Der Streit um die Berliner Volksbühne

Wem gehört die Bühne?

Der Berliner Theaterstreit wirft Fragen nach dem Verhältnis der Künste untereinander auf.

Ein Theaterintendant legt sich mit einem Kulturstaatssekretär an, weil an einem Theater der Stadt ein Führungswechsel stattfinden soll: Claus Peymann hält nicht viel von Tim Renners Entscheidung, Chris Dercon, den Direktor der Londoner Tate Gallery of Modern Art, 2017 als Intendanten der Volksbühne einzusetzen. Ein öffentlich geführter Streit entzündet sich, in dem tatsächlich etwas ausgehandelt wird – nur ist es vielleicht etwas zu viel auf einmal.
Im Kern geht es um die Frage, was eigentlich in einem Theater zu passieren habe. Werden dort Theaterstücke aufgeführt, oder haben wir es zukünftig mit einem »Raumlabor« zu tun, wie Tim Renner es sich vorstellt, das zugleich Bühne, Kunsthalle und Think Tank sein will? In diesem Streit überlagern sich verschiedene Konflikte: Erstens besteht der Verdacht, hier werde ein festes Ensemble zugunsten eines Gastspielbetriebs entlassen. Zweitens fürchtet die Kulturpolitik des Bundes die innerstädtische Konkurrenz, es würden »Doppelstrukturen« geschaffen. Drittens findet auf der Leitungsebene ein Umbruch statt: Der ostdeutsche Patriarch tritt ab, es kommt ein weltgewandter Belgier.
Man könnte sich zunächst die grundlegende Frage stellen, ob das Theater durch den Einbezug anderer Kunstformen gewinnt. Nehmen wir die Popmusik auf der Sprechtheaterbühne. Da hat man über das vergangene Jahrzehnt einiges erlebt, etwa eher illustrative Ansätze, die in erster Linie dazu dienten, die Fans einer Band ins Theaterstück zu locken sowie der Band eine neue Erwerbsquelle zu erschließen. Es hat aber auch Hybridformen gegeben, wie zuletzt die kongeniale Kollaboration von René Pollesch und Dirk von Lowtzow an der, ja eben, Volksbühne. Kurios mutet deshalb das Argument an, der Berliner Kulturstaatssekretär habe den falschen Intendanten bestellt, weil er sich aufgrund seiner Herkunft aus der Popkultur nicht gut genug auskenne.
Auch abseits finanziellen Mehrwerts profitierte die Popmusik in jüngster Zeit von ihrem Einsatz im Theater. Die Hamburger Band Kante etwa arbeitet regelmäßig unter der Regie von Friederike Heller und entwickelte dabei eine neue künstlerische Seite. Die kürzlich veröffentlichte Aufnahme »In der Zuckerfabrik« bezeugt dies und sorgt auch strukturell für Neuerungen: Der Verlag Theater der Zeit legte aus diesem Anlass einen Musikzweig an. Nun mögen Kante für eine solche Entwicklung prädestiniert sein, weil ihre Musik seit jeher einen hochkulturellen Einschlag hatte; doch auch 1 000 Robota machten sich bestens in »So was von da« – ein Stück nach dem gleichnamigen Roman des ehemaligen Hamburger Clubbetreibers Tino Hanekamp – am Hamburger Schauspielhaus, bevor die Band einstweilig verschwand. Wer das Rock­erlebnis im Clubbetrieb hinter sich lässt, kann als Musiker in der Auseinandersetzung mit Hölderlin, Brecht oder Hanekamp offenbar durchaus neue Facetten entwickeln.
Dirk von Lowtzow, dessen Neigung zum Theatralischen auch in rein musikalischen Projekten zum Tragen kommt, lancierte unlängst die These einer chronologischen Stufenfolge: Die neunziger Jahre hätten dem Pop gehört, das erste Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende der Kunst und seit 2010 sei nun das Theater dran. Was kommt danach? Sicher die weitere Vermischung der Künste, deren Trennung ein neuzeitliches Phänomen der westlichen Welt war. Das weiß mit dem Filmemacher und Autoren Alexander Kluge auch einer der Neuen in Chris Dercons Team an der Volksbühne. Kluge denkt schon seit Jahrzehnten über die Verbindungen der Künste nach. In seinen Worten ist etwa Musik »alles, was sich in einer kons­truktiven Weise polyphon bewegen kann«. Das Publikum bemerkt solche Zusammenhänge üblicherweise noch vor den Akteuren, was wahrscheinlich daran liegt, dass es weniger in Diskussionen um Gattungen, Genres und kulturpolitische Entscheidungen eingebunden ist.
Nicht nur die verschiedenen Kunstformen haben sich einander angenähert. In den großen deutschen Städten sind die Kunst- und die Theaterszene sehr verwandte Milieus. Wie der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch kürzlich im Interview dargelegt hat (Jungle World 13/15), stellen sie die letzten verbliebenen Winkel jenseits der Universitäten dar, an denen eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und ästhetischer Theorie stattfindet. Dass die diskursive Spekulation in die »Eventbuden« abgewandert ist, stellt dabei kein Problem dar. Schon eher, dass sich der politische Impetus im Rahmen entsprechender Veranstaltungen zumeist in bessergestellter Revolutionsrhetorik erschöpft, die in erster Linie dem Gewinn des Sprechenden dient. Nicht der Kulturbetrieb ist fehlerhaft, es fehlt an der individuellen Bereitschaft, den eigenen Standort zu reflektieren.
In der Berliner Debatte wird darüber gestritten, ob jemand wie Dercon, der kein Mann des Theaters ist, sondern bislang als Kurator gearbeitet hat, überhaupt fähig sei, als Intendant zu arbeiten. Intendant versus Kurator – die Unterschiede sind längst nicht mehr kategorisch, denn Platzhirsche und freundliche Gesellen finden sich hier wie dort: Nicht jeder Intendant inszeniert, dafür findet mancher Kurator noch in jeder Ausstellung ein passendes Eckchen für seine Jugendbildnisse. Was nun kommen mag: medientaugliches Charisma, was abtritt: Selbstgerechtigkeit – was soll’s. Die Volksbühne war indes schon lange eine Eventbude mit allem drum und dran, von der Zwischennutzung bis zur multimedialen Überwältigungsnummer. Das ist auch kein Wunder, denn die Tradition des politischen Theaters kennt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Bühnenstück und Öffentlichkeit.
Ergibt die strapazierte Aufteilung in Theater-, Musik- und Kunstszene also wenig Sinn, so zeigt sich der tatsächliche Gegensatz an anderer Stelle, nämlich im Verhältnis von »freier Szene« und »großem Haus«. In seinem Manifest »Freies Theater abschaffen« schrieb Veit Sprenger 2012: »Die reichen Häuser holen sich schon seit längerer Zeit ursprünglich systemfremde Gruppen (…) und Konzepte heran.« Sprenger ist Mitglied der Performancegruppe Showcase Beat Le Mot, die sich seit 1997 als Band ohne Chef inszeniert, gleichberechtigt auf der Suche nach der zwanglos verbindlichen Form. Zu Recht weist er darauf hin, dass die genannten »Systemfremden« wie etwa She She Pop und Rimini Protokoll in die etablierten Strukturen drängen beziehungsweise von diesen umgarnt werden. In dieser Situation sei die Bezeichnung »Freies Theater« hinfällig, sie »befördert den Diskurs jener kulturellen Kräfte, die von der künstlerischen Praxis längst überholt worden sind und sich gerne noch ein bisschen in ihren Ämtern suhlen wollen«.
Wenn das Gesuhle in den Ämtern nun ein Ende hat, stellt sich doch die Frage: Wird die Volksbühne zur Imitation der freien Szene oder integriert sie diese? Chris Dercon ließ verlauten, er wolle »freier Produzent« sein, allerdings mit festem Ensemble und einem »kleinen Club von Komplizen«. Das klingt offenbar suspekt, denn Matthias Heine befürchtet in der Welt »noch eine Bühne, auf der einbeinige albanische Transgender-Performx die Verbrechen der Deutschen im Hererokrieg nachtanzen«. Auch angesichts solcher Entgleisungen mag Freude aufkommen, wenn Veranstaltungen abseits des Stückerepertoires einmal nicht durch einzeln bewilligte Projektanträge zustande kommen, sondern aus Eigenmitteln finanziert werden können.
Wie sich dieser Prozess auch entwickeln mag, letztlich ist die Darstellungsform gar nicht das Entscheidende, sondern dass man den Inhalt künstlerisch und politisch ernst nimmt und nicht zur gehobenen Abendunterhaltung verkommen lässt.