Wissenschaft als soziales Verhältnis

Die hysterische Risikogesellschaft

Die Debatte um die Masernimpfung hat gezeigt, dass die Gesellschaft grundsätzlich nicht bereit ist, Wissenschaft als soziales Verhältnis zu reflektieren.

Die Öffentlichkeit ist aufgeregt: Impfen, ja, nein? Was kann da alles passieren? Was ist über die Folgen, die Spätfolgen bekannt? Was wird an Gefahren verheimlicht, bringt Impfen überhaupt Schutz, welche Rolle spielt die Pharmaindustrie?
Dass sich an der jüngsten epidemischen Verbreitung von Masern in Berlin und anderswo eine grundsätzliche Impfdebatte entfachte, steht mehr als nur exemplarisch für das, was bereits 1986 der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck als Risikogesellschaft bezeichnete. Mehr als exemplarisch deshalb, weil solche Debatten heute stärker als früher von psychischen Dispositionen der Individuen durchsetzt sind, die zu einem bestimmten Typus gehören, der sich in den vergangenen Jahrzehnten eben im Windschatten der Risikogesellschaft konstituierte: nachbürgerliche Subjekte, die sich freiwillig einer Selbstoptimierungsstrategie unterwerfen, mit der verschiedene Zwänge, Erfolgsdruck, Versagensängste, Überforderung etc. zu einem leistungsorientierten, tatsächlich aber ziemlich irren, von Wahnvorstellungen durchsetzten Verantwortungsbewusstsein zusammengeschlossen sind.
Voraussetzung dafür ist eine – meistens über eine akademische Ausbildung abgesicherte – Informiertheit, die sich als Bescheidwissen geriert und mittlerweile ökonomisch kompatibel im lebensweltlichen Konsumangebot für die sozial Bessergestellten fest integriert ist, zwischen Bio-Supermarkt, homöopathischen Arztpraxen und den unzähligen Lifestyle- und Wellness-Angeboten. Die Wirklichkeit bekommt hier einen Oberflächenputz, der sofort Risse zeigt, sobald kleine oder große, reale oder fiktive Katastrophen in den ökologisch gestalteten Alltag einbrechen.
»Wirklichkeit«, so erklärte der Soziologe Christoph Lau 1989 Becks Begriff der Risikogesellschaft, werde »nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen«. Die Stabilität wie Legitimität sozialer Strukturen wird nun nicht mehr über allgemeine Vorstellungen von einer Klassen- oder Industriegesellschaft erklärt, sondern über Vertrauens- und Glaubwürdigkeit einer von Wissenschaft und Technik regulierten oder zumindest regulierbaren Lebenswelt. Klassische bürgerliche Institutionen, Verbände, Parteien bieten den Einzelnen beziehungsweise Vereinzelten keinen Halt mehr. Sie sind, um irgendwie Vertrauen in Gegenwart und Zukunft zu bekommen, auf Experten angewiesen, deren hochspezialisiertes Wissen gleichzeitig – auch das gehört ja zu den Entwicklungen seit den achtziger Jahren – medial, insbesondere übers (Privat-)Fernsehen spektakulär und unterhaltsam, in Talkshows und Infotainment, plausibel in die Diskurse des allgemeinen Bewusstseins eingespeist werden muss. Das gemeinsame Interesse ist bloß noch eine Anhäufung individueller Interessen, die allerdings so weit nivelliert sind, dass sie als ein großes gesellschaftliches Gesamtinteresse erscheinen können oder jedenfalls als solches imaginiert in den jeweiligen öffentlichen Debatten verhandelbar sind.
Das »Wir«, das damit erzeugt wird, ist politisch konservativ und setzt sich aus einem Sammelsurium pseudorationaler, irrationaler und vor allem emotionaler Befindlichkeiten zusammen. Soziale Ohnmacht wird durch einen panischen Aktionismus kompensiert. Aufgefangen wird das wiederum durch eine Logik des Sachzwangs, über die zugleich längerfristig auch politische Loyalität garantiert wird: Problemlösung heißt dabei in der Regel Problemverdrängung. Die Konsequenz der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war eben nicht die sofortige Stilllegung aller Nuklearenergieanlagen, sondern eine technische Optimierung, bei der der Ausstieg aus der Atomenergie ein bürokratischer Beschluss ist, der nur sehr zögerlich umgesetzt wird.
Ähnlich ist es auch bei der Impfdebatte. Sie wird wenig an der jetzigen Impfpraxis ändern, egal was schließlich für ein Stimmungsbild öffentlicher Meinung propagiert wird. Gott sei Dank, will man da vielleicht sagen, wenn sich die esoterischen Impfgegner nicht behaupten können. Und wenn es doch so etwas wie die Einführung einer Impfpflicht nach US-amerikanischem Vorbild gäbe, hielten sich die gesellschaftlichen Effekte wohl in Grenzen, abgesehen davon, dass manche ihre Verschwörungstheorien über die Machenschaften einer global agierenden Pharmaindustrie bestätigt fänden.

In solchen Debatten bleibt eine Kritik als reflexive Herrschaftskritik ausgespart, die Wissenschaft als soziales Verhältnis insgesamt und grundsätzlich in den Blick nimmt. Gerade bei den Konflikten, die die Folgen von wissenschaftlichen und technischen Verfahren hinsichtlich Gesundheit und Krankheit betreffen, werden Elemente der Gegenaufklärung manifest. Statt hieran eine grundsätzliche, mit Karl Marx gesagt: sinnlich-praktische Kritik am zur zweiten Natur gewor­denen Kapitalverhältnis zu formulieren, die auf eine Humanisierung der ersten Natur hinaus­liefe (nämlich, wieder Marx, auf den Kommunismus), wird allerhöchstens der Mensch in seinen entmenschlichten Formen falscher Vergesellschaftung ohnmächtig gegen den übermächtigen Lügenapparat der Konzerne, der Politik, der Presse und der Wissenschaft verteidigt. Im Fall der Impfdebatte sind das etwa die besorgten Muttis, denen es um das Wohl ihrer Kinder geht, was bei Impfgegnerinnen wie -befürworterinnen gleichermaßen bloß ein Synonym dafür ist, dass alles – sie, die Kinder, die Familie und vor allem der Job und der daran klebende Lebensentwurf – möglichst störungsfrei und reibungslos funktionieren soll. Dass im Übrigen auch bei der Impf­debatte einmal wieder und immer noch, in direkter Analogie und ohnehin ernst gemeint, das antiquierte Bild von David gegen Goliath bemüht wird, deutet auf beides: den Zustand der Gesellschaft und die Unfähigkeit, diesen Zustand zu reflektieren.
Was Beck Risikogesellschaft nannte, hatten andere wie Ivan Illich bereits zuvor als Technokratie beschrieben. Jürgen Habermas, der Becks Befund in den achtziger Jahren mit seinen Thesen zur »neuen Unübersichtlichkeit« flankierte, hatte schon Ende der Sechziger mit noch gesellschaftskritischem Elan von »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹« gesprochen. Solche Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein durchwirkt die sogenannte Impfdebatte und die mit ihr verbundene vermeintliche Auseinandersetzung über Wissenschaft im Allgemeinen und Medizin im besonderen – und zwar auch und gerade dort, wo sich scheinbar das Paradigma von naivem Fortschrittsoptimismus zur Wissenschaftsskepsis verschoben hat.

Auch insofern ist die Impfdebatte mehr als nur exemplarisch für die Risikogesellschaft, weil sie von einer Hysterie begleitet wird, die offenbar mit Aufklärung und Fakten kaum noch bewältigt werden kann. Voraussetzung für jede Argumentation, ob pro oder contra, ist die prinzipielle Einverständniserklärung mit den herrschenden Verhältnissen. Zugleich werden die Bereiche, die in den Debatten in Betracht gezogen werden, pseudokonkret als Phänomene verabsolutiert: Nicht die allgemeine Verwertungslogik ist das Problem, sondern die besondere Profitgier der Pharmakonzerne, nicht der verdinglichte Posi­tivismus des Wissenschaftsbetriebs ist das Problem, sondern die partielle Unverantwortlichkeit einzelner Forschungsbereiche. Dass bei der Impfdebatte in Hinblick auf die mögliche Impfpflicht sogleich die Einschränkung von Selbstbestimmung und Freiheit ernsthaft moniert wird, verleiht der verschwörungstheoretischen Chimäre auch noch eine politische Färbung.
Das alles spricht jedoch weniger für einen homogen gefestigten Sozialcharakter als vielmehr, im Gegenteil, für eine völlige Diffusion, Sedimentierung und Fragmentierung von Bewusstseinslagen, deren praktische Rückkoppelung mit konkreten sozialen Verhältnissen beziehungsweise, mehr noch, mit konkreter gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit gänzlich arbiträr bleibt.

Verschärft hat sich in der hysterischen Risikogesellschaft damit das, was Jürgen Habermas einmal als »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus« beschrieb: Nach dem Spätkapitalismus, also heute, hat sich Gesellschaft so weit einerseits in einer verwalteten Welt verdichtet, andererseits in lebendigen Beziehungen erfahrungsfähiger Menschen entsozialisiert, dass Probleme überhaupt nicht mehr als Probleme erscheinen, es sei denn, sie werden in irgendeiner Fernsehdokumentation auf Arte oder 3Sat hübsch und gefällig gemacht.
Auch darin spiegelt sich das disparat gewordene soziale Verhältnis von Wissenschaft und Technik als Ideologie. Digitalisierung, Kybernetik und Informatik haben ihren Anteil daran. Nach Vilém Flusser lässt sich das mit einem absurd anmutenden Befund umklammern: »Wir wissen immer mehr. Aber es gibt auch qualitative Tendenzen. Zum Beispiel ließe sich die These vertreten, dass unser Wissen immer unbefriedigender wird und der Grad der Unzufriedenheit als Maßstab für den Fortschritt der Wissenschaft dienen kann: Je unbefriedigender ein Wissen (eine Erklärung), desto fortgeschrittener. Bezüglich Wissen heißt Befriedigung, eine Frage beantwortet zu haben. Eine völlig befriedigende Erklärung erschöpft die Frage, und es bleibt nichts zu fragen übrig.«
Überdies: »›Glauben‹ bedeutet nicht mehr Fürwahrhalten, sondern Vertrauen. ›Wissen‹ bedeutet nicht mehr, eine unbezweifelbare, sondern eine anzuzweifelnde, aber vertrauenswürdige Information zu besitzen.« Das heißt, so Flusser: »Wir glauben an die Wissenschaft und halten das religiöse Erleben für eine der Quellen des Wissens.«
Mit dem risikogesellschaftlichen Dispositiv, Sicherheit haben und Gefahren ausschließen zu wollen, kollidiert das. Wo der »elegante Unsinn« (Alan Sokal, 1996) heute nicht mehr den sogenannten Geisteswissenschaften vorbehalten ist, sondern längst auch die Naturwissenschaften in allen ihren Fakultäten chic macht, insbesondere da, wo angeblich die harten Fakten präsentiert werden (Hirnforschung), ist eben auf Experten kein Verlass mehr. Vertrauen auf die Experten garantiert mitnichten Sicherheit. Eine Diskrepanz, die Ivan Illich bereits Ende der siebziger Jahre charakterisierte, als er vom »antisozialen Charakter der Funktionen von Leuten« sprach, »deren Wert für die Gesellschaft kaum angezweifelt wird – Erzieher, Ärzte, Sozialarbeiter, Naturwissenschaftler«. Aufklärung wäre nötig. Stattdessen setzt sich fort, was damals als »Entmündigung durch Experten« diagnostiziert wurde: Schließlich folgen auch die homöopathisch und bioökologisch versorgten Skeptikerinnen und Skeptiker von Wissenschaft und Technik denselben Idealen, nach denen Mensch und Natur funktional zugerichtet werden. Die Katastrophe des Kapitalismus dabei ohne Impfschutz zu erleben, wird gewiss kein Vorteil sein.