Menschen mit Behinderung und Hartz IV

Ministerielle Hindernisse

Seit vier Jahren müssen sich erwachsene Menschen mit Behinderung, die noch bei ihren Eltern leben, mit deutlich weniger Grundsicherung begnügen als nichtbehinderte Hartz-IV-Bezieher in der gleichen ­Situation. Damit soll nun Schluss sein, doch von allein hat das zuständige Ministerium nicht reagiert.

Das Leben mit Hartz IV ist für niemanden einfach. Doch besonders schwer gestaltete sich in den vergangenen Jahren das Leben mit der Grundsicherung für Menschen mit Behinderung. Zumindest für diejenigen von ihnen, die noch bei ihren Eltern leben. Seit 2011 müssen sie auf 20 Prozent des Hartz-IV-Satzes verzichten. In Geld ausgedrückt sind das monatlich 80 Euro. Geschuldet ist diese deutliche Schlechterstellung einer Neuregelung der Regelbedarfsstufen durch die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung. Damals wurden die Stufen unter der Ägide der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) neu organisiert. Und dabei fiel der beschriebene Personenkreis von der Regelbedarfsstufe I auf die deutlich schlechter gestellte Regelbedarfsstufe III.

Bereits kurz nach dem Bekanntwerden dieser Abstufungen liefen Selbsthilfeorganisationen und Sozialverbände dagegen Sturm. »Die Lebenshilfe hat bereits im Gesetzgebungsverfahren Kritik an der Einführung der Regelbedarfsstufe III geäußert und – leider erfolglos – versucht, noch eine Änderung des Gesetzes zu erreichen«, teilte die Selbsthilfeorganisation in einer Presseerklärung mit. Verhindert werden konnte die Regelung nicht mehr. Warum es gerade den schwächsten Teil der Hartz-IV-Pyramide traf, war in der Folge nicht mehr nachvollziehbar. »Da kann man nur vermuten, dass einfach Sparvorgaben eingehalten werden mussten, ohne genau zu gucken, wen treffen wir damit eigentlich«, vermutet Ottmar Miles-Paul, ehemaliger Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung von Rheinland-Pfalz. In den folgenden Jahren kam es neben Protesten auch zu einer Klagewelle gegen die neue Regelbedarfsstufe.
Immerhin betrifft die Einstufung rund 30 000 bis 40 000 Personen. Susanne Stojan-Rayer hat als Rechtsanwältin mehr als 300 Fälle vor Gericht vertreten. »Wahrscheinlich folgte man bei der Neugestaltung der Prämisse, dass Behinderte im Gegensatz zu nichtbehinderten Hartz-IV-Beziehern dem Arbeitsmarkt nicht dauernd zur Verfügung stehen müssen«, vermutet die Kieler Anwältin, die auf Familien- und Sozialrecht spezialisiert ist. Doch viele der Betroffenen arbeiteten in einer Werkstatt für Behinderte und wurden durch die Kürzung doppelt diskriminiert.
Als Arbeitnehmer mussten sie eine Kürzung von 20 Prozent hinnehmen. Viel verdient man in einer Werkstatt für Behinderte nicht. Das geltende Recht schreibt den Werkstätten vor, mindestens 70 Prozent ihres erwirtschafteten Arbeitsergebnisses als Arbeitsentgelte an die behinderten Beschäftigten auszuzahlen. Im Schnitt waren das 2014 rund 180 Euro im Monat. Die Differenz zur Grundsicherung wird aufgestockt – jedoch abzüglich der besagten 80 Euro. Einem Nichtbehinderten, der noch bei den Eltern lebt, steht ab dem 25. Lebensjahr hingegen die volle Grundsicherung zu.

Diese absurde Abstufung der erwachsenen Hartz-IV-Bezieher monierte im Sommer vorigen Jahres auch der Achte Senat des Bundessozialgerichts in Kassel. In drei Grundsatzurteilen entschieden die Richter, die bisherige Kürzung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bundesrepublik im März 2009 ratifiziert hatte. Das Bundes­sozialgericht urteilte, dass diese Einstufungen eventuell nicht verfassungskonform seien, und forderte die Ämter auf, sofort allen Betroffenen die volle Grundsicherung zu zahlen. Gesagt – getan. So sollte man meinen. Schließlich ist das Bundessozialgericht nicht irgendein Provinzgericht, sondern die oberste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland. Doch in der Folge schaltete sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ein.
»In einem Rundschreiben forderte das BMAS die Landessozialbehörden auf, dem Urteil nicht zu folgen«, sagt Stojan-Rayer. Wörtlich heißt es in dem Schreiben, über das auch das ARD-Magazin »Report Mainz« berichtete, dass das Ministe­rium »die Auffassung des Achten Senats (des Bundessozialgerichts; Anmerkung der Redaktion) nicht teilt«. Und wird in der Folge noch konkreter: »Anders als der erkennende Senat geht das BMAS nicht davon aus, dass die Regelbedarfs­stufe III Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Behinderteneigenschaft diskriminiert.« Und schließlich folgte noch eine direkte Handlungsanweisung für die Grundsicherungsämter. »Solange das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften über die Regelbedarfsstufe III nicht vollständig oder teilweise für verfassungswidrig und deshalb für nichtig erklärt, gelten diese in ihrer jetzigen Form fort«, so das BMAS in seinem Rundschreiben.
Stojan-Rayer, die auch Vorsitzende des Vorstands der Lebenshilfe Schleswig-Holstein ist, hat genau wegen dieser Diskriminierung viele Betroffene in Verfahren vertreten und Widerspruch gegen die Einstufung Behinderter in die Regel­bedarfsstufe III eingelegt. Die Verfahren ruhen, bis eine endgültige Entscheidung beziehungsweise gesetzliche Regelung getroffen wird.

Seit der vergangenen Woche zeichnet sich nun ein Wandel in der Haltung des BMAS ab. Erwachsene Menschen mit Behinderung sollen ab sofort den vollen Sozialhilfesatz erhalten, auch wenn sie nicht in einem eigenen Haushalt leben können. Wenn sie beispielsweise bei ihren Eltern wohnen, bekommen sie künftig 80 Euro mehr im Monat. Eine entsprechende Weisung solle an die Bundesländer gehen, sagte ein Sprecher von So­zialministerin Andrea Nahles (SPD). 2016 soll über eine gesetzliche Neuregelung der sogenannten Regelbedarfsstufe III für Behinderte beraten werden. Bis dahin sind die Ämter aber nun endlich angehalten, den vollen Satz zu zahlen.
»Der öffentliche Druck hat nun doch etwas bewirkt und natürlich ist es sehr erfreulich und ein großer Erfolg, aber man muss leider gleichzeitig wachsam bleiben, was ab 2016 geschehen wird. Denn noch ist unklar, was zum Beispiel mit den ruhenden Verfahren und den Widersprüchen geschieht. Hier ist nicht klar, ob die Kläger rückwirkend die entgangenen Leistungen erhalten«, warnt Stojan-Rayer.
Das BMAS beschwichtigt an dieser Stelle. »Geplant ist, dass kein Betroffener einen Antrag stellen muss, damit er die Nachzahlungen erhält. Haben Betroffene bereits Überprüfungsanträge oder Widersprüche eingelegt, so werden deren Bescheide im Rahmen des jeweiligen Verfahrens entsprechend geändert werden, ruhend gestellte Verfahren sind wieder aufzunehmen. Die Nachzahlung erfasst die Jahre 2013 und 2014, insofern sind gesetzliche Vorschriften zur Rückwirkung zu beachten«, so formuliert es eine Sprecherin des BMAS.
Also eine Geschichte mit Happy End? Wenn man lediglich die Anhebung der Regelbedarfsstufen betrachtet, kann man zustimmen. Doch die jahrelange Aussetzung der Gleichstellung wirft ein grundsätzliches Licht auf die Art und Weise der Inklusion in Deutschland – im Jahre sechs nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention. »Hinter dem gesamten Rechtsstreit steht eine grundsätzliche Verweigerung des selbständigen Lebens von Menschen mit Behinderung. Es ist eine eigene Rechtsprechung«, gibt Stojan-Rayer zu bedenken. Miles-Paul, der mittlerweile Pressesprecher des »Netzwerk Artikel 3« ist, pflichtet ihr bei und ergänzt: »Die eigentliche Frage bei dem Ganzen ist doch auch, warum erwachsene Menschen mit Behinderung häufig noch bei den Eltern leben und nicht mitten in der Kommune?«