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Das schuldlose Verhängnis war bereits in der Antike ein beliebtes Thema, unter anderem Franz Kafka hat es wieder aufgegriffen. In der Literatur kommt es recht dramatisch daher, meist hat es mit Liebe oder Tod zu tun, oft mit beidem. Oder der Betroffene kann wenigstens eine spektakuläre Verwandlung vorweisen – kein verständiger Mensch würde heute Herrn Samsa noch vernachlässigen, nur weil er plötzlich an der Decke herumkrabbelt. »Gregor the bug« wäre heute ein Youtube-Hit, sofern die Familie nicht einen Exklusivvertrag mit Bild oder RTL II vorgezogen hätte.
Im Spätkapitalismus kommt das schuldlose Verhängnis unspektakulär angeschlichen, doch dann gibt es kein Entrinnen. Man wacht eines Morgens auf und erkennt, dass man mit der Telekom telefonieren muss. Das nun anbrechende Grauen könnte auf verschiedene Weise von H. P. Lovecraft (»Callcenter des Wahnsinns«), Franz Kafka (»Gib’s auf«) oder Philip K. Dick (»Träumen Automatenstimmen von menschlichen Sklaven?«) beschrieben werden, aber die sind leider alle tot, was ihnen immerhin Anrufe bei den sogenannten Dienstleistern der Telekommunikation erspart hat. Literarisch reizvoll (»Wenn der Bote niemals klingelt«, »Lost in Space«) wäre auch der moderne Paketdienst. Zu den unverschämtesten Lügen der spätkapitalistischen Propaganda gehört jedenfalls die Behauptung, die Privatisierung habe zu Bürokratieabbau geführt. Für die Unternehmer mag das zutreffen, diese Leute fühlen sich ja schon überfordert, wenn sie wegen des Mindestlohngesetzes die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten notieren müssen. Auch hier bedurfte es also der Umverteilung. Die Arbeitszeit, die das Unternehmen einspart, muss der Kunde aufbringen. Wenn er sein Paket haben will, wird er sich schon auf die Suche machen, und wenn er sein Internet wiederhaben will, wird er die Warteschleife erdulden, bevor ein mutmaßlich menschlicher Anrufbeantworter sein Problem nicht löst.
Seltsamerweise gilt die unternehmerische Verwaltungstätigkeit nicht als bürokratisch, obwohl das Firmenbüro meist eine despotischere Herrschaft ausübt als das staatliche, das ja weichen musste, weil es seine Untergebenen nicht in ausreichendem Maß auspresste. So strich die ehemalige Bundespost, nun Deutsche Post AG, seit 1989 mehr als 173 000 Stellen, für private Zustellfirmen arbeiten 45 000 Menschen, und alle mussten Lohneinbußen sowie schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen. Der Übergang zur Postmoderne macht Schluss mit der kalten Rationalität zuverlässiger Zustellung und umstandslos funktionierender Telekommunikation, um einer Vielfalt neuer sozialer Beziehungen und Erzählungen Raum zu schaffen. Wenigstens die Literaten, die derzeit so dringlich nach Themen aus der kapitalistischen Realität suchen, sollten dafür dankbar sein.