Nareen Shammo im Gespräch über die Verbrechen des IS an Yeziden im Irak

»Das Problem ist nicht nur der IS«

Als die Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) im August 2014 die überwiegend von Yeziden bewohnte irakische Region Sinjar eroberte und Tausende Frauen verschleppte, kündigte Nareen Shammo ihren Job als Journalistin, um sich der Befreiung der Entführten zu widmen. Sie sprach mit Parlamentariern in Europa, im Januar übergab sie dem Internationalen Strafgerichtshof Beweise für an Yeziden begangene Verbrechen. Im März wurde ihr für dieses Engagement der Clara-Zetkin-Frauenpreis der Linkspartei verliehen.

Wie sieht Ihre derzeitige Arbeit aus?
Ich habe begonnen, Verbrechen gegen yezidische Frauen zu dokumentieren, ich suche nach entführten Frauen, versuche mit ihnen in Kontakt zu treten und ihre Situation den UN und der Weltöffentlichkeit zu beschreiben. Es ist meinen Mitstreiterinnen und mir auch gelungen, die Freilassung von entführten Yezidinnen zu erreichen und sie im Anschluss zu unterstützen. Hauptsächlich versuche ich, die Aufenthaltsorte entführter Yezidinnen herauszufinden und Möglichkeiten für einen Freikauf durch ihre Familien oder für ihre Flucht zu finden. Wir konnten schon etwa 20 Frauen zur Flucht verhelfen.
Weshalb haben Sie sich entschieden, selbst aktiv zu werden? Wäre hier nicht die irakische Regierung verantwortlich?
Ich habe mich nicht dafür entschieden, ich bin in diese Situation geraten. Ich hatte oft das Gefühl, dass die Yeziden von der Regierung allein gelassen wurden. Am 3. August haben das Militär und die Peshmerga (Truppen der kurdischen Regionalregierung des Nordirak, Anm. d. Red.) meine Leute im Stich gelassen. Der IS hat die Sinjar-Region erobert und 3 000 Männer und alte Frauen ermordet. Als yezidische Frau habe ich es einfach als meine Aufgabe und Verantwortung gesehen, etwas zu tun. Außerdem bin ich eine erfahrene Journalistin und habe gute Beziehungen zu internationalen Medien und Organisationen.
Gab es schon vor dem 3. August Gründe, für yezidische Belange aktiv zu werden?
Es gab schon vorher Hass auf Yeziden. Als ich als Journalistin bei einem lokalen Sender gearbeitet habe, weigerten sich viele, mir Interviews zu geben, nachdem sie erfahren hatten, dass ich Yezidin bin. Sie nannten mich eine Ungläubige. Sie glauben, dass wir den Teufel anbeten, aber wir beten Gott an. Nicht alle denken so, ich habe viele nichtyezidische Unterstützer. Viele sagen, es tut uns leid, dass wir dir nicht helfen können, aber unsere Gesellschaft lehnt Yeziden ab.
Sie können alle Yeziden im Irak fragen, ob sie sich sicher fühlen, und sie werden das verneinen. Und nicht nur, weil der Irak ein gefährlicher Ort ist. Das Problem ist nicht nur der IS. Es gab Schläferzellen, und als der IS in die Städte kam, haben sie sich ihm angeschlossen und gegen meine Leute gekämpft. Sie haben unsere Mädchen vergewaltigt und verkauft. Das ist sehr schwierig, denn man kann seinen Nachbarn nicht trauen, man kann auch der Regierung nicht trauen, deren Militär uns im Stich gelassen hat. Es ist sehr schwierig, sich eine Zukunft im Irak vorzustellen.
Wie viele Menschen wurden entführt?
Insgesamt wurden über 7 000 Menschen entführt. Etwa 1 000 konnten fliehen oder wurden freigekauft. 1 500 Kinder werden nun als künftige Jihadisten und Terroristen ausgebildet. 5 000 der Entführten waren Frauen, sie wurden vergewaltigt und nach Saudi-Arabien, Libyen, Afghanistan, Libanon und Syrien verkauft oder als Geschenke für IS-Führer und Unterstützer vergeben. In Syrien soll es über 3 000 dieser Frauen geben.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie entführte Frauen und Mädchen zu befreien versuchen?
Zu Beginn war ich alleine, aber ab Mitte September 2014 haben mich viele Aktivistinnen und Aktivisten kontaktiert, die auch etwas tun wollten. Das Wichtigste, was wir erreicht haben, ist, den Entführten Hoffnung zu geben. Ich habe vor kurzem eine Yezidin getroffen, der die Flucht gelungen ist. Sie sagte mir, dass sie oftmals versucht war, sich das Leben zu nehmen. Aber als sie sich dann an uns erinnerte, wurde ihr klar, dass Gott für sie einen Plan hat, dass sie durchhalten und alles versuchen muss, um zu fliehen. Aber wir sind nur einige Personen und können nicht alles leisten. Es sind nun acht Monate verstrichen, und bislang hat die Regierung absolut nichts für die Freilassung der Entführten unternommen. In Gegenden wie Tal Afar wäre es sehr leicht, sie zu befreien, und dort befinden sich etwa 3 000 Yezidinnen.
Wie kommen Sie mit den Entführten in Kontakt?
Im August, September und Oktober war ich mit über 300 Entführten in Kontakt. Ich habe versucht, ihre Stimme zu sein, Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Aber danach ist der Kontakt mit den meisten Entführten abgebrochen, denn der IS hat das Mobilfunknetz und auch den Strom abgeschaltet, viele wurden an andere Orte geschickt. Mädchen haben mir am Telefon berichtet, dass sie aufgefordert wurden, sich zu waschen, damit sie als Geschenk für Jihadisten nach Syrien geschickt werden können, denn sie seien jetzt rechtlose Sklaven. Mir hat ein IS-Kämpfer am Telefon gesagt: »Sie gehören uns, wir haben das Recht, alles mit ihnen zu machen.« Sie verkaufen sie auch, nicht nur innerhalb des IS, das ist ein Geschäft. Ich habe Angst, dass wir viele an den Menschenhandel verlieren. So zerstören sie die yezidische Gemeinschaft. Oft werde ich auch von IS-Leuten angerufen, die meine Nummer abgefangen haben. Sie bedrohen mich mit dem Tod, manche sagen, ich solle aufhören, denn die Entführten seien nun Muslime, manche laden mich selbst ein, zum Islam zu konvertieren.
Welche Regionen sind unter Kontrolle des IS, und wie steht es um die Versuche, sie zu befreien?
Die Provinz Mossul ist seit dem 10. Juni 2014 unter IS-Kontrolle, dann haben sie die Tal-Afar-Region erobert und seit dem 3. August auch Sinjar an der Grenze zu Syrien. Inzwischen kämpfen die Peshmerga gegen den IS, und auch Teile des irakischen Militärs in Mossul. Aber als ich in Bagdad war und mich mit einigen Leuten in hohen Positionen getroffen habe, haben sie mir erzählt, sie hätten einen Plan, im April eine große Offensive zu starten. Ich habe sie gefragt, ob sie auch einen Plan zur Befreiung unserer Entführten haben, und die Antwort war nein. Das war sehr hart für mich und meine Kolleginnen. Wir haben gesagt, dass wir immer noch irakische Bürgerinnen und Bürger sind und dass der Staat die Verantwortung hat, die Entführten zu befreien. Daraufhin meinten die Offiziellen, dass sie dafür einen Plan entwerfen würden.
Erhalten Sie Hilfe von den Peshmerga?
Haben Sie in den vergangenen acht Monaten davon gehört, dass die Peshmerga Yezidinnen befreit haben? Sie haben es nicht einmal versucht. Aber es muss etwas geschehen.
Welche Unterstützung haben die Yeziden von der »internationalen Gemeinschaft« erhalten? Was wird benötigt?
Die Yeziden wollen in ihrem Land bleiben, aber sie brauchen Sicherheitsgarantien. Man sollte den yezidischen Kämpfern Waffen liefern. Deutschland liefert den Peshmerga Waffen, aber ich kenne mehr als drei kämpfende yezidische Gruppen in Sinjar. Sie kaufen ihre Waffen, denn von den Peshmerga erhalten sie nichts, weil sie Yeziden sind. Die Yeziden müssten sich selbst schützen können, auch die irakischen Christen wollen sich selbst verteidigen können. Wir benötigen Waffen, Ausbildung und anderen Dinge, denn die Regierung konnte uns mehr als einmal nicht schützen. Das ist der 74. Völkermord gegen die Yeziden, nicht der erste.
Außerdem sollten die yezidischen Opfer, die entführt wurden, deren Familien ermordet wurden, willkommen geheißen werden. Sie können nicht in Sinjar bleiben. Viele sagten mir, wie kann ich in Sinjar bleiben, wenn jeder Ort mit Erinnerungen an Gefangenschaft, Mord und Vergewaltigung verbunden ist? An einem Ort, an dem man dem Nachbarn nicht trauen kann?
Es wurde viel über Kobanê berichtet, und man hatte den Eindruck, dass Sinjar vergessen wurde.
Ich habe das Gefühl, dass die ganze Welt Sinjar vergessen hat. In den zehn Tagen nach dem 3. August 2014 sind Yeziden im Sinjar-Gebirge gestorben, mehr als 200 Kinder sind ohne Essen und Trinken gestorben, auch viele alte Menschen. Die YPG haben einen sicheren Weg nach Syrien eröffnet. Es waren 200 000 Menschen im Gebirge, die YPG haben unseren Leuten geholfen. Und sie kämpfen dort bis heute. Ich werde nie vergessen, was sie für unsere Leute getan haben.
Es gibt Berichte, dass entführte yezidische Frauen und Mädchen nach ihrer Rückkehr mit problematischen gesellschaftlichen Ehrbegriffen konfrontiert werden und manche sich das Leben nehmen.
Es geht nicht um Ehre, es geht um die Krise der gesamten yezidischen Gemeinschaft. Die meisten unserer Mädchen und Frauen zwischen zehn und 35 Jahren wurden vergewaltigt, manche sind nun schwanger. Wir fühlen keine Scham, aber wir haben keine Waffen, um sie zu schützen, und sie fühlen sich nicht mehr sicher. Es waren oft Nachbarn, die sie vergewaltigt und ihre Familien ermordet haben. Aber wir sind auch Teil der nahöstlichen Gesellschaft, und für Frauen ist es sehr schwer, dort zu leben, nachdem sie vergewaltigt und verkauft wurden, nachdem ihre Körper wie ein dreckiges und billiges Ding missbraucht wurden. Die yezidischen Familien unterstützen wirklich ihre Mädchen, aber sie haben keine Lösung für ihre Lebenslage.
Wie sehen Sie Ihre persönliche Zukunft?
Eine Aktivistin zu sein, ist sehr schwierig, eine yezidische Aktivistin zu sein, ist noch schwieriger, und eine Frau zu sein, ist sehr gefährlich. Aber ich muss weitermachen, das ist meine Mission, meine Leute brauchen mich. Ich habe keine andere Option. Ich weiß nicht, was morgen geschieht. Aber wir brauchen Frieden, um diese Welt einzurichten, anstatt andere Menschen zu hassen und zu töten, ihre Tempel und Städte zu vernichten.