Musikerinnen in der Free-Jazz-Szene

Frauen ohne Herz und phallisches Genie

Irène Schweizer war eine der ersten Frauen, die im männlich dominierten Free Jazz akzeptiert wurde. Musikerinnen der zweiten und dritten Generation können auf ein Netzwerk aus Festivals, Labels und Medien mit feministischem Anspruch aufbauen.

Improvisation in der Musik war immer auch ein Ruf nach Freiheit: Der Free Jazz in den USA und die frei improvisierte Musik in Europa waren ein Versuch, den Jazz aus seinen Konventionen zu befreien. Besonders die Aufnahme »Machine Gun« des Peter-Brötzmann-Oktetts aus dem Jahr 1968 galt als Ausdruck der Rebellion: Saxophone, die wie Maschinengewehrsalven klangen, dazu hämmernde Kontrabässe und Trommeln. An einem Punkt allerdings blieb der Free Jazz höchst konventionell: Es waren fast ausschließlich Männer, die damals in den sechziger Jahren angetreten waren, das musikalische Establishment zu erschüttern.
Die Strukturen haben bis heute überdauert. Die Schweizer Musikerin Dorothea Schürch forderte kürzlich in einem Interview mit dem österreichischen Magazin Freistil, über »Komplizen- und Körperschaften« und »über die Clans der mehrheitlich mittel- bis schweren Jungs« nachzudenken. Gedanken, die auch ihre musikalische Praxis beeinflussen. »Improvisation habe ich immer als Teil einer politischen Kultur verstanden, und dem Feminismus habe ich meine ganze Bewegungsfreiheit zu verdanken«, sagt Schürch und stellt gleich mehrere Fragen, die es zu beantworten gelte: »Müssen sich Männer im Interview zum (Nicht-)Feminismus äußern, oder zum Machismo, oder wenigstens zum Leben in ihrer Zone? Wie entstehen diese Zonen, diese Camps? Merkt keiner, dass er in einer Zone lebt? Wo finden die Trainingscamps statt?« Die Tatsache, dass Jazzmusik bis zum heutigen Tag eine Männerdomäne ist und dass in der Kunst eine Frauenquote fragwürdig bleibt, beschäftigt auch den wissenschaftlichen Diskurs. Das Jazzinstitut Darmstadt lädt im Oktober 2015 zum 14. internationalen Darmstädter Jazzforum unter dem Titel »Gender and Identity in Jazz«. Als Minderheit in einer eh schon randomisierten Szene haben es die wenigen Frauen doppelt schwer, sich Gehör zu verschaffen: Auf den Festivals, die sich der avantgardistischen Musik widmen, finden sich selten mehr als 300 bis 400 Leute ein – bei Konzerten sind es mitunter nur ein paar Dutzend. Die Verkaufszahlen der CDs fallen kaum ins Gewicht. Da heißt es, besonders hartnäckig zu sein.
Im deutschsprachigen Raum bewegen sich mittlerweile mehrere Dutzend Musikerinnen im Spannungsfeld zwischen freier Improvisation, Elektronik und Free-Rock: Cordula Bösze, Angelica Castello, Isabelle Duthoit, Gunda Gottschalk, Maja Osojnik, Billy Roisz, Ute Völker oder Manon-Liu Winter, um nur einige zu nennen. Das Magazin Freistil versucht ihnen ein Forum zu bieten und veröffentlicht seit einigen Jahren in loser Folge die Zusammenstellung »DAMN! FreiStil-Samplerin«. Präsentiert werden Musikerinnen, die »die patriarchalischen Zustände auch der Musikszene aufmischen oder wenigstens lockern« wollen, so der Pressetext. Mittlerweile sind drei Folgen erschienen, weitere sollen folgen.
Auch im Festivalbereich gibt es den Versuch, die Herrschaft der männlichen Clans aufzubrechen. Die Veranstalter des Festivals »Music Unlimited« im österreichischen Wels achten darauf, dass möglichst viele Musikerinnen im Programm sind. »Ein guter Mix ergibt in Summe auch eine andere Atmosphäre«, sagt Organisator Wolfgang Wasserbauer. Beim letzten Festival im vergangenen Herbst standen an den drei Tagen 20 Musikerinnen auf der Bühne.
Beim Züricher Unerhört-Festival verfolgt man ein ähnliches Konzept. Zu den Organisatoren dort gehört die Pianistin Irène Schweizer. Die 73jährige ist Vorbild für viele Musikerinnen im Free Jazz und der frei improvisierten Musik. Als sie vor 50 Jahren ihre Karriere begann, war sie allein unter Männern. »Es war eine ziemliche Mackerszene«, sagt die Schweizer Pianistin rückblickend. Sie ließ sich trotzdem nicht entmutigen, mit den Kollegen auf Tour zu gehen. Anfangs sei es ihr verdammt schwer gefallen: »Jeden Abend Bier und Schnaps. Ich hatte keine Lust, die Saufgelage mitzumachen und blieb dann nach den Auftritten meistens allein«, sagt sie. Sie habe sich damals immer wieder gefragt, ob es sonst noch irgendwo Instrumentalistinnen gebe? In den USA waren da immerhin Carla Bley oder Mary Lou Williams; aber in Europa? Fehlanzeige. 1974 kam Irène Schweizer nach Zürich und zog in eine Musiker-WG. Im Frauenzentrum am Tessinerplatz suchte sie Kontakt mit der Frauenbewegung und lernte dort ihre damalige Freundin kennen. Sie traten in die »Homosexuelle Frauengruppe« (HFG) ein, die eine Zeitung herausgab: Lesbenfront, später Frau ohne Herz. »Das gemeinsame politische Engagement mit anderen Frauen war extrem wichtig, auch weil es mir die Augen öffnete«, sagt Schweizer. Ihr sei bewusst geworden, dass es auch in der Musik patriarchal zuging. »Bis dahin hatte ich kaum mit Frauen zusammen gespielt, das wollte ich ab sofort ändern«, sagt sie.
1979 schloss sich Schweizer der Feminist Improvising Group (FIG) an. Die Formation war 1977 unter anderem von der Sängerin Maggie Nicols und der Saxophonistin Lindsay Cooper gegründet worden. Es war die erste reine Frauengruppe der Szene. »Wir wollten zeigen, dass es machbar ist, doch das allein war schon eine Provokation«, sagt Schweizer. Die männlichen Kollegen hätten vor allem mit Kopfschütteln reagiert. Der Pianist Alexander von Schlippenbach warf den Musikerinnen sogar vor, dass sie ihre Instrumente nicht beherrschen würden.
»In unserer Musik stand immer das Lustprinzip im Vordergrund, während bei den Männern, ihrer gesellschaftlichen Rolle entsprechend, eher das Leistungsprinzip zählte«, sagt Schweizer: Technik, Schnelligkeit, Ausdauer. Die 2013 verstorbene Lindsay Cooper hat dies so ausgedrückt: »Männer benutzen Rhythmus, Technologie und Improvisation, um dieselbe Macht und sexuelle Dominanz auszudrücken, welche die Frauen unterdrückt.«
Dagegen versuchten Schweizer, Cooper, Nicols und andere Musikerinnen anzuspielen. Anfangs mit mäßigem Erfolg. So ist von der Gruppe, abgesehen von Beiträgen auf Samplern und einer Musikkassette, die Auftritte aus dem Jahr 1979 enthält, nichts auf Tonträgern dokumentiert. Auch die Platten-Labels schauten vor allem auf Musiker und wurden auch von Männern betrieben. In den achtziger Jahren waren es schließlich reine Frauen-Festivals, die zur Emanzipation der Musikerinnen beitrugen. Zu einem verbindenden Element wurde das »1. Internationale Frauen Jazz Festival Canaille«, das 1986 in Frankfurt stattfand und mehrere Fortsetzungen in anderen europäischen Städten fand. Auch etablierte Veranstaltungen wie das Moerser »New Jazz Festival« nahmen plötzlich reine Frauengruppen ins Programm. Derzeit musiziert Schweizer im Duo mit der Saxophonistin Co Streiff und im Trio »Les Diaboliques« mit Maggie Nicols und der französischen Bassistin Joëlle Léandre. Ansonsten tritt sie auf ihren Solokonzerten sowie im Duo mit männlichen Kollegen auf, wie etwa mit den Schlagzeugern Pierre Favre und Louis Moholo oder dem Saxophonisten Omri Ziegele. »Ich habe meinen Beitrag zur Emanzipation geleistet und konzentriere mich jetzt vor allem darauf, Musik zu machen«, sagt Schweizer heute. Es sei jetzt an der jüngeren Generation, neue Freiräume zu erkämpfen oder wenigstens die alten zu erhalten.
Zur angesprochenen jüngeren Generation gehört die Wiener Klarinettistin Susanna Gartmayer. »Ich bin nicht politisch aktiv, sondern sehe meine größte Pflicht darin, gute Kunst zu machen«, sagt sie. Vor 15 Jahren trat die 39jährige mit der Artrock-Band »When Yuppies Go To Hell« erstmals vor einem größeren Publikum auf. Mittlerweile gehört Gartmayer zu den gefragten Musikerinnen in der freien improvisierten Musik. Sie spielt Solo, Duette, im Trio »Möström« mit Elise Mory und Tamara Wilhelm oder im »Vegetable Orchestra«.
Ehe Gartmayer vor Jahren wagte, an einer Session im Wiener Jazzclub »Celeste« teilzunehmen, habe sie viele Jahre zu Hause geübt, sagt sie. »Ich dachte, als Frau müsste ich noch besser sein, um akzeptiert zu werden.« In der Szene wurden die Musikerinnen von ihren Kollegen lange nicht ernst genommen. »Sie sahen in uns endlich jemanden zum Angraben, auch weil im Publikum nicht wirklich viele Frauen sind«, sagt Gartmayer.
Gerade die Musiker der ersten Generation tun sich immer noch schwer damit, Frauen auf der Bühne als gleichberechtigt zu akzeptieren. »Ich habe kein Problem damit, wenn sich jemand mit seiner Männlichkeit wohlfühlt«, sagt Gartmayer. »Ein Problem habe ich nur mit der Idee, man müsse ein Mann sein, um Kunst von Wert hervorbringen zu können.« Aus ihrer Sicht sei es allerdings wichtig, »nicht nur gegen die Männerdominanz anzuspielen, sondern gemeinsam mit Männern die Strukturen zu verändern und die latente oder offenkundige Diskriminierung zu überwinden«. Und es gibt auch Musiker, denen es um interessante Musik geht und nicht darum, ihr phallisches Genie auf der Bühne auszustellen«, so Gartmayer. Einige seien seit Beginn wichtige Kollegen und gute Freunde, wie etwa der Schlagzeuger DD Kern oder der Turntableist Dieb13.
Dennoch sieht sie vor allem ihre Kolleginnen in der Pflicht: »Ich wünsche mir einen eklatanten Anstieg von dilettantischen Teeniebands mit weiblichen Instrumentalistinnen, die, anstatt auf die Rolle der Bewunderin festgenagelt zu werden, einfach mal die Angeberin zum Besten geben«, sagt sie. Auch, um den männlichen »Vorfahren« nach 50 Jahren endlich etwas entgegenzusetzen. Es muss ja nicht gleich das Maschinengewehr sein.