Aziz al-Hamza im Gespräch über das Leben in Raqqa nach der Übernahme durch den IS

»Das öffentliche Leben ist gestorben«

Seit der Übernahme der syrischen Stadt Raqqa durch Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) berichtet das Netzwerk »Raqqa is Being Slaughtered Silently« (Raqqa wird lautlos abgeschlachtet) aus der besetzten Stadt. Die Jungle World sprach mit dem Mitbegründer des Netzwerks, Aziz al-Hamza. Er lebte bis 2014 in Raqqa, wo er Biochemie studierte. Nach der Übernahme der Stadt floh er zunächst in die Türkei, später nach Deutschland. Heute lebt und arbeitet er in Berlin.

Wie fing alles an, warum leben Sie heute in Berlin?
Die Revolution begann 2011 mit gewaltfreien Demonstrationen. Erst als das Regime begann, auf die Demonstrierenden zu schießen, haben sich Menschen zur Freien Syrische Armee (FSA) zusammengeschlossen. Das Regime verbot alle Zeitungen, die für die Revolution waren, und ließ keine ausländischen Reporter mehr ins Land. Weil Medienaktivisten gebraucht wurden, wurde ich zu einem.
Die FSA begann 2013, die Kontrolle über Raqqa zu übernehmen. Es gab damals schon islamistische Kämpfer von der al-Nusra-Front, aber es waren nur wenige Leute und sie ließen die Bevölkerung in Ruhe. Aus ihnen ging zwischen 2013 und 2014 der IS hervor. Im Januar 2014 begann der Krieg zwischen der FSA und den Islamisten. Ich war in diesem Krieg Reporter. Innerhalb von 15 Tagen kontrollierten die Islamisten die ganze Stadt. Sie fragten meine Eltern: »Wo ist euer Sohn?« Ich war schon untergetaucht und setzte mich ein paar Tage später mit falschen Papieren in die Türkei ab.
Wieso wussten die Islamisten, wen sie suchen mussten?
Raqqa ist klein, alle kannten uns, natürlich auch die Islamisten. Bevor die FSA die Kontrolle der Stadt übernahm, haben wir Medienaktivisten verdeckt gearbeitet, unter Pseudonymen auf Facebook. Danach begannen wir, Pressejacken zu tragen und unter Angabe unserer richtigen Namen zu berichten. Es war eine gute Zeit. Wir waren zum ersten Mal wirklich frei. Viele, die vor dem Assad-Regime aus Aleppo oder Homs geflohen waren, kamen nach Raqqa. Vor der Revolution lebten etwas mehr als eine Million Menschen in Raqqa und der Umgebung. Als die FSA die Stadt übernahm, stieg die Zahl auf über drei Millionen. Heute leben noch 300 000 Menschen dort, die anderen sind größtenteils in die Türkei geflohen.
Wie funktionierte das Leben in Raqqa?
Eigentlich funktionierte der ganze öffentliche Dienst wie zuvor. Universitätsabschlüsse stellte weiterhin eine Behörde des Regimes aus. Lehrer und Professoren bekamen ihre Gehälter von der Regierung aus Damaskus. Sie mussten dazu nur in den nächsten vom Regime kontrollierten Ort fahren. Die FSA hat daran nichts geändert.
Gab es eine Regierung unter der FSA?
Wir haben die Oppositionsregierung in der Türkei mehrfach aufgefordert, ihr Hauptquartier nach Raqqa zu verlegen. Wir sagten: »Raqqa ist eine befreite Stadt, ihr könnt eure Arbeit von hier zusammen mit uns fortsetzen!« Aber sie haben nicht einmal jemanden hergeschickt. Wir baten sie, die FSA mit Geld und schweren Waffen zu versorgen, aber auch das taten sie nicht. Das ist einer der Gründe, warum die Islamisten die Stadt übernehmen konnten.
Was hat sich dann in Raqqa verändert?
Die Islamisten begannen, nach Aktivisten und FSA-Kämpfern zu suchen und nahmen sie gefangen. Die FSA-Kämpfer hatten nur ein paar Kalaschnikows und leichte Waffen, während die Islamisten mit schweren Waffen aus dem Irak kamen. Die FSA-Kämpfer sind ganz normale Leute aus Syrien, ohne militärische Erfahrung. Sie hatten sich anfangs nur bewaffnet, um die Demonstrationen zu schützen. Die IS-Kämpfer sind hingegen keine Menschen.
Wie soll ich das verstehen?
Sie wollen nur den Tod – töten oder sterben. Sie denken, sie kommen ins Paradies und bekommen dort Mädchen, sprengen sich zusammen mit zehn, 15 oder 20 Gegnern in die Luft. Ihre Anhänger werden einer krassen Gehirnwäsche unterzogen. Es gibt einige Spezialisten, die sehr manipulativ sein können. Ich habe es selbst erlebt vor der Übernahme. Das Universitätsgelände hatten wir eigentlich zur entmilitarisierten Zone erklärt, da kam ein Anführer der al-Nusra-Front, Abu Mohammed al-Jazrawi, heute ein hohes Tier im IS. Er trug eine schwarze Sturmhaube, eine Pistole und einen Bombengürtel. Er begann zu diskutieren und am Ende wollten sich fünf von sieben aus unsere Gruppe seiner Truppe anschließen! Wir waren alle Studierende, also keine ungebildeten Menschen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie verrückt seien.
Wie hat sich Raqqa seit der Übernahme verändert?
Ich denke, es gibt heute zwischen 10 000 und 30 000 IS-Kämpfer. Die Zahl ändert sich täglich. Es kommen ja nicht nur viele, es sterben auch täglich IS-Leute in Kämpfen. Nach der Übernahme verwandelten sie Raqqa in »die schwarze Stadt«. Viele Gebäude wurden schwarz angestrichen. Den Frauen wurde gesagt: »Ihr dürft nur verschleiert, in langen schwarzen Kleidern und in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds in die Öffentlichkeit.« Sie haben die Schulen geschlossen und die Universität. Nun gibt es wieder islamische Schulen und auch eine medizinische Universität in Raqqa, aber niemand erkennt einen Abschluss des »Islamischen Staats« an. Die Leute durften nicht mehr nach Aleppo oder Damaskus fahren, weil das »Kuffar-Land«, das Land der Ungläubigen, sei. Das ganze öffentliche Leben ist gestorben.
Wie wird diese neue Ordnung durchgesetzt?
Sie haben eine islamische Polizei eingerichtet, die al-Housba. Wie viele für sie arbeiten, weiß ich nicht, aber sie haben Büros in jeder kleinen Stadt und kontrollieren das öffentliche Leben. Es gibt auch eine Frauenbrigade, die al-Khansa. Anders als alle anderen Frauen dürfen sie ohne männliche Begleiter unterwegs sein, Waffen tragen und Verhaftungen vornehmen.
Sie sagten, neun von zehn Bewohnern sind seit der Übernahme aus der Region geflohen. Unterstützen die Menschen den IS?
In der Propaganda tut der IS so, als sei sein Kalifat ein islamisches Paradies, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Es gibt meistens nur drei bis vier Stunden am Tag Strom, manchmal aber auch drei bis vier Tage gar keinen. Auch die Wasserversorgung funktioniert sehr schlecht. Alles wird täglich teurer, vor allem Lebensmittel, weil die Grenze zur Türkei mittlerweile blockiert ist. Die meisten Menschen hassen den IS, aber sie trauen sich nicht, etwas zu sagen. Die meisten, die zurückbleiben, sind arm und können es sich nicht leisten, in die Türkei zu gehen. Männer über 18 Jahren können wiederum nicht in die vom Regime beherrschten Gegenden gehen, weil sie dort sofort eingezogen werden. Zugleich sind viele Menschen aus aller Welt nach Raqqa gekommen, um sich dem IS anzuschließen.
Wie kam es zur Gründung von »Raqqa is Being Slaughtered Silently«?
Als ich in die Türkei geflohen war, kamen kaum Informationen, aber wir hörten, dass die Islamisten jeden hinrichten, der bei der FSA war oder als Journalist gearbeitet hat. Sie haben das Rauchen verboten, Alkohol – sogar das Tragen von engen Röhrenjeans wird bestraft. Alles was vorher normal war, war plötzlich verboten. Wir haben beschlossen, dass jemand der Welt darüber berichten muss, also gründeten wir im April 2014 das Mediennetzwerk »Raqqa is Being Slaughtered Silently«. Wir haben mit 17 Personen angefangen, mit etwas Unterstützung ausländischer arabischer Medien. Vier von uns waren in der Türkei, 13 in Raqqa und im Umland.
Wie haben die Islamisten auf Ihre Arbeit reagiert?
Als wir anfingen, setzten viele in Raqqa unser Logo auf ihre Facebook- und Twitter-Accounts. Der Imam verkündete daraufhin, dass alle, die die Kampagne unterstützen, sofort hingerichtet würden. Am 1. Mai 2014 wurde einer unserer Leute in Raqqa an einem Checkpoint außerhalb der Stadt aufgegriffen. Sie überprüften seinen Laptop und sein Telefon und fanden unser Logo – drei Tage später haben sie ihn auf einem öffentlichen Platz hingerichtet.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich wollte, dass wir aufhören. Aber die Kollegen in Raqqa wollten weitermachen – auch damit unser Mitstreiter nicht umsonst gestorben ist. Seitdem berichten wir täglich aus Raqqa. Wie haben über eine Operation von US-Spezialeinheiten in Raqqa berichtet, einen gescheiterten Versuch, Geiseln zu befreien, darunter auch der Journalist James Foley, dem sie später den Kopf abgeschnitten haben. Die Geschichte hat uns niemand geglaubt, bis die zuständigen Stellen in den USA das bestätigten. Wir waren auch die ersten, die über den jordanischen Piloten berichtet haben, den der IS in einem Käfig verbrannt hat. Wir wurden ausgelacht, es sei schließlich im Islam verboten, Lebewesen lebendig zu verbrennen. Das sieht man beim IS aber offenbar anders. Einen Monat später hat der IS dann das Video veröffentlicht. Seitdem wissen die Medien, dass wir unsere Nachrichten nicht erfinden.
Wie können Sie Ihre Mitglieder in Raqqa schützen?
Wir sind sehr vorsichtig. Grundsätzlich machen unsere Leute in Raqqa nur Fotos oder Videos und schicken sie uns über Whatsapp. Den Rest machen wir außerhalb Syriens: Artikel schreiben, Interviews, Layout. Wir machen Gesichter unkenntlich und laden dann alles auf unsere Website oder auf Facebook hoch.
Vor zwei Wochen hat eine Koalition aus der FSA und der kurdischen PYD den strategisch wichtigen Grenzübergang zur Türkei, Tel Abyad, erobert. Wie bewerten Sie das?
Der FSA-Kommandeur hat gesagt, dass Raqqa ihr nächstes Ziel ist. Falls die Anti-IS-Koalition sie weiter aus der Luft unterstützt, könnte das die Wende bedeuten. Wenn aber FSA und PYD es tatsächlich schaffen, Raqqa zu befreien, könnte der nächste Konflikt kommen – diesmal zwischen FSA und PYD.
Würden Sie trotzdem zurückkehren, wenn Raqqa vom IS befreit wird?
Ja, das werde ich auf jeden Fall tun.