Martin Klingner im Gespräch über griechische Reparationsforderungen

»Deutschland ist der größte Schuldner Europas«

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen viele Opfer von NS-Verbrechen beziehungsweise deren Angehörige immer noch um Entschädigungen kämpfen. In Deutschland werden derzeit die Reparationsforderungen Griechenlands erneut diskutiert. Der Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner engagiert sich seit Jahren im AK Distomo dafür, dass Deutschland endlich zahlt. Im griechischen Distomo verübte die SS 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung als Vergeltungsaktion für Partisanenangriffe. Mit Klingner sprach die Jungle World über die Debatte um Reparationen an Griechenland.

Wann hat sich der AK Distomo gegründet und was war der Anlass?
Der AK hat sich 2001 gegründet. Im Jahr 2000 gab es ein Urteil des Areopag, des obersten Gerichtshofs Griechenlands. Daraufhin wurden deutsche Liegenschaften in Athen und Thessaloniki gepfändet, unter anderem das Goethe-Institut. Damals haben wir vom Massaker in Distomo erfahren. Es hat uns deutlich gemacht, dass das Thema Entschädigung für NS-Opfer auch nach der Debatte um NS-Zwangsarbeit und der Gründung der Stiftung EVZ (»Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, Anm. d. Red.) nicht beendet ist. Wir haben uns seither intensiv mit den Entschädigungsforderungen aus Griechenland und deren Hintergründen befasst, Kontakte zu Überlebenden, Opferverbänden und Anwälten geknüpft und begonnen, Solidaritätsarbeit zu diesem Thema in Deutschland zu leisten.
Seither fahren wir regelmäßig nach Griechenland und nehmen unter anderem an den Gedenkfeiern in Distomo teil. Mit Argyris Sfoutouris verbindet uns eine intensive Freundschaft. Er ist Überlebender des Massakers von Distomo und einer der Kläger in den Entschädigungsprozessen gegen Deutschland. Wir unterstützen auch Entschädigungsforderungen von NS-Opfern aus anderen Ländern, wie Italien und Slowenien. Ein weiteres Anliegen von uns ist die Strafverfolgung der Täter.
Seit einigen Wochen wird die Diskussion um die Reparationszahlungen an Griechenland öffentlich geführt. Sieht Ihr Arbeitskreis darin einen Erfolg seiner Arbeit?
Der Anlass für das derzeit sehr große Interesse ist sicher die Wahl der neuen griechischen Regierung und deren Thematisierung der Reparationsforderungen. Wir sind durch unsere kontinuierliche Arbeit quasi Experten für das Thema Entschädigung geworden und finden in der jetzigen Situation viel mehr Gehör als zu früheren Zeiten. Dass die Medien mehr und besser über das Thema berichten, sehen wir insoweit auch als Erfolg des AK und aller anderen Menschen in Deutschland an, die für die Interessen der NS-Opfer eintreten. Ich möchte noch einmal betonen, dass für uns die Frage der individuellen Entschädigung der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer im Zentrum unserer Arbeit steht.
Wie sehen Sie das Agieren der aktuellen griechischen Regierung in der Debatte? Ist der Vorwurf der Instrumentalisierung in Ihren Augen berechtigt?
Nein, aus unserer Sicht instrumentalisiert in erster Linie Deutschland das Thema, indem zur Abwehr von Reparations- und Entschädigungsforderungen immer wieder auf die aktuellen ökonomischen Probleme Griechenlands verwiesen wird. Die griechische Regierung greift endlich ein Thema mit Nachdruck auf, das eigentlich spätestens seit 1990 auf die Agenda jeder griechischen Regierung gehört hätte. Zwar wurden immer wieder Ansprüche geltend gemacht, aber letztlich hatte bisher noch keine griechische Regierung den Mut und den Willen, sich der deutschen Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen, entgegenzustellen.
Wir hoffen sehr, dass die jetzige griechische Regierung nicht auch irgendwann klein beigibt. Problematisch fänden wir es nur, wenn die griechische Regierung die individuellen Entschädigungsforderungen der NS-Opfer mit aktuellen Schulden verrechnen würde. Das darf nicht sein.
Wie sehen Sie die Verknüpfung von Reparationszahlungen und Wirtschaftskrise?
Die BRD hätte kein Wirtschaftswunder erlebt ohne die Stundung der Reparationsforderungen im Londoner Schuldenabkommen. Griechenland hätte sich anders entwickeln können, hätte es Reparationszahlungen erhalten. Die aktuelle Krise hat jedenfalls auch etwas mit der Zerstörung Griechenlands durch die deutschen Besatzer und der dadurch verzögerten ökonomischen Entwicklung zu tun. Griechenland hat zumindest allen Grund zu sagen: Jetzt ist es höchste Zeit, dass Deutschland seine Schulden begleicht.
Manche Beobachter meinen, da Deutschland im NS in so vielen Ländern Verbrechen beging, hätte es nicht genug Geld für Reparationen. Können Sie dieser Logik folgen?
Die Verbrechen Nazideutschlands waren in der Tat so gewaltig, dass der Rechtsnachfolgestaat BRD erhebliche Schulden geerbt hat. Deutschland ist der größte Schuldner Europas. Dies ist kein Grund, die Schulden nicht zu bezahlen, und schon gar kein Grund, noch nicht einmal in Verhandlungen mit den Gläubigern zu treten. Die deutsche Regierung sagt wie alle Vorgänger schlicht Nein zu allem und damit darf sie nicht durchkommen. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Prävention. Verbrechen dürfen sich nicht lohnen.
Der Hamburger Historiker Karl Heinz Roth hat kürzlich vorgeschlagen, die Goldreserven Deutschlands für die Reparationszahlungen an Griechenland zu verwenden. Halten Sie das für einen sinnvollen Vorschlag?
Wir sehen das nicht als unser Problem an, wie Deutschland das Geld zusammen bekommt. Von uns aus könnte auch die Bundeswehr abgeschafft werden. Das löst dann gleich noch ein Problem.
Sehen Sie denn noch Möglichkeiten, Deutschland auch mit juristischen Mitteln zur Zahlung von Reparationen zu zwingen?
Ja, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der griechische Staat könnte Deutschland auf Zahlung verklagen. Es gibt für die Reparationsforderung selbst eine klare vertragliche Grundlage, nämlich die Regelungen des Pariser Reparationsabkommens. Dort wurden die Ansprüche Griechenlands gegenüber Deutschland auf mindestens 7,1 Milliarden US-Dollar festgelegt. Deutschland hat diese Schulden nicht bezahlt. Daher ist jedenfalls der festgelegte Betrag auf den heutigen Wert umzurechnen und zu verzinsen. Relevante rechtliche Einwände gegenüber dieser Forderung gibt es nicht. Sie ist nicht verjährt. Griechenland hat auf diese Forderungen nicht verzichtet. Sie sind auch nicht durch andere Vereinbarungen erledigt, insbesondere nicht durch den deutsch-griechischen Vertrag von 1960, da dieser nur »Wiedergutmachungsansprüche« wegen spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung zum Gegenstand hatte, nicht aber Reparationen. Die Forderung ist fällig, denn mit dem 2+4-Vertrag endete die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens.
Zahlt Deutschland auch weiterhin nicht, müsste Griechenland ein zuständiges Gericht anrufen. Ein Prozess wäre denkbar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Diese Möglichkeit halte ich aber für wenig aussichtsreich, da Deutschland diesem Verfahren zustimmen müsste, was es kaum machen wird. Die andere Möglichkeit wäre die Anrufung eines Schiedsgerichts gemäß dem Londoner Schuldenabkommen. Letzteres sieht in Art. 28ff vor, dass über alle Streitfälle aus diesem Abkommen ein Schiedsgericht mit Sitz in Koblenz entscheidet. Griechenland könnte fordern, dass dieses einberufen wird. Dies wäre meines Erachtens der erfolgversprechendste Rechtsweg.
Was halten Sie juristisch von dem Argument, da es keinen Friedensvertrag gegeben hat, sei eine juristische Entscheidung gegen Deutschland nicht mehr möglich?
Das ist kein Argument, sondern ausschließlich Ausdruck der europäischen Großmacht Deutschland, die glaubt, angesichts ihrer Führungsrolle in Europa das Definitionsmonopol für völkerrechtliche Fragen zu besitzen. Der Trick des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bestand darin, dass die bloße Vermeidung eines Wortes schon ausreichen sollte, um Ansprüche zum Erlöschen zu bringen. Das ist eine Farce. Bereits mehrfach haben bundesdeutsche Gerichte entschieden, dass der 2+4-Vertrag die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens beendet hat, so der Bundesgerichtshof im Distomo-Urteil vom 26. Juni 2003: 2+4 sei zwar kein Friedensvertrag im herkömmlichen Sinne, er habe aber das Ziel, eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu treffen. Also sind alle Reparationsansprüche seither fällig.
Was würde juristisch passieren, wenn die griechische Regierung ihre Drohungen umsetzt und tatsächlich deutsches Eigentum in Griechenland beschlagnahmt?
Das ginge erst, wenn Griechenland ein Urteil gegen Deutschland erstreiten würde. Da wird in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verwechselt. Die Vollstreckung im Fall Distomo wäre möglich durch Pfändung deutschen Eigentums in Griechenland. Denn in diesem Fall gibt es einen Titel zugunsten der Klägerinnen und Kläger über etwa 28 Millionen Euro, der vollstreckbar ist. Dies ist aber bislang der einzige Rechtstitel in Griechenland, der vollstreckbar ist. Wenn die griechische Regierung die Vollstreckung erlauben würde, dann könnten deutsche Liegenschaften versteigert werden. Dies würde vermutlich einen neuen Rechtsstreit auslösen, denn die Bundesregierung würde sicherlich vor den griechischen Gerichten klagen und versuchen, die Maßnahmen zu stoppen.
Sehen Sie in der Frage der Rückzahlung des Kredits, der während der NS-Zeit aufgenommen wurde, bessere Chancen, dass Deutschland zahlen muss?
In rechtlicher Hinsicht eher nicht, denn diese Forderung besteht neben den Reparationsforderungen. Beide Forderungen sind in rechtlicher Hinsicht nicht bezweifelbar. Politisch könnte die Rückzahlung der Zwangsanleihe leichter durchsetzbar sein, weil sich eventuell das Wort »Reparationen« vermeiden ließe und damit die nachfolgenden Forderungen. Das ist aber nur die deutsche Perspektive, aus griechischer Sicht spielt es letztlich keine Rolle.
Forderungen nach Entschädigung waren in der außerparlamentarischen und antifaschistischen Linken weitverbreitet. Unterstützt diese derzeit die Forderung nach Entschädigungszahlungen an Griechenland?
Die Debatte um die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit war jedenfalls wesentlich breiter und intensiver als die jetzige Auseinandersetzung. Sicher gibt es Unterstützung für das Thema, aber es ist nicht das große Thema der antifaschistischen Linken.
Hat also auch ein großer Teil der außerparlamentarischen Linken einen Schlussstrich unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die große Zahl der Anfragen nach Informationen und Veranstaltungen gerade in der letzten Zeit zeigt uns, dass Interesse da ist. Es hat allerdings bislang nicht gereicht, um eine Kampagne zu initiieren, die auch ausreichend politischen Druck auf die deutsche Regierung entwickeln könnte.