Polizeigewalt, Armut und Rassismus in Baltimore

Wertvoll, aber arm

Nach dem Tod Freddie Grays in Baltimore wird in den USA erneut über Rassismus und Polizeigewalt diskutiert. Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme gibt es jedoch kaum.

Es geschah am Morgen des 12. April. Ein Beamter der Polizei von Baltimore suchte Blickkontakt mit dem 25jährigen Freddie Gray, daraufhin verfolgte er den jungen Mann aus bisher nicht näher geklärten Gründen. Zwischen 8.40 Uhr und 8.46 Uhr hatten sechs Beamte Gray eingeholt und verhafteten ihn, obwohl keine Straftat vorlag. Die Verhaftung sei angeblich friedlich verlaufen, doch Zeugenaussagen – und ein Video – zeichnen ein anderes Bild: Gray wurde weggezerrt, er schrie vor Schmerzen. Man legte ihm Handschellen an und brachte ihn in einen Kleinbus der Polizei, wo er während der Fahrt ins Revier ungeschützt am Boden lag und beim sogenannten rough ride – Polizeijargon für eine »wilde Fahrt« – hin und her geschleudert wurde. Als der Wagen um 9.24 Uhr am Revier, der Western District Station, ankam, hatte Gray eine schwere Verletzung seines Rückenmarks erlitten, die sich als tödlich erweisen sollte. Er fiel ins Koma und starb wenige Tage später im Krankenhaus.
Sofort kam es zu friedlichen Protestaktionen, aber auch zu vereinzelten Ausschreitungen in Baltimore. Einige Tage lang war die Stadt im Ausnahmezustand, eine nächtliche Ausgangssperre wurde verhängt. Es sollte erwähnt werden, dass die Ausschreitungen eine Ausnahme darstellten. Der Tod Freddie Grays ist der neueste Fall tödlicher Polizeigewalt in den USA. Allein in den vergangenen vier Jahren musste die Stadt Baltimore 5,7 Millionen US-Dollar Abfindungen wegen polizeilicher Gewalt an Opfer und ihre Angehörigen zahlen, in mindestens 28 Fällen. Leider kennt man solche Schlagzeilen bereits. So kam am 17. Juli 2014 in New York der 44jährige Eric Garner ums Leben, nachdem er von Polizeibeamten 15 Sekunden im Würgegriff gehalten worden war. Am 9. August 2014 wurde der 18jährige Michael Brown in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri von einem Polizisten erschossen. Beide Fälle lösten landesweit Proteste aus.

In den USA hat man das Gefühl, dass eine neue Welle staatlicher Gewalt ausgebrochen ist. Doch neu ist allenfalls, dass im Zeitalter der Handy-Kamera solche Übergriffe immer öfter in den Medien zu sehen sind. In Ferguson und New York schien der Fall relativ klar zu sein, die Polizisten waren weiß, die Opfer schwarz, zumindest seitens der Demokratischen Partei wurde Rassismus als Ursache für die Übergriffe benannt. Immer wieder hört man in den Medien vom »systematischen Rassismus« der Behörden, von der »Vernachlässigung« der afroamerikanischen Bevölkerung. Doch mit dieser Erklärung macht man es sich zumindest im Fall Freddie Gray wohl zu leicht. Von den sechs Polizisten, die sich für seinen Tod verantworten müssen, sind drei Afroamerikaner. Auch der Polizeichef, Anthony W. Batts, ist afroamerikanisch, ebenso die Bürgermeisterin von Baltimore, Stephanie Rawlings-Blake. Trotzdem ist die Black Community von Baltimore – sie macht 63 Prozent der Stadtbevölkerung aus – in jeder Hinsicht benachteiligt. Afroamerikaner verdienen im Durchschnitt 40 000 Dollar weniger im Jahr als die weißen Bewohner der Stadt. 2013 lag die Arbeitslosenquote für Schwarze im Alter von 20 bis 24 Jahren bei 37 Prozent, wie das U.S. Census Bureau, das Statistikamt der USA, angab. In den sogenannten Problemvierteln Sandtown-Winchester und Harlem Park, in denen die Bevölkerung zu 96,9 Prozent afroamerikanisch ist, lag 2011 der Prozentsatz von Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben, bei 30,9 Prozent und war damit mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Stadt.
Dabei ist Baltimore eine Hochburg der Demokraten, der letzte republikanische Bürgermeister dort wurde 1967 gewählt. In den Neunzigern kam Baltimore in den Genuss großzügiger Investitionsprogramme, von Vernachlässigung kann keine Rede sein. Unter dem damaligen Bürgermeister, Kurt Schmoke, wurden beispielsweise mit staatlichen Mitteln von knapp 30 Millionen Dollar insgesamt 210 neue Häuser für Einkommensschwache gebaut, 1997 vergab das U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD) weitere 5,2 Millionen. Dabei wurden wesentliche Beträge veruntreut, insgesamt 24,6 Millionen Dollar verschwanden, was eine interne Ermittlung nach sich zog, die jedoch bald eingestellt wurde. Dennoch, zusammen mit privaten Investoren wurden in dieser Zeit beachtliche 130 Millionen Dollar in Sandtown investiert, die Gegend, in der einst Billie Holiday und Cab Calloway lebten. An die 1 000 neue Häuser wurden gebaut. Doch heute stehen ganze Straßenzüge leer, die verlassenen Wohnhäuser sind verbarrikadiert. Die Stadt leidet unter erheblicher Korruption, es gibt eine Kluft zwischen der politischen Elite und den Bürgerinnen und Bürgern.

Das zeigt sich auch im Vorgehen der Polizei. Als in den achtziger und neunziger Jahren die Verbrechensrate in den USA in die Höhe schoss, was unter anderem an der ansteigenden Drogenkriminalität lag, die gerade in Sandtown enorme Opfer forderte, wurden von Politikern auf beiden Seiten des politischen Spektrums härtere Maßnahmen gefordert. Statt der Wirtschaft florierte in Sandtown der Drogenhandel. Die Polizeiapparate der Großstädte wurden zunehmend militarisiert, auch was ihre Einstellung zur Verbrechensbekämpfung anging. Das hatte durchaus Erfolg, 1991 lag die Mordrate in den USA noch bei 9,8 auf 100 000 Einwohner, 2009 nur noch bei fünf. Doch die Politik der eisernen Hand hat, wie immer deutlicher wird, auch erhebliche Nachteile. Insbesondere die schwarze Bevölkerung der USA leidet unter Repressalien, Schwarze werden im Schnitt 21 Mal so oft wie Weiße von der Polizei angeschossen.
Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton hat in einer der wohl beeindruckendsten Reden ihrer politischen Karriere einen neuen Umgang der Polizei mit den Bürgern gefordert. »Zusätzlich zu jeder Tragödie, die auf Video zu sehen ist, gibt es sicherlich noch viele andere, die wir nicht sehen«, sagte Clinton. Sie forderte Körperkameras für Polizisten, zudem sei ein neuer Ansatz im Strafrecht nötig, mit weniger harten Gefängnisstrafen und mehr Unterstützung für psychisch Kranke. »Es ist an der Zeit, die Ära der Masseninhaftierung zu beenden«, sagte sie. »Wir brauchen eine echte landesweite Debatte darüber, wie wir die Zahl unserer Häftlinge reduzieren können, ohne dabei die Sicherheit der Gemeinden zu gefährden.«
Allerdings war es ihr Mann Bill Clinton, der die Militarisierung der Polizeiapparate und den Ausbau der Gefängnisse in den USA in den Neunzigern gefordert hatte, was sie in ihrer Rede nicht erwähnte. Zwischen 1983 und 2011 ist in den USA die Zahl der Menschen, die zu einem Jahr oder mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurden, von 405 000 auf über 1,3 Millionen angestiegen – ein Anstieg um 225 Prozent in einem Zeitraum, in dem die Bevölkerung nur um rund ein Drittel wuchs, berichtete die Washington Post. So lange die »Gefängnisindustrie« profitabel bleibt, so lange wird sich vermutlich auch das Problem der Polizeigewalt nicht lösen lassen.
Am Freitag vergangener Woche gab die Staatsanwältin Marilyn Mosby nach Erhalt des Berichts des Gerichtsmediziners im Fall Gray in einer bewegenden Pressekonferenz bekannt, dass gegen die sechs Beamten Anklage erhoben werde, in einem Fall sogar wegen Mordes. »Das geschah nicht schnell und in Eile«, so Mosby. »Wir überprüften Hunderte von Stunden von Aufnahmen und Aussagen. Es ist etwas, woran wir wirklich hart gearbeitet haben, um der Sache auf den Grund zu gehen.« Die Einwohnerinnen und Einwohner Baltimores freuten sich, binnen weniger Minuten war die Endzeitstimmung vorbei, in den Straßen wurde gefeiert und Mosby wurde zum neuen Star der Jurisdiktion. Dabei ist eine Anklage noch lange nicht dasselbe wie ein Urteilsspruch. Das tut der guten Stimmung erst einmal keinen Abbruch. »Ich bin glücklich«, sagte Kevin Moore, der am 12. April Grays Verhaftung gefilmt hatte, der New York Times. »Endlich verändere ich etwas in der Welt.« Und er fügte hinzu: »Es fühlt sich gut an, dass schwarze Menschen wieder etwas wert sind.«

Das Problem der Polizeigewalt und die grundsätzlichen Strukturprobleme der Klassengesellschaft werden damit nicht gelöst. Im Grunde ist das politische Establishment völlig ratlos, der Fall Freddie Gray entzieht sich allen Lösungen. Die alten Rezepte der Demokraten haben zumindest in Baltimore nicht gewirkt. Die Republikaner schweigen ihrerseits wohlweislich, die diversen Präsidentschaftskandidaten, Jeb Bush, Scott Walker, Ted Cruz, Marco Rubio und Rand Paul, bleiben schmallippig. Vermutlich, weil sie wissen, dass sie sich auf politisch bedenklichem Terrain befinden. Einerseits sind sie gegen allzuviel staatliche Kontrolle, andererseits haben sich die Republikaner traditionell zu harten Polizeimaßnahmen bekannt, jetzt geben sie sich lieber kleinlaut. Denn auch sie haben keine Lösungen anzubieten, es ist fraglich, ob die Laissez faire-Doktrin der niedrigen Steuern und freien Marktwirtschaft den Menschen in Baltimore helfen würde. Die Probleme liegen auf der Hand, Lösungen hingegen nicht. Auch ein ehemaliger Bürgermeister von Baltimore, der Demokrat Martin O’Malley, will für die Präsidentschaft kandidieren. Seine Kanditatur plant er in Baltimore ankündigen.