Berlin Beatet Bestes. Folge 277.

Vor zappelnden Enkeln

Berlin Beatet Bestes. Folge 277. White Eagle Jazz Band: Memories (1973).

Seit Jahren sehe ich mindestens zwei Bands pro Woche, aber richtige Konzerte sind es eigentlich nicht. Die Jazz-Bands spielen auf Tanzveranstaltungen und die Tänzer hören oft nicht richtig hin. Wenn man nur Zuhörer ist, kann man sich ganz auf das Zusammenspiel der Musiker konzentrieren, Swing-Tänzer sind zuerst mit sich selbst und ihren Partnern beschäftigt. Und als Anfänger hörst du die Musik so gut wie gar nicht, du versuchst nur dem Rhythmus zu folgen, das ist schon schwer genug. Obwohl beide den gleichen Song hören, gibt die führende Person den Rhythmus vor, der Geführte folgt, auch wenn der Leader grade falsch liegt. Stoisch tanzen Anfänger über jedes Schlagzeug-Solo hinweg. Fortgeschrittene Tänzer hingegen interpretieren die Breaks und die improvisierten Soli. Das macht Live-Musik zu ganz besonderen Erlebnissen sowohl für die Tänzer als auch für die Musiker.
Vergangene Woche ging ich, wie jeden Dienstag, in den Berliner Bassy-Club. Als die Band auf der Bühne stand, fragte ich den Mann mit der Trompete, ob ich den Auftritt mit einem kleinen digitalen Aufnahmegerät mitschneiden dürfte. Seit einiger Zeit spiele ich diese Live-Aufnahmen dann in meiner monatlichen Swing-Radiosendung »Outside Turn«. Der Trompetenspieler stutzte: »Warum willst du das denn aufnehmen? Das wird doch viel zu schlecht klingen. Wir haben auch CDs.« Darauf ich: »Aber ich finde es ja gerade gut, wenn das Publikum noch zu hören ist …  die Live-Atmosphäre!« Er zuckte mit den Schultern: »Na, mach ruhig.« Leider funktionierte mein Aufnahmegerät dann doch nicht, die Batterie hatte sich entladen. Am Ende des Konzerts kaufte ich die CD, bedankte mich und steckte sie ohne zu gucken in die Tasche. Erst zuhause sah ich, dass es sich um eine Wiederveröffentlichung eines Live-Konzerts von 1973 handelte. Ja, eines Konzerts von Neunzehnhundertdreiundsiebzig! Raimer Lösch, der Mann an der Trompete, spielte offensichtlich schon damals in der Berliner White Eagle Jazz Band und begleitete an jenem 19. Oktober 1973 den Posaunisten Louis Nelson aus New Orleans. Auch auf der CD ist das Publikum zu hören, einzelne Soli werden immer wieder mit Applaus belohnt, aber die Aufnahmequalität ist durchweg gut. Wie immer im Jazz, so sind auch im New-Orleans-Stil die Improvisationen das eigentlich Herausragende. Oft ist nur auf Live-Aufnahmen zu hören, wie die Musiker sich richtig gehen lassen, ihre Soli voll ausspielen und die Songs im Durchschnitt auf fünf bis sechs Minuten ausdehnen. Für Tänzer fast zu lang. Aber vergesst die Tänzer, die haben die Musik nie befördert.
An diesem Abend allerdings schon. Die seit 1968 existierende White Eagle Jazz Band spielte vor einem Haufen junger Tänzer, die ihre Enkel sein könnten, ein wirklich mitreißendes Set. Vor ihren Augen wurden Schlagzeug-, Bass- und Klarinettensoli sichtbar. Getanzte Bilder, improvisiert wie die Musik selbst. Und sogar Szenenapplaus gab es. Von Leuten, die die Hände frei hatten.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.