Sozialismus als nationaler Mythos in Kuba

Sommer, Sonne, Sozialismus

Anstatt das sozialistische Experiment ins 21. Jahrhundert zu überführen, wird die Revolution auf Kuba als Mythos konserviert. Die Menschen befriedigt das nicht.

Kuba, die letzte Bastion des real existierenden Sozialismus. Das Land, in dem augenscheinlich zwei Utopien die perfekte Symbiose eingehen: karibischer Flair und die Idee einer befreiten Gesellschaft. Kilometerlange, verlassene Strände mit weißem Sand, gesäumt von Kokospalmen, die ins glasklare, türkisfarbene Wasser des karibischen Ozeans übergehen. Dazu Rum und Zigarren an jeder Ecke. Den Sozialismus hingegen erlebt man vor allem als nationalen Mythos. Überall auf der Insel stehen in Beton gegossene Orte der Erinnerung, mit denen die Geschichte der Revolution und der sozialistische Traum am Leben erhalten werden sollen. Verblasste Parolen auf riesigen Schildern preisen die »revolutionäre Dis­ziplin« an, Bilder von Che Guevara prangen von Häuserwänden und vorbeiziehenden Lastwagen. Man kann stundenlang durch die Einöde an die verlassenen Orte fahren und sich sicher sein, dass Che bereits da ist. Nur eine Sache sieht man noch häufiger als die Portraits des argentinisch-kubanischen Freiheitskämpfers: riesige Aasgeier, die in der Luft kreisen. Unweigerlich fragt man sich, ob es hier einen Zusammenhang gibt.
Auch über der Hauptstadt Havanna drehen sie in ferner Höhe ihre Runden. Unter ihnen der belebte Busbahnhof, wo man als Tourist mit wenigen kubanischen Pesos einen Espresso trinken kann. Die günstigen Busse aber sind der kubanischen Bevölkerung vorbehalten. Direkt neben dem geschäftigen Treiben liegt der verlassen wirkende Paraden- und Parkplatz der Plaza de la Revolución. Der Platz ist in sowjetischem Stil gehalten: grauer sozialistischer Betonprotz, aufge­laden mit quasi religiösem Pathos. In Plattenbauten am Rand sind verschiedene Ministerien untergebracht, ein Schild erinnert die Menschen an das sozialistische Versprechen: »Die Revolution ist eine schöne und unzerstörbare Realität«. Im Park nebenan versucht gerade ein junges Mädchen mit nur einem Rollschuh ihre Runden zu drehen. Gegenüber thront ein 100 Meter hoher futuristischer Turm über dem Platz, das José-Martí-Denkmal. Von oben gebe es den besten Blick über die Stadt, heißt es, jedoch ist der Fahrstuhl wieder mal defekt. Nachts leuchten die Gesichter von Camilo Cienfuegos und Che Guevara von den Häuserwänden in die Dunkelheit und verwandeln den Platz in eine Kultstätte. Die Heiligenverehrung setzt sich in den unzähligen Gedenkstätten fort, die über die Insel verteilt sind.
In der Mitte Kubas liegt Santa Clara, dessen Eroberung durch Che Guevaras Truppen im Dezember 1958 als entscheidender Beitrag zum Sturz der Diktatur gilt. Eine überdimensionale Statue des Revolutionsführers weist am Horizont den Weg zu seinem Mausoleum und dem daran angeschlossenen Che-Museum. Dort kann man allerlei sozialistisch-sakralen Kitsch bewundern: Teller, von denen der Held gegessen hat, Füller, die er zum Schreiben seines berühmten Tagebuchs benutzt hat, bis hin zu Waffen und Kleidungsstücken von Kampfgefährten, die mal einen Tag mit Che durch die Wälder gezogen sind. Die Diskrepanz von ehrfürchtiger Anbetung und den ­gezeigten inhaltsleeren Alltagsobjekten lässt einen nur schwer das Lachen unterdrücken.
Der kubanische Nationalismus steht in der Tradition des sozialistischen Patriotismus, erfüllt aber auch hier die Funktion als politische Religion in einer laizistischen Gesellschaft. In der schwülen Küstenstadt Cienfuegos erinnert ein Schild aus Marmor gar an den »historischen Moment«, an dem Fidel Castro die berühmte Paella des Hauses gegessen habe, bevor er sich auf den Weg machte, die Hauptstadt zu erobern.
Ein paar Meter von dem Restaurant entfernt sitzt Alejandro, der sich bei Sonnenaufgang an der kolonialen Promenade die Zeit vertreibt. Er ist froh, einem Außenstehenden seinen Ärger mitteilen zu können und schimpft über die Farce des kubanischen Sozialismus. »Es ist eine große Scheiße hier. Die Politiker reden nur und lügen dabei.« Er zählt auf, was die Grundnahrungsmittel kosten, und sagt, dass der Einheitslohn, den er als Bäcker verdient, gerade so zum Leben reicht. Aber auch er trägt stets ein Foto von Che in seinem (leeren) Geldbeutel. Darauf angesprochen, ist er verwundert über die Frage. »Che bringt Glück«, so seine selbsterklärende Antwort.

Jimmy, der für das staatliche Taxiunternehmen Cubataxi arbeitet, ist da anderer Meinung. In seinem Auto hat er zwei kleine Flaggen am Rückspiegel aufgehängt: die amerikanische und die kubanische. Er hält nicht viel vom Revolutionsmythos, auf Che Guevara angesprochen stellt er eine Gegenfrage: »Wie nennt man einen Ausländer, der in ein anderes Land kommt und dort einen Krieg beginnt?« Befreiungskämpfer ist nicht das Wort, dass er hören will. Er fährt die holprige und kurvenreiche Straße aus dem Viñales-Tal Richtung Osten entlang, vorbei an Pferdewägen und Tabakplantagen. Jimmy gehört zu dem Teil der Bevölkerung, die nicht nur die Umsetzung, sondern bereits die Idee des Sozialismus für einen Irrtum, wenn nicht gar für ein Verbrechen hält. »Bis vor kurzem waren wir ein Land mit elf Millionen Sklaven, wir mussten ohne Lohn arbeiten«, so seine Interpretation der sozialistischen Idee. Mittlerweile gibt es staatliche Einheitslöhne, diese liegen jedoch weit unter der offiziellen Armutsgrenze. Im Schnitt verdient ein Kubaner zwischen 20 und 40 US-Dollar im Monat. Dies reicht für die Einkäufe in den subventionierten, meist relativ leeren Lebensmittelläden, aber nicht für viel mehr. Während Jimmy über Bürokratie und die Güterknappheit schimpft, muss er immer wieder anhalten und im Motorraum den Benzinschlauch anstecken.
Er ist auf dem Weg zur berühmten Schweinebucht. Die Bahía de Cochinos liegt im Süden der Insel und je näher man den Stränden kommt, an denen im April 1961 Contra-Gruppen mit Unterstützung der USA die Insel stürmten und »zurückerobern« wollten, desto höher wird die Dichte an mit sozialistischem Pathos gefüllten Schildern, die zwischen den Palmen am Straßenrand stehen. An der Ortseinfahrt bei Girón, dem Landeplatz der Invasoren, weist ein Schild auf die »erste Niederlage des Yankee-Imperialismus in Lateinamerika« hin. Aber selbst an diesem historischen Ort scheint die Begeisterung der Menschen ebenso verblasst zu sein wie die Propagandaschilder. Auf die Frage, ob sich denn ein Besuch des Museums über die Schweinebucht-Invasion lohne, bekommt man in der Regel nur Achselzucken als Antwort.

Dies wird bald verständlich. Draußen liegen die Reste eines abgeschossenen Kampffluzzeuges in der Sonne, drinnen werden stolz vor mehr als 60 Jahren eroberte Waffen präsentiert, die den Schildern zufolge noch immer »Eigentum der USA« seien. Schlachtpläne und Kampfhandlungen werden bis ins kleinste Detail wiedergegeben, neben eingerahmten handgeschriebenen Befehlen vom Comandante Fidel. Jugendliche in Uniform der nahegelegenen Militärschule schlendern kichernd durch die Gänge, mit ihren Smartphones und Tablets filmen und fotografieren sie die Relikte aus einer anderen Zeit. Zu dem Museumsbesuch gehört auch ein kurzer Propagandafilm aus dem Jahr 1961. Während auf der Leinwand in schwarz-weißen Bildern und der Sprache des Kalten Krieges der heroische Kampf der Kubaner gegen den Imperialismus gefeiert wird, klingelt das Handy einer jungen Revolutionsanwärterin. Überall ist lautes Kichern zu hören. Eine Situation, in der der Kontrast zwischen heutigem und dem verkrampften Festhalten am überholten orthodox-sowjetischen Weltbild anschaulich wird. Es ist schwer vorstellbar, dass sich gerade junge Leute mit den alten bärtigen Männern identifizieren können oder wollen, die überall auf riesigen Schildern am Straßenrand zu sehen sind und vermeintlich das »Bild des Volkes« darstellen. Dieser Gegensatz, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, bestimmt Kuba überall. Die Autobahnen sind voll mit Pferdekutschen, in denen Leute mit ihren Smartphones sitzen. Acker werden wie im 19. Jahrhundert mit Ochsenkarren gepflügt, in Sichtweite von modernen Medizinlabors, in denen gerade neuste Pharmazeutika produziert werden. Für Reisende verleiht dies dem Land einen unvergleichbaren Charme, wenn die alten US-Oldtimer aus den fünfziger Jahren vor bewohnten Ruinen alter Kolonialhäuser stehen. Viele Kubanerinnen und Kubaner hingegen nehmen dies als einen Mangel an Modernität wahr.
Vor dem Revolutionsmuseum sitzt Joel im Schatten, neben ihm sein weiß-roter Ford Cabrio aus dem Jahr 1929. Das Auto wäre wohl andernorts ein Vermögen wert, hätte er nicht große Audioboxen in die Rückseite der alten Ledersitze eingebaut, aus denen nun laute kubanische Musik dröhnt. Joel hat gerade eine Handvoll deutscher Revolutionstouristen hierher gebracht. Nach einem Zwischenhalt an den karibischen Stränden der Schweinebucht stehen diese nun am Eingang und posieren mit dem Victory-Zeichen fürs Fotoalbum. Joel ist genervt von all den großen Sprüchen über Freiheit und Revolution. »Der Staat will alle Leute auf einem gleiche niedrigen Lebensstandard halten«, sagt er. Sozialistische Gleichheit bedeutet auf Kuba vor allem gleiche Armut für alle. Zwar gibt es auch hier eine reiche Oberschicht, aber Konsumartikel sind rar. Sie können nur in der schwer zugänglichen Devisenwährung CUC bezahlt werden und sind zudem extrem überteuert. Eine einfache Badehose für 30 Dollar, ein alter Röhrenfernseher für 300 Dollar. So verdient Joel regelmäßig Geld damit, in die Dominikanische Republik zu fliegen und von dort Flachbild-Fernseher und andere Luxusgüter mitzubringen, die er dann auf Kuba – nicht ganz legal – verkauft. Er zeigt sogar Verständnis für die Idee, durch die verordnete (Luxus-)Güterknappheit Gleichheit zu schaffen. Aber dies verhindere auch den Fortschritt. Auf Kuba sei man zum Stillstand gezwungen, seufzt Joel mit Blick aufs Meer. Der Staat will dies nun ändern, im Juni wurde ein Gesetz erlassen, das ausländische Direktinvestitionen zulässt. Ob diese neoliberale Öffnung Menschen wie Joel mehr Möglichkeiten bieten wird, darf bezweifelt werden.

Aber was zeichnet den kubanischen Sozialismus aus? Maria sitzt bei Dämmerung in einem kleinen Park der Stadt Camagüey, umgeben von stilvollen Kolonialhäusern. Sie versteht die Frage kaum: »Na, hier ist die Bildung kostenlos und niemand muss hungern.« Diese pragmatische Sicht auf die Dinge begegnet einem häufig. Die antiimperialistische Rhetorik des Staates hört man auf der Straße nur selten, stattdessen sind Stars-and-Stripes-Klamotten ebenso fester Bestandteil des Straßenbildes wie Che-Guevara-Shirts. Ob Jimmy, der Taxifahrer und sephardischer Jude, Probleme aufgrund seiner jüdischen Herkunft habe? »Mein größtes Problem ist es, bei 1500 Juden eine Frau zu finden«, erklärt er lachend. Ob man nun hinter Fidel Castro und seinem Bruder Raúl steht oder möglichst schnell den Inselsozialismus verlassen will – fast alle sind sich über die Errungenschaften Kubas einig. Selbst der revolutionsmüde Joel betont: »Hier hat man zwar nicht viel mehr als etwas zum Essen, aber immerhin hat jeder zu essen. Bei euch kann man verhungern oder kein Geld für den Arzt haben. Und das sogar, wenn man Arbeit hat«, erklärt er den Unterschied von Kapitalismus und Sozialismus. Trotzdem hat er bereits feste Pläne, in die USA auszuwandern. Auf die Frage, ob viele diesen Wunsch hegen, schaut er verwundert: »Natürlich. Alle wollen in die USA!« Tatsächlich trifft man niemanden, der nicht mindestens einen Verwandten in den USA hätte. Die Unzufriedenheit ist nicht zuletzt dem Arbeitsmarkt geschuldet, denn der »Arbeiterstaat« ist schon längst keiner mehr. Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung hat weiterführende Schulen oder die Universität besucht, für sie gibt es jedoch nicht ausreichend Arbeitsplätze. So begegnet man in Kneipen und Restaurants überall gut ausgebildeten Ingenieuren und Akademikern, die nun Touristen die Mojitos bringen. Auch Maria, die ein Marketing-Studium abgeschlossen hat, arbeitet tagsüber als Englischlehrerin und verteilt abends an Touristen Werbung für Restaurants, in denen in der Regel viel zu viele Angestellte ihre Zeit totschlagen. Das sozialistische Versprechen der Vollbeschäftigung treibt zum Teil absurde Blüten.
Durch das rasant wachsende Touristenbusiness ist zugleich eine neue Zweiklassengesellschaft entstanden. »Die hier verdienen an einem Tag mit Trinkgeld das, was ich im ganzen Monat verdiene«, beschwert sich Alejandro aus Cienfuegos mit Blick auf das gegenüberliegende Hotel. Um einen der heißbegehrten Jobs zu bekommen, brauche man jedoch Kontakte und dürfe vor allem nicht als kritischer Mensch aufgefallen sein. Während Freiheit auf Kuba so groß geschrieben wird, ist sie im alltäglichen Leben doch oft so klein. Bei der Einführung eines E-Mail-Programms für Handys standen die Menschen tagelang in Schlangen vor den staatlichen Büros, um endlich abseits überteuerter Cybercafés oder illegaler Internetzugänge digitale Briefe schreiben zu können. Die tägliche Druckpresse besteht ausschließlich aus Parteizeitungen und eine von ihnen, die Granma, druckt dann schon mal ein Telefongespräch ab, das zwischen Fidel Castro und Hugo Chávez nach dem gescheiterten Putschversuch in Venezuela vor zwölf Jahren geführt haben – da es offenbar nichts Wichtigeres zu berichten gibt. Die Menschen sind jedoch sehr gut informiert und wissen genau, was ihnen vorenthalten wird. Aber sie wissen auch, dass Kuba nicht nur im geographischen Sinne eine Insel in Lateinamerika ist. Große Teile des Kontinents sind nach Einbruch der Dunkelheit no-go-areas. Gewalt und Angst bestimmt das Leben von Millionen von Menschen. Auf Kuba hingegen kann man selbst als weißer Gringo nachts um vier durch die schwach beleuchteten Straßen Havannas laufen, ohne dass einem die Ortsansässigen mit dem skeptisch-fragenden Blick begegnen, ob man denn lebensmüde sei. Es gibt quasi keinen Analphabetismus und in jedem barrio steht ein Gesundheitszentrum. In Discotheken stellen Gruppen von jungen Männern offen ihr Schwulsein zur Schau und Transsexuelle erregen auf den staubigen Straßen Havannas weniger Aufsehen als in manchen deutschen Großstädten. Pornos dagegen gelten noch immer als Verstoß gegen die sozialistische Ethik. Es entsteht der Eindruck, dass eine Kaste alter Sowjetbürokraten krampfhaft versucht, auf der letzten Insel des real existierenden Sozialismus die Zeit einzufrieren. Und dabei gar nicht merkt, dass die Zeit längst an ihnen vorbeigerast ist. Auf dem Weg von der Schweinebucht zur kolonialen Touristenattraktion Trinidad steht in großen Lettern am Straßenrand geschrieben: »Das Vaterland, das wächst«. Darüber sind drei Köpfe zu sehen: Hugo Chávez, Nelson Mandela und Fidel Castro. Zwei der drei alten Männer sind bereits tot. Über dem Schild geht die Sonne langsam unter, die Aasgeier drehen gelassen ihre Runden.