Die Pläne der griechischen Regierung sind nicht revolutionär

Die Kapitalismusretter

Die neue griechische Regierung will die Schuldenzahlungen nachverhandeln. Das sorgt bei vielen europäischen Regierungen für Unmut, doch revolutionäre Pläne sind ohnehin nicht zu erwarten.

Wohl selten ist es einem einzelnen Minister gelungen, innerhalb weniger Tage halb Europa so aufzuwühlen. Kaum war die neue griechische Regierung im Amt, wies Finanzminister Yanis Varoufakis die verhasste »Troika« aus dem Land. Die Repräsentanten von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) gelten in vielen südeuropäischen Ländern als Inkarnation des Schreckens – sie sollen überprüfen, ob sich die jeweilige Regierung an die Auflagen hält, die mit den Hilfszahlungen verbunden sind.
Die Entscheidung kam nicht überraschend, schließlich hatte das linke Bündnis Syriza schon lange versprochen, im Falle eines Wahlerfolgs die umstrittene Sparpolitik sofort einzustellen. Und Varoufakis hatte allen Grund, gleich von Beginn an hoch zu pokern. Auf dem Spiel steht immerhin der Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone. Ohne weitere Hilfszahlungen wäre es in kurzer Zeit bankrott. Umgekehrt hatten die EU-Kommission und die deutsche Regierung vor der Wahl klar gemacht, dass weitere Zahlungen nur erfolgen würden, wenn sich Griechenland an die Spar­auflagen halte.

Dabei könnten die Bedingungen für die neue griechische Regierung besser sein, um ihre Forderungen durchzusetzen. Zu Beginn der Euro-Krise 2009 galt ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone und der damit mutmaßlich verbundene Dominoeffekt auf andere Krisenstaaten noch als größte anzunehmende ökonomische Katas­trophe. Das gesamte europäische Finanzsystem wäre vermutlich zusammengebrochen, zahlreiche Großbanken hätten den Zahlungsausfall nicht überstanden. Mittlerweile sind private Gläubiger kaum noch in griechische Schuldentitel involviert. Zudem verhindern heute der Rettungsfonds und andere Maßnahmen, dass eine Finanzkrise schnell eskalieren kann. Während noch vor wenigen Jahren die Börsenhändler panisch auf die Gefahr eines Euro-Austritts Griechenlands reagierten, betrachten sie nun den Regierungswechsel eher gelassen.
Es ist kein Zufall, dass Syriza ausgerechnet mit der rechtspopulistischen Partei Anel koaliert, die nun den Verteidigungsminister stellt und über gute Kontakte nach Russland verfügt. Zumindest indirekt signalisierte dies, welche Konstellationen nach einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone denkbar wären. Diese Perspektive ist zwar nicht besonders attraktiv – Russland mag politisch und militärisch ein Riese sein, wirtschaftlich gleicht das Land, dessen Bruttosozialprodukt gerade mal jenem Italiens entspricht, hingegen einem Zwerg –, eine Ausdehnung der rus­sischen Einflusssphäre nach Südeuropa ist aber sicherlich ein Szenario, das die EU und Deutschland unbedingt verhindern wollen.

Einen Austritt aus der Euro-Zone will aber auch die griechische Regierung auf jeden Fall vermeiden. Varoufakis hatte bereits im Wahlkampf immer wieder betont, dass er die Spielregeln nicht aufheben, sondern neu verhandeln möchte. Seiner Ansicht nach hat Griechenland nur eine Chance, wenn es dem drückenden Schuldendienst entkommen kann. Die griechischen Außenstände liegen mittlerweile bei 175 Prozent des Brutto­inlandsprodukts beziehungsweise 318 Milliarden Euro – einer Summe, die unmöglich vollständig zurückgezahlt werden kann. Dennoch fließen neue Kredite und zusätzlich generierte Staatseinnahmen in die Schuldentilgung. Obwohl die Regierung spart, wächst das Defizit.
Varoufakis schlägt daher vor, die Rückzahlungen an wirtschaftliches Wachstum zu koppeln. »Ich werde sagen: Helft uns, unser Land zu reformieren, und gebt uns etwas fiskalischen Spielraum, dies zu tun«, erklärte er vergangene Woche während seiner Antrittsreise durch Europa. Die Schuldentilgung soll reduziert werden, um neue Investitionen zu ermöglichen. Nimmt die Arbeitslosigkeit ab, sinken die Sozialausgaben, während die Steuereinnahmen steigen. Zudem verkündete Ministerpräsident Alexis Tsipras am Wochenende einen Aktionsplan, wie seine Regierung künftig Vermögende konsequenter besteuern und Korruption bekämpfen will.
Radikale, gar revolutionäre Pläne sehen sicher anders aus. Vielmehr folgt die griechische Regierung keynesianischen Vorgaben, wie sie sich im Repertoire wohl jeder sozialdemokratischen Partei finden lassen. Varoufakis streitet den reformistischen Charakter seiner Ziele nicht ab. Seine Partei sei nicht angetreten, um den Kapitalismus zu bekämpfen, sondern um ihn zu retten, sagte er bereits vor einem Jahr in einem Vortrag. Von einer fundamentalen Wirtschaftskrise würde in Europa nur die extreme Rechte profitieren, führte er weiter aus, weil die Linke derzeit weder organisatorisch noch inhaltlich in der Lage sei, eine gesellschaftliche Alternative zu bieten. Warum seine Partei nun ausgerechnet den Rechtspopulismus, den sie verhindern will, durch eine Koalition regierungsfähig macht, erläuterte Varou­fakis nicht.
Vermutlich hat er auch ganz andere Probleme, denn in den europäischen Machtzentren stößt er mit seinen Plänen auf wenig Begeisterung. Allen voran stellte die deutsche Bundesregierung klar, dass sie an getroffenen Vereinbarungen festhalten will. Sie hat auch wenige Gründe, Varou­fakis entgegenzukommen, denn sie gehört zu den größten Gewinnern der Euro-Krise. Deutschland zieht wie ein Staubsauger Kapital und qualifizierte Arbeitskräfte aus den Krisenregionen an. Während halb Europa in den vergangenen Jahren in Arbeitslosigkeit und Schulden versank, konnte sich der deutsche Fiskus über rekordverdächtige Steuereinnahmen freuen und kürzlich erstmals seit Jahrzehnten einen ausgeglichen Haushalt vorweisen. Möglich wurde dies, weil die Bundesregierung so günstig wie keine andere Regierung eines EU-Landes Kredite aufnehmen kann – teilweise zahlen Investoren sogar Geld dafür, um ihr Vermögen im »sicheren Hafen« Deutschland anzulegen. Zudem drücken die Schulden­krise und die damit verbundene EZB-Politik den Wert des Euro, was wiederum der deutschen Exportwirtschaft zugute kommt. Kein anderes Land exportiert so viel wie Deutschland. Insgesamt führten deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von über einer Billion Euro aus, mehr als China und Saudi-Arabien zusammen.

Dass ein extremer Handelsüberschuss einem entsprechend großem Defizit in anderen Ländern gegenüber stehen muss, scheint jedoch in Deutschland kaum jemanden zu stören. Stattdessen polemisieren die Kommentatoren in den deutschen Medien erneut gegen die liederlichen Griechen. Als »Griechenlands charmanter Brandstifter« bezeichnete der Spiegel Ministerpräsident Tsipras, um in der Titelgeschichte dessen perfiden Plan zu denunzieren. »Schluss mit dem Sparen, Milliarden für die Armen: Mit solchen Botschaften kommt Alexis Tsipras bei den Wählern in Griechenland an«, heißt es darin. Tsipras hatte im Wahlkampf unter anderem angekündigt, 9 000 widerrechtlich entlassene Staatsangestellte wiedereinzustellen. In den vergangenen Jahren waren über 220 000 Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor gestrichen worden.
Wenig später legte die größte deutsche Boulevardzeitung nach. Bild hat dem Schrecken schon einen Namen gegeben: »Costas Unsdas« – und fragte: »Wie teuer wird das Griechen-Chaos für uns?«
Tatsächlich könnte Deutschland bei einem Schuldenschnitt bis zu 50 Milliarden Euro verlieren, die an Kredithilfen geleistet wurden. Der Vorschlag von Varoufakis, die Rückzahlung über Jahrzehnte zu strecken, würde faktisch zum gleichen Ergebnis führen, wenngleich dieser Schritt vielleicht mit weniger öffentlichem Aufsehen verbunden wäre. Vielleicht lässt sich Schäuble darauf ein, zumal auch er weiß, dass eine Rückzahlung der Schulden utopisch ist.
Viel schwerer wiegt für ihn hingegen der Kon­trollverlust, den ein Kompromiss mit sich bringen würde. Ohne Troika lässt sich der deutsche Krisenplan kaum aufrechterhalten. Gut möglich, dass nach Griechenland bald andere Länder folgen, die dann ähnliche Bedingungen fordern könnten. In Spanien werden dem Bündnis Podemos, das sich an Syriza orientiert, gute Aussichten bei den kommenden Wahlen prognostiziert.
Schäuble wird daher alles versuchen, um den Preis für die Koalitionsregierung in Griechenland hoch zu treiben. Die prompte Reaktion der EZB, die nach dem Rauswurf der Troika erklärte, künftig keine griechischen Staatsanleihen mehr aufzukaufen, erhöht den Druck. Hinzu kommt, dass viele Griechinnen und Griechen ihr Vermögen ins Ausland transferieren. Zwar können sich die griechischen Banken über die Notfallkredite der EZB zunächst weiter finanzieren. Aber die Zeit wird knapp. Am Wochenende hat Tsipras in einer Rede eine Verlängerung der bisherigen IWF-Kre­dite klar zurückgewiesen. Bis Ende Februar muss seine Regierung nun eine neue Vereinbarung mit den Gläubigern erzielen, sonst droht der Bankrott. Nach Tsipras’ Auftritt stufte die einflussreiche Anlagebank LNG Capital die Wahrscheinlichkeit eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone auf 50 Prozent ein.
Auf Finanzminister Varoufakis und seine Regierung kommen also wichtige Tage zu. Als Wirtschaftswissenschaftler und Spieltheoretiker ist er immerhin mit schwierigen Gleichungen vertraut. Und so es ist nicht ausgeschlossen, dass er mit den Gläubigern am Ende eine verträgliche Lösung findet. Vorausgesetzt, er hat sich bei den vielen unbekannten Variablen nicht doch irgendwo verrechnet.