Die Strukturschwäche der russischen Ökonomie

Der Titan lässt auf sich warten

Glanz und Strukturschwäche der russischen Wirtschaft liegen unter Wladimir Putin so nah beieinander wie in den neunziger Jahren.

Dass Russland sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise befindet, will man selbst in Moskau nicht leugnen. Nachdem bereits im vergangenen Jahr die Wirtschaftsleistung um 1,3 Prozent zurückgegangen war und die Kapitalabflüsse selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen hatten, geht die russische Regierung für das laufende Jahr von einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um etwa drei Prozent aus. Ein Minus von fünf Prozent erwartet gar die Zentralbank. Bereits im Dezember des vergangenen Jahres hatte der langjährige wirtschaftspolitische Berater Wladimir Putins und ehemalige russische Finanzminister, Aleksej Kudrin, in der Financial Times vor einer langfristigen »vollwertigen Wirtschaftskrise« gewarnt. In deren Zuge würden erstmals seit dem Jahr 2000 die realen Einkommen der Bevölkerung sinken – und zwar um bis zu 4,5 Prozent. »Es kommt zu einem Rückgang des Lebensstandards, der schmerzhaft sein wird«, sagte er.
Im Dezember befand Kudrin noch ganz im Sinne Putins, dass es vor allem die Sanktionen des Westens seien, die für Russlands Krise verantwortlich seien; auf bis zu 40 Prozent schätzen verschiedene Studien die dramatischen Einbrüche beim Außenhandel in einzelnen Sektoren, die zu einem bedeutenden Teil auf die Sanktionen rückführbar sind. Zuletzt aber formulierte Kudrin, der immerhin elf Jahre das Finanzministerium geleitet hat und als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten gehandelt wurde, grundlegende Probleme. In der Fernsehsendung »Direkter Draht zu Wladimir Putin«, in der der Präsident Publikums- und Expertenfragen beantwortet, wies Kudrin Mitte April auf die strukturellen Defizite der russischen Volkswirtschaft und ihre Abhängigkeit von Rohstoffexporten hin. »Das Modell des Wachstums ist veraltet und es gibt kein neues«, hielt er dem sichtlich verärgerten Präsidenten entgegen, der gerade angekündigt hatte, dass der Höhepunkt der Krise bald überwunden sei.

Jegor Gaidar hatte vor diesem Szenario bereits 2006 gewarnt – inmitten des durch die hohen Weltmarktpreise für Erdgas und Erdöl hervorgerufenen Booms in Russland. »Langfristig muss man sich darüber bewusst sein, dass das in Russland entstandene ökonomische und politische System nicht stabil ist«, schrieb der erste russische Wirtschaftsminister nach dem Ende der Sowjetunion und spätere Ministerpräsident in einem international immer wieder zitierten Artikel mit dem Titel »Woher kamen die Reformen?«. »Die russische Ökonomie ist, wie auch schon die sowjetische, äußerst empfindlich gegenüber Schwankungen des Öl- und Gaspreises und der Ölförderung«, heißt es dort weiter. Dass ausgerechnet Gaidar, der Anfang der neunziger Jahre als der Mann fürs Grobe des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin galt, dies konstatierte, ist erstaunlich.
Denn alle Konstanten, die derzeit die russische Gesellschaft prägen, wurden bereits unter dem Regime Jelzins und der Regie Gaidars und seiner Partner Pjotr Aven und Anatoli Tschubais geschaffen. Alle drei hatten sich wie einige weitere verantwortliche Berater und Spitzenpolitiker der Jelzin-Ära von den Ökonomen aus der neoliberalen Schule der Mont-Pélerin-Gesellschaft in Seminaren im österreichischen Alp­bach auf ihre Aufgaben vorbereiten lassen.
Der autoritäre Regierungsstil, die Deindustrialisierung, die ausufernde Korruption, die wirtschaftliche Dominanz sogenannter Oligarchen, die permanente Kapitalflucht und die Verelendung eines großen Teils der Bevölkerung waren also bereits vor Putin präsent. Und noch ein Element prägt die Ära Putin ebenso wie die Jelzins: das Versprechen, dass bald alles besser werde. Als Boris Jelzin, damals noch Präsident der russischen Teilrepublik der Sowjetunion und Held in Sachen Freiheit und Demokratie, Ende Oktober 1991 vor dem Rat der Volksdeputierten Preisfreigaben, Privatisierungen und die Schaffung deregulierter Märkte ankündigte, gestand er zwar ein, dass es für ein halbes Jahr schlechter werden würde, danach aber sollte das Land »bald ein wirtschaftlicher Titan« werden und sich zu einer der »vier größten Volkswirtschaften der Welt« mit einem dort nie gekannten Massenwohlstand entwickeln. Daraus ist bekanntlich nichts geworden.
Als Jelzin fast ein Jahrzehnt später zum Milleniumswechsel sein Amt niederlegte, lebte die Hälfte der russischen Bevölkerung in Armut, ein Drittel in totaler Verelendung, wie selbst die Weltbank erschrocken feststellte. Die durchschnittlichen Reallöhne und Renten betrugen nur noch ein Fünftel des sowjetischen Niveaus. Die Kriminalität nahm dramatische Züge an – nur in Südafrika war die Mordrate höher als in Russland – und die Lebenserwartung war innerhalb eines Jahrzehnts um rund vier Jahre gesunken, wozu auch die Verdoppelung der Suizidrate beigetragen haben mag. Die Guthaben der Bevölkerung waren zudem durch die exorbitante Inflation entwertet, die 1992 ihren höchsten Stand mit 874 Prozent erreichte und selbst im stabilsten Jahr 1997 bei 15,1 Prozent lag. Die soziale Ungleichheit, gemessen am Verhältnis zwischen den reichsten und den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung, war fast doppelt so hoch wie in den USA.

Eine neue herrschende Klasse aus ehemaligen Betriebsdirektoren, politischen Reformern und Kriminellen profitierte von der größten Privatisierung nationalen Reichtums aller Zeiten. Unregulierte Bankengründungen erlaubten es so il-lustren Günstlingen des Establishments wie Michail Chodorkowski, Wladimir Winogradow, Wladimir Potanin, Michail Fridman und Pjotr Aven, durch Devisenspekulationen und den Handel mit russischen Staatsanleihen innerhalb weniger Jahre zu Milliardären zu werden. Als noch profitabler stellte sich anschließend die Privatisierung der Zehntausenden Staatsbetriebe dar. So gelangten etwa die 500 größten Betriebe Russlands – lediglich der Gassektor war von den Privatisierungen ausgeschlossen – im Wert von nicht weniger als 200 Milliarden US-Dollar für nur 7,2 Milliarden US-Dollar in die Verfügungsgewalt der Oligarchen. Die privatisierungskritischen Journalisten Wadim Kolesnikow und Sergej Sidorow wiesen bereits damals darauf hin, dass auch »den Geschäftemachern der Schattenwirtschaft« so die Möglichkeit gegeben worden sei, »Betriebe aufzukaufen und kriminelles Kapital zu legalisieren«. Eine Aussage, die von Interpol bestätigt wurde. Nach deren Angaben operierten 1998 in Russland rund 10 000 Verbrechergruppen, die circa 40 000 Betriebe und Banken kontrollierten.
Während sich mit der Förderung von Rohstoffen und deren Export gigantische Summen verdienen ließen, brachen die russische Industrie sowie die Landwirtschaft unter dem Druck der ausländischen Konkurrenz völlig zusammen. Drei Viertel der landwirtschaftlichen Betriebe mussten ebenso abgewickelt werden wie fast 70 000 auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähige Unternehmen. Während die Sowjetunion einen Anteil von 14,5 Prozent der globalen Indus­trieproduktion geleistet hatte, sank der Anteil Russlands auf kaum noch drei Prozent – ein Wert, der bis heute Bestand hat. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands betrug zur Jahrtausendwende noch 54 Prozent des BIP der sowjetischen Teilrepublik, aus der das Land keine zehn Jahre zuvor hervorgegangen war, und erreichte erst 2007, angetrieben durch die hohen Weltmarktpreise für Erdgas und Erdöl, das vorherige Niveau.

Seit Jelzins Kronprinz Wladimir Putin die Regie übernommen hat – Zar Boris I., wie sich Jelzin gerne nennen ließ, war nach dem Staatsbankrott von 1998 nicht mehr zu halten –, hat sich an der grundlegenden Struktur der russischen Wirtschaft wenig geändert. Trotz der krisenbedingten »Redefinition des neoliberalen Minimalstaats hin zu einem regulierenden nationalen Wettbewerbsstaat«, so der Politologe Felix Jaitner in seiner gerade bei VSA erschienenen Studie über »Die Einführung des Kapitalismus in Russland«, funktioniert sie noch nach den in den neunziger Jahren festgelegten Parametern. Dies gilt nicht nur für die noch immer drastische Verelendung und die Massenarmut – Unicef geht etwa davon aus, dass fast 3,5 Millionen russische Kinder kein adäquates Zuhause haben. Auch die von Putin im Jahr 2000 groß angekündigte »Liquidierung der Oligarchen als Klasse« war nicht mehr als ein Publicity-Gag. Zwar wurden jene, die sich den Regierungsvorgaben nicht in ausreichendem Maße unterzuordnen bereit waren, ins Ausland getrieben, wie Wladimir Gusinski oder Boris Beresowski. Chodorkowski wurde ins Arbeitslager verfrachtet. Im Kern ist das Bündnis aus einigen wenigen Spitzenpolitikern, Wirtschaftsführern und Verantwortlichen der Sicherheitsdienste stabiler denn je. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Studie »Politbüro 2.0« des Beratungsunternehmens Minichenko Consulting, in der »von einer aufs engste miteinander verflochtenen Herrschaftsschicht« die Rede ist, die die Geschicke des Landes leite.
Und auch die seit dem Ausbruch der Finanzkrise durch die russische Regierung angekündigten Modernisierungen der Nationalökonomie, um sich von den Rohstoffpreisen auf dem Weltmarkt unabhängiger zu machen, sind weitgehend verpufft. Weder die 2009 vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedjew versprochene grundlegende Reform noch die 2011 von Putin begründete »Strategie 2020«, ein sozialpolitisches Sparprogramm, das Investitionsanreize setzen sollte, oder die im vergangenen Jahr vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Dmitri Rogosin als Antwort auf die Sanktionen angekündigte »vollständige Reindustrialisierung des Landes« haben bisher Wirkungen gezeigt. Noch immer stellen die Energieträger mit fast drei Vierteln den Kern der russischen Exporte, gefolgt von Metallen, während Industrieerzeugnisse kaum ein Zehntel beitragen. Das wird vermutlich auch so bleiben. »Weder die Staatsbürokratie oder die Regierung noch die Oligarchie sind dazu bereit, das ressourcenextraktivistische Modell aufzugeben. Sie sind auf verschiedene Art daran gebunden«, schreibt Felix Jaitner dazu. Eine wirtschaftliche Modernisierung sei damit genauso blockiert wie die Demokratisierung.