Eine Ausstellung der Werke von Elaine Sturtevant in Frankfurt

Die Kopie ist original

Die im vergangenen Jahr verstorbene US-amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant wurde mit ihren Reproduktionen zeitgenössischer Kunstwerke bekannt. Eine Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, die demnächst auch in Wien und Berlin gezeigt wird, beschäftigt sich mit ihren Zeichnungen.

Am Eingang der Ausstellung hängt ein bekanntes Foto: Beuys im Jahr 1972, überlebensgroß. Mit entschlossenem Blick schreitet er fast aus dem Bild heraus, gekleidet in eine praktisch-hässliche Fotografenweste mit vielen Taschen. »Beuys La Rivoluzione Siamo Noi«, die Revolution sind wir, lautet der Titel. Aber Moment mal, das Werk ist auf 1988 datiert, war Beuys da nicht schon zwei Jahre tot? Zudem ist es als »(Version 2004)« deklariert – wie kann das sein? Verunsichert tritt man zurück, und ja, das Gesicht des Künstlers ist merkwürdig verschattet, die Nase kantiger, als man sie in Erinnerung hatte. Ein Blick auf die Werkangaben auf dem Schildchen bestätigen die Ahnung: Man befindet sich bereits in der Falle von Sturtevant – ihren weiblichen Vornamen ließ die Künstlerin lieber weg. Denn die Fotografie ist eine Arbeit der im Mai vorigen Jahres verstorbenen US-Amerikanerin, in der sie das Original nachgestellt und selbst als Beuys posiert hat. Auch die Zeichnungen, die im Saal 7 des Frankfurter Museums für Moderne Kunst zu sehen sind, scheinen alte Bekannte zu sein: Studien zu Jasper Johns’ ikonischer amerikanischer Flagge in vielfacher Ausführung und Farbgebung. Bleistiftskizzen zu Marcel Duchamps Pissoir. Andy Warhols »Flowers« mit Siebdruckfarbe auf Karton. Claes Oldenburgs Hamburger als Wasserfarbentwurf. Ein Subway-Drawing von Keith Haring in weißer Kreide auf schwarzer Tafel. Und noch viele weitere Vorstudien, die dem informierten Besucher ein erkennendes »Ah!« entfahren lassen. Doch sie wurden alle von der 1924 in Lakewood, Ohio, geborenen Elaine Sturtevant angefertigt, die ihr künstlerisches Wirken der Reproduktion verschrieben hatte. So kommt es zu merkwürdigen Doppelungen, Rückkopplungen und Kommentaren, etwa wenn sich Tom Wesselmanns »Great American Nude« und Jasper Johns’ »Target« hierarchiefrei auf einem Blatt wiederfinden, oder sich Oyvind Fahlströms »Elements« mit Roy Lichtensteins »Hot Dog« verschwistern. Doch die Künstlerin wollte ihre Vorgehensweise weder als respektlos – Bernard Blistène vom Centre Pompidou nennt das Plagiat einen »Akt der Liebe« – noch als epigonal verstanden wissen: »Ich mache Reproduktionen, um zu konfrontieren, um das Denken auf Trab zu bringen.«
Aber Sturtevant, die nach Anfeindungen eine Weile nicht mehr als Künstlerin arbeitete, ging noch weiter und beschäftigte sich schon in den sechziger Jahren mit Fragestellungen, die heute umso dringlicher geworden sind. Bei einem Vortrag im Jahr 2004 anlässlich ihrer ersten großen internationalen Werkschau im Frankfurter Museum erklärte sie ihre Bilder folgendermaßen: »Die brutale Wahrheit des Werkes ist, dass es keine Kopie ist./Der ernste Beweggrund des Werkes ist der Sprung vom Bild zum Konzept./Die Dynamik des Werkes besteht darin, dass es die Repräsentation hinauswirft.« Letztlich verkehrte sie das Verhältnis von Autorschaft und Original: »Der Mensch ist Double./Der Mensch ist Kopie./Der Mensch ist Klon./Der Mensch ist entbehrlich./Der Mensch ist entsorgbar./Das Double ist original./Die Kopie ist original./Das Bild ist Ursprung./Wir sind hier also am anderen Ende der Ursprünge,/unser radikales Denken des ›Seins‹,/das radikal original ist.«
Dass sich die Künstlerin, die ihre erste Einzelausstellung 1965 in der New Yorker Bianchini Gallery hatte und später in Paris lebte, quer zum Kunstbetrieb stellte, der das Innovative und Schöpferische des zumeist männlichen Künstlergenies fetischisierte, erklärt auch, warum sie in vielen Abhandlungen zu Pop-Art und Konzeptkunst, die sie mit ihren Arbeiten laufend kommentierte und erweiterte, so gut wie gar nicht vorkommt. Das »Abmalen« gilt als unkreative Fleißarbeit und damit als ultimativ weibliche Domäne. Doch Sturtevant wollte auf das Gegenteil hinaus. Ihre Werke destabilisieren den Herrschaftsanspruch des monolithischen Kunstwerks, indem sie es als zeitlich und räumlich kontingentes Ereignis zeigen, das immer wieder aufs Neue erforscht werden kann. Diese akribische Erforschung hat mit einem vermeintlich passiven, stupiden Kopieren nichts zu tun, sondern nötigt durch das ständige Herstellen von Bezügen nicht nur der Schöpferin, sondern auch den Rezipienten ein hohes Maß intellektuellen Engagements ab. So verbrachte die beinahe obsessive Tüftlerin nach einem Treffen mit Anselm Kiefer ein halbes Jahr damit, ein Flugzeugmodell von Kiefer so gekonnt nachzubauen, dass der Künstler, der zu der komplizierten Konstruktion keine Details liefern wollte, selbst völlig verblüfft war. Auffällig ist auch, dass Sturtevant keine kanonisierten Kunstwerke reproduzierte, sondern stets auf unbekannte Künstler setzte, deren Karriere sie wie ein Echo begleitete.
Da Sturtevants Zugang die Kunstwerke ihres Ursprungs beraubt und ihre Neubearbeitung deren Rezeption beeinflusst, sieht sie sich selbst nicht als Vertreterin der Appropriation-Art, der sie, obwohl ihr zeitlich vorgängig, immer wieder zugeordnet wird. Ihre Werke sind in diesem Sinne eher »Anti-Readymades«. Besonders deutlich wird dies im Medium der Zeichnung, dem die Ausstellung gewidmet ist, da Sturtevant hier analytisch eine Methodik der Kombination von Zeichen und Stilen auslotete, die durchaus autonom und eben keine »Behelfstechnik« oder »Vorstufe« zu den »echten« Tableaux waren – zu vielen dieser Studien existieren keine ausgeführten Gemälde. Über die von ihr selbst so benannte »Kraft der Nicht-Identität« schrieb sie 1996 in einem Katalogbeitrag zu René Magritte: »Der emotionale und intellektuelle Schock, auf ein bekanntes Objekt zu stoßen, dem dann sein Inhalt abgesprochen wird, hat, wenn nicht unmittelbare Ablehnung, unstete und verstörende Gedankengänge zur Folge. Sie führen zu einem Gleichgewichtsverlust, der das Denken immer weiter vorantreibt.«
Was bedeutet es, wenn Sturtevant sich, um exakter am Original arbeiten zu können, von Andy Warhol das originale Seidensieb der Serie »Flowers« ausleiht, wie es 1964 geschah, und damit eine signierte Sturtevant-Warhol-Serie anfertigt? Warhol ließ bekanntermaßen in seiner Factory die seriellen Tätigkeiten von ungenannten Helfern ausführen und antwortete auf die Frage nach seiner Technik für die Flowers-Serie nur: »I don’t know. Ask Elaine.« Was ist das Original von was und von wem? Und stimmt es, dass Sturtevant die einzige Künstlerin ist, die nicht kopiert werden kann, wie der italienische Konzeptkünstler Giulio Paolini einmal bemerkte? Ist nicht am Ende die Kopie des Originals als Grundlage von Kunst die einzig noch mögliche Form von Originalität? Bernard Blistène geht mit Verweis auf den französischen Kunstkritiker Nicolas Bourriaud sogar noch einen Schritt weiter und sieht Sturtevants Werk als erste Artikulation von »copy left«, die »viel früher als andere die Abschaffung des Prinzips des Privatbesitzes« propagiert habe und damit »das Autoritätsprinzip« untergrabe.
Auch wenn Sturtevant die Kunst nicht als große Allmende-Spielwiese betrachtete, so gelang es ihr mit ihrem Nachdenken über »Macht und Autonomie des Originals und die Kraft und Dominanz von Kunst« doch, eben jene Kategorien nachhaltig zu erschüttern. Dass dies so lust- wie humorvoll passiert, verleiht ihrem Werk noch eine zusätzliche Dimension. Denn es ist schon ziemlich lustig, die latent gockelige Selbstinszenierung männlicher Kunststars zerfallen zu sehen, wenn sich Sturtevant beispielsweise auf Duchamps berühmtem Suchplakat »Wanted: 2 000 Dollar Reward« einfach über die Autorität des Künstlers hinwegsetzt, indem sie sich – auf ihn klebt.

Sturtevant: Drawing Double Reversal. Museum für Moderne Kunst Frankfurt. Bis 1. Februar 2015