höhe muss die Aussicht wohl grenzenlos sein. Aus dem voll verglasten Konferenzraum im 41. Stockwerk kann Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), zumindest optisch auf die großen deutschen Banken herabsehen. Das passt gut zu seinen neuen Aufgaben. Der Umzug in das neue EZB-Gebäude in Frankfurt am Main symbolisiert nicht nur den wachsenden Einfluss der Zentralbank, sondern fällt auch zeitlich mit der einheitlichen europäischen Bankenaufsicht zusammen, die Anfang November in Kraft getreten ist.
Die EZB übernimmt damit die Aufsicht über die größten Geldinstitute in der Eurozone. 1 000 neue Fachkräfte, die zu diesem Zweck eingestellt wurden, sollen künftig dafür sorgen, dass sich solche fundamentale Finanzkrisen wie 2008 nicht mehr wiederholen können. Damals hatten die nationalen Bankenaufsichten komplett die Übersicht verloren. Viele Institute konnten nur durch massive staatliche Hilfe überleben.
Jetzt sollen EZB-Teams die Banken laufend überwachen und direkt vor Ort Einsicht in die Bücher erhalten. Um allzu große Vertraulichkeiten zu vermeiden, dürfen die Team-Leiter nicht aus dem gleichen Land kommen wie die Bank, die sie überprüfen sollen. Zudem sollen die Teams regelmäßig rotieren. Stellen die Prüfer fest, dass eine Bank zu hohe Risiken eingegangen ist, können sie verlangen, dass sie ihre Kapitaleinlagen erhöht. Sollte das Unternehmen diesen Vorgaben nicht folgen, drohen empfindliche Strafen. Im extremen Fall können die Prüfer sogar fordern, ein marodes Institut abzuwickeln. Dafür steht ein extra eingerichteter Fonds mit 55 Milliarden Euro bereit – eine Summe, die aber eher symbolische Bedeutung besitzt. Die Bilanzsumme großer Geldhäuser übertrifft diesen Betrag um ein Vielfaches.

Damit es dazu erst gar nicht kommt, hat die EZB die 120 größten Banken der Eurozone kürzlich einem Stresstest unterzogen. Tausende Prüfer untersuchten deren Liquidität und kamen zu einigen erstaunlichen Ergebnissen. So stellten sie fest, dass die Institute zweifelhafte Kredite in Höhe von 136 Milliarden Euro in ihren Bilanzen nicht berücksichtig hatten – eine Summe, die etwa dem deutsch-chinesischen Handelsvolumen entspricht.
Dennoch zogen die Prüfer eine positive Bilanz des Crash-Tests, weil nur 25 Banken nicht bestanden hatten, vornehmlich in Griechenland und Italien. Auch die deutsche Regierung zeigte sich hoch zufrieden. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sprach von einer »beeindruckenden Leistung« der Aufsichtsbehörden. »Die Ergebnisse bestätigen meinen Eindruck, dass die deutschen Banken gut vorgesorgt haben«, sagte er. Einzelne hätten im Laufe des Jahres weitere Kapitalmaßnahmen vorgenommen. Für deutsche Banken seien daher keine weiteren Vorkehrungen notwendig.
Die Bundesregierung sieht bereits in der bloßen Ankündigung des Tests einen Erfolg. Schließlich habe dies dazu geführt, dass die Banken in der Eurozone in den vergangenen Monaten ihre Bilanzen um insgesamt 200 Milliarden Euro verbessert hätten – sei es, indem sie ihr Eigenkapital erhöht oder sich von risikoreichen Anlagen getrennt hätten.
Wie tragfähig das Ergebnis tatsächlich ist, muss sich allerdings erst noch erweisen. Die Testbedingungen simulieren nur einige mögliche Szenarien, die nicht unbedingt die realen Gefahren widerspiegeln. So hält der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, das Resultat für wenig glaubwürdig. »Die EZB hat es vermieden, ein Szenario der Deflation für Südeuropa durchzuspielen. Daher hat sie nur eine geringe Kapitallücke bei vielen Banken ausgemacht«, monierte er. Die Eurokrise sei nicht nur von Kreditblasen verursacht worden, sondern sei vor allem auch ein realwirtschaftliches Problem.
Tatsächlich prüften die Tester vor allem, in welchem Maß die Geldinstitute auf einen möglichen Konjunktureinbruch vorbereitet sind. Was aber, wenn die Gefahr sich anders darstellt, wenn nicht der große Crash kommt, sondern eine schleichende Depression? Einiges deutet darauf hin. Die Banken in der Eurozone vergeben mittlerweile deutlich weniger Kredite als noch vor einigen Jahren und auch die Konsumenten halten sich zurück, während die Unternehmen ihre Investitionen reduzieren. Dieses Szenario, vor dem EZB-Chef Draghi seit Monaten warnt, kam im Stresstest gar nicht vor.

So ist es auch kein Zufall, dass sich Italien mittlerweile zum Epizentrum der Eurokrise entwickelt hat. Neun italienische Banken fielen durch den Test, darunter die traditionsreiche Banca Monte dei Paschi, die allein zwei Milliarden Euro zusätzliches Kapital benötigt. Die italienischen Banken leiden seit geraumer Zeit unter der schlechten Wirtschaftslage des Landes. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone schrumpft im dritten Jahr in Folge und auch für das laufende Jahr erwartet die EU-Kommission einen Rückgang um 0,4 Prozent. Mit einem Preisanstieg von gerade einmal 0,6 Prozent nähert sich Italien gefährlich einer Deflation. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Binnennachfrage niedrig.
Aber auch für Deutschland und Frankreich sieht die Lage nicht sehr rosig aus. Die EU-Kommission hatte vergangene Woche ihre Konjunkturprognosen für die wirtschaftlichen Schwergewichte in der Eurozone deutlich gesenkt und bewertete die Aussichten für die kommenden Jahre pessimistischer als bisher. Sie begründete ihre düstere Einschätzung mit »steigenden geopolitischen Risiken« wie den Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten – und mit dem schwachen Wachstum in den beiden Ländern.
Erschwerend kommt hinzu, dass die EZB mit ihrer bisherigen Strategie einer expansiven Geldpolitik an der Situation bislang nicht viel ändern konnte. Die Leitzinsen befinden sich zwar auf einem historisch niedrigen Niveau. Die Geschäftsbanken leihen das Geld, das sie billig erhalten, allerdings kaum weiter. Seit kurzem müssen sie deswegen sogar Strafzinsen an die EZB überweisen. Nun gehen immer mehr Institute dazu über, bei ihren eigenen Kunden ebenfalls negative Zinsen zu berechnen. Wer weiterhin sparen will, muss künftig womöglich sogar dafür bezahlen. Als Alternative gibt es nur den Tresor im eigenen Haus oder risikoreiche Wertanlagen.

Der EZB bleibt nicht viel anderes übrig, als ihren bisherigen Kurs fortzuführen. Sie will bis Anfang nächsten Jahres rund eine Billion Euro in das Finanzsystem pumpen und, sehr zum Missfallen der deutschen Bundesbank, dafür auch Staatsanleihen in großem Umfang kaufen. Die Zinsen sollen dadurch weiter sinken und – als erwünschter Nebeneffekt – der Eurokurs fallen. Dass mit dieser Strategie künftig eine Deflation verhindert werden kann, ist zumindest zweifelhaft – zumal die EZB indirekt mit der japanischen und der US-amerikanischen Notenbank konkurriert, die ebenfalls eine Strategie des »billigen Geldes« betreiben.
Daher fordern fast alle Wirtschaftsexperten, dass die Binnennachfrage in der Eurozone deutlich steigen muss. Und dabei ist vor allem die größte Volkswirtschaft in der Eurozone gefragt. »Statt sich arm zu sparen, müssen wir Deutschen wieder mehr konsumieren und gleichzeitig vernünftig investieren. Das belebt die Wirtschaft – die eigene und die Wirtschaft in Europa«, erklärte Asoka Wöhrmann, Anlagechef der Deutschen Bank kürzlich in der Welt. Deutschland müsse zudem seinen enormen Exportüberschuss verringern, dies sei eine »ungesunde Entwicklung«. Vor allem, weil »wir mit dem überschüssigen Geld nicht sehr viel mehr anzufangen wissen, als es auf einem Null-Zins-Konto zu parken«. Wenn die Deutschen weiterhin so viel sparen, drohten bald japanische Verhältnisse – mit sinkenden Löhnen und dauerhaft negativen Zinsen.
Helfen soll nun auch ein Wachstumsprogramm in Höhe von 300 Milliarden Euro, das die neue EU-Kommission bis Weihnachten auflegen will. Wie es finanziert werden soll, ist allerdings noch unklar. Ein Teil des Geldes soll aus den Struktur- und Regionalfonds der EU kommen. Zudem hofft die Kommission darauf, dass die deutsche Regierung mehr öffentliche Investitionen tätigt. Deutschland habe Spielraum dafür, denn die staatliche Verschuldung sei hier »nicht alarmierend«, sagte Jyrki Katainen, der stellvertretende EU-Kommissionsvorsitzende aus Finnland, in Brüssel. Es seien jedoch viele Wachstumsmotoren in Europa nötig – Deutschland allein reiche nicht mehr aus. Nur wenige Tage später kündigte Finanzminister Wolfgang Schäuble ein Investitionsprogramm in Höhe von zehn Milliarden Euro an.
Gut möglich, dass alle Maßnahmen zusammen wieder für etwas mehr Wachstum sorgen werden. »Jetzt gibt es eine Flaute, dann gibt es mal wieder einen kleinen Aufschwung«, sinniert Sinn. Ein großer Crash ist seiner Meinung nach eher unwahrscheinlich, die Eurozone werde wohl auch noch in zehn Jahren bestehen. An der »unbefriedigenden Wachstumssituation« werde sich nach Meinung Sinns allerdings nicht viel ändern. Nicht der große Crash, sondern dieses »ewige Siechtum« sei »eigentlich das Wahrscheinlichste«.