Berlin Beatet Bestes. Folge 290

Von der Cuvry-Brache in die Medien-Branche

Berlin Beatet Bestes. Folge 290. Black Flag: TV Party (1982).

Newtopia« ist so etwas wie »Big Brother«, ein Fernsehformat der Endemol-Firma. Die Idee: Eine Gruppe von Leuten wird rund um die Uhr mit der Kamera überwacht, während sie eine »neue Gesellschaft aufbauen«. Natürlich ist es Quatsch, dass ausgerechnet Sat.1 mit gecasteten Durchschnittsbürgern etwas probt, woran linke Gruppen seit Jahrzehnten arbeiten. Aber trotz aller Künstlichkeit der Inszenierung sind es immer noch Menschen, die in der Show miteinander umgehen, und es ist interessant und lehrreich, die Gruppendynamik zu beobachten. Gruppen sind ja immer schrecklich. In allen, selbst den autonomen und hierarchiefreien, gibt es Anführer und Mitläufer. Wer kein Anführer sein kann und nicht mitlaufen will, dem bleibt nur die Rolle des Außenseiters. Kulturelle Impulse kommen immer von Außenseitern.
Überwachungsshows wie »Newtopia« setzen auf professionelle Selbstdarsteller, gern ehemalige Animateure, die dermaßen von sich selbst eingenommen sind, dass sie sich von vornherein als Anführer betrachten. Das Fußvolk besteht aus ebenso professionellen Harmoniefans, die fortwährend das Hohelied auf die kuschelige Gemeinschaft singen. Um sich noch mehr aneinander zu wärmen, brauchen sie die Unangepassten, die gemobbt werden. Bei »Newtopia« waren für diese Rollen der schwer tätowierte Fitnesstrainer Hans und Candy, der Anarchist mit der Dreadlockmatte, vorgesehen. Die Gruppe betrachtete das Projekt von Beginn an als profitorientiertes, kapitalistisches Unternehmen. Etwas anderes kannten sie ja aus ihren bisherigen Leben auch gar nicht. Also machten sie es wie draußen, nahmen wenig ein und gaben viel Geld aus. Dabei hätten sie nur mal dem 44jährigen Candy, einem ehemaligen Bewohner der geräumten Kreuzberger Cuvry-Brache, zuhören müssen. Wer drei Jahre in London in besetzten Häusern fast ohne Geld leben kann, ist eigentlich prädestiniert dafür, anderen Bescheidenheit beizubringen. Natürlich blieb seine Stimme ungehört. Candy sonderte sich ab. Auch Hans flippte oft aus und schrie rum. Beide Männer reagierten sensibel auf das autoritäre Gebaren Einzelner und der Gruppe und weigerten sich, sich ihr zu unterwerfen. So wurden sie oft zur gemeinschaftlichen Maßregelung herbeizitiert: »Du, wir müssen mal mit dir reden.«
»Newtopia« ist unsere Gesellschaft in der Nussschale. Karrieristen und Anpasser dominieren, Unangepasste werden bestraft. Das Wesen einer Gruppe zeigt sich darin, wie sie mit denen umgeht, die am Rand stehen. Ein linker Utopist und radikaler Anarchist wie Candy musste in dieser Gruppe scheitern. Zuletzt pöbelte er besoffen und frustriert gegen eine Frau, nachdem seine wenigen Gesinnungsgenossen die Show verlassen hatten. Er wurde von drei anderen überwältigt und danach von Sicherheitsleuten rausgeworfen. Er war sicher nicht die beste Besetzung für die Rolle des Linksradikalen, aber wer von uns hätte schon den Mut, in eine Sat.1-Show zu gehen?
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.