Jihadismus in Frankreich

Jihadisten und Psychopathen

Nach dem brutalen Mord an einem Unternehmer und dem Attentat auf eine Gas­fabrik nahe Lyon Ende Juni wird in Frankreich darüber debattiert, ob die Tat als ­islamistischer Terroranschlag eingestuft werden kann. Auf jeden Fall stand der ­Täter Islamisten nahe. Die Angst vor weiteren Anschlägen im Land wächst.

Die Meldung deutet darauf hin, dass es in näherer Zukunft noch weitere schlechte Nachrichten geben könnte. Am Dienstagmorgen wurde bekannt, dass 150 Zünder und eine größere Menge Sprengstoff aus einem Depot der französischen Armee in Miramas im Großraum Marseille entwendet wurden. Die Staatsanwaltschaft Marseille leitete ein Ermittlungsverfahren ein. Dienstagmittag ordnete das französische Verteidigungsministerium an, »innerhalb von 14 Tagen« die ­Sicherheit aller Munitionsdepots der Armee untersuchen zu lassen.
Bis Redaktionsschluss stand nicht fest, ob der Sprengstoffdiebstahl im Zusammenhang mit terroristischen Vorhaben steht oder eher mit der gewöhnlichen Kriminalität, etwa den in den ärmeren Stadtteilen eskalierenden Kämpfen rivalisierender Drogenbanden. Angesichts der jüngsten Ereignisse in Frankreich steigerte die Informa­tion aber in jedem Fall die Nervosität.

Ungefähr gleichzeitig mit den islamistischen Anschlägen auf Urlauberinnen und Urlauber im tunesischen Sousse sowie auf eine schiitische Moschee in Kuwait, mit denen sich der »Islamische Staat« (IS) brüstete, wurde am 26. Juni ein Anschlagsversuch auf eine Chemiefabrik im Großraum Lyon publik. Die Fabrik der Firma Air Products in Saint-Quentin-Fallavier, in der Nähe des Flughafens südöstlich von Lyon, ist von den Behörden als Anlage mit gefährlichen Gütern registriert, aber nicht auf der obersten Risikostufe.
Noch am selben Vormittag wurde der Urheber des weitgehend gescheiterten Anschlags festgenommen, der 35jährige Franzose Yassin Salhi. Er war in einem Lieferwagen mit vollem Tempo auf eine Fabrikhalle zugefahren, in der Gasflaschen zur industriellen Verwendung hergestellt werden. Deren Inhalt entwich jedoch zischend, anstatt zu explodieren. Niemand in der Fabrik kam ums Leben, schwer verletzt wurde vor allem der Attentäter selbst durch die Wucht des Aufpralls. Salhi ließ es dennoch nicht dabei bewenden, sondern machte sich an bereitliegenden Stickstoffflaschen zu schaffen und versuchte, diese zu öffnen. Bei diesem Unterfangen wurde er durch die herbeigerufenen Feuerwehrleute aufgespürt und überwältigt und anschließend an die Polizei übergeben.
Zuvor hatten die Polizisten einen grausigen Fund gemacht. Sie erblickten einen abgeschnittenen Kopf, der mit einem Ringschloss an einem Gitter auf dem Fabrikgelände befestigt war. Links und rechts vom Kopf fanden sie Fahnen mit einer arabischen Aufschrift in Schwarz und Weiß, die, wie sich im Laufe des Tages herausstellte, identisch ist mit dem vom IS auf seinen Bannern benutzten Schriftzug. Bei dem Opfer, das von Salhi getötet worden war, handelt es sich um dessen früheren Chef Hervé Cornara. Am Montag fand die Beerdigung statt, bei welcher der französische Innenminister Bernard Cazeneuve vor laufenden Fernsehkameras in Tränen ausbrach.
Der 54jährige Unternehmer Cornara leitete eine Transportfirma im Lyoner Umland. Bei ihr war Salhi seit einem knappen halben Jahr angestellt. Aus diesem Grund konnte der Attentäter auch problemlos auf Einlass in der Chemiefabrik finden: Er war seit Monaten als Fahrer eines Lieferfahrzeugs dort bekannt und hatte keinen Verdacht erregt. Zwischen neun und halb zehn Uhr morgens war er mit seinem Firmenfahrzeug vorgefahren. Danach verschwand er für fünf Minuten aus dem Blickwinkel der Überwachungskameras. Diesen kurzen Zeitraum nutzte er, um den Kopf zu befestigen und mit Schwung in Richtung Fabrikhalle anzufahren. Cornara tötete er allerdings nicht auf dem Firmengelände, wo keinerlei Blutspuren ­gefunden wurden, sondern bereits zuvor an einem bislang noch unbekannten Ort.
Wie sich im Ermittlungsverfahren infolge von Zeugenaussagen herausstellte, hatten Salhi und sein Arbeitgeber wenige Tage zuvor heftigen Streit gehabt: Cornara habe seinen Angestellten zusammengestaucht, weil er eine Palette mit teurem Computermaterial hatte fallen lassen. Allem Anschein nach hat Salhi sich daraufhin Rache geschworen. Es scheint sich bei ihm um eine leicht kränkbare Persönlichkeit mit teilweise psychopathischen Zügen zu handeln. Ein früherer Kampfsportlehrer, bei dem er Unterricht in Freestyle-Boxen genommen hatte, schilderte ihn Me­dien gegenüber als einen Mann, der beim Kampf zunächst oft teilnahmslos wirkte, bevor er in eine Art Rage verfiel und wie besinnungslos zuschlug. »Salhi kämpfte nicht, er war im Krieg«, fasste er seine Beobachtungen zusammen.
Einige individuelle Wesenszüge und besondere Umstände scheinen also zu Salhis Tatentschluss beigetragen zu haben. Insofern handelt es sich nach bisherigem Kenntnisstand der Ermittler und Einschätzung der Medien nicht ausschließlich um eine ideologische Tat und Salhi hatte sie offenbar nicht von langer Hand vorbereitet. Auch scheint er bei der Umsetzung seines Tatplans eher dilettantisch vorgegangen zu sein.

Dennoch erhalten seine Mordtat und sein Anschlagsversuch auf die Chemiefabrik eine ideologische Dimension, unter anderem durch die Verwendung der Symbole des IS. Aber nicht nur aus diesem Grund. Wie die Ermittler schnell herausfanden, hatte Salhi eine Aufnahme des abgeschnittenen Kopfes mit seinem Smartphone per Whatsapp an einen langjährigen Freund gesendet. Dieser befindet sich derzeit als Jihadist in Syrien. Es handelt sich um den Konvertiten Sébastien Z., genannt Younès.
Salhi hatte sich seit Jahren im salafistischen Milieu bewegt. 2006 hatte er begonnen, im ostfranzösischen Besançon, wo er damals wohnte, Kontakt zu radikalen Gruppen im Umfeld der Moschee aufzunehmen. Die Sicherheitsbehörden waren dabei auf ihn aufmerksam geworden und hatten eine Akte mit dem Vermerk »S« für Sûreté de l’Etat (Staatsschutz) über ihn angelegt. Allerdings lagen später keine konkreten Anhaltspunkte für seine Gefährlichkeit vor, weswegen Überwachungsmaßnahmen unterblieben und seine Beobachtung 2008 eingestellt wurde. Salhi wurde auch deswegen nicht weiter verfolgt, weil es schwierig war, sein Telefon abzuhören – seit Jahren war kein einziges Gerät auf ihn angemeldet gewesen. Im Nachhinein sind die Ermittler allerdings der Auffassung, dies hätte Verdacht erregen müssen, weil möglicherweise zur Tat bereite Jihadisten es gerade vermeiden, Telefonapparate auf ihren Namen zu führen und sich auch sonst den Behörden zu entziehen versuchen.
2009 soll Salhi sich zudem vorübergehend in Syrien aufgehalten und dort Koranunterricht genommen haben. Nach Angaben von Angehörigen soll ihn dies verändert haben. Einen unmittelbaren Anlass für einen Verdacht, wie dies aus heutiger Sicht naheliegen könnte, gab es damals allerdings nicht. Zu dem Zeitpunkt war Syrien kein Kampffeld – der dortige Bürgerkrieg begann im Frühjahr 2011 –, sondern es herrschte weitgehende Friedhofsruhe unter dem Ba’ath-Regime. Richtig ist allerdings auch, dass dieses Regime unter der Hand jihadistische Gruppen gewähren ließ, die im Nachbarland Irak agierten, da dessen Destabilisierung im Sinne der syrischen Machthaber lag. Ab 2004 entließ das syrische Regime deswegen Islamisten aus seinen Gefängnissen, sofern diese bereit waren, im Irak zu kämpfen.

Die in den Medien geführte Debatte dreht sich nun darum, ob Salhis Taten als eindeutig jihadistische Verbrechen einzustufen sind – was einen ideologischen, aber auch einen mehr oder weniger organisierten Hintergrund voraussetzt – oder als Akt gewöhnlicher Kriminalität, dem der Täter durch die benutzten Symbole eine Art »höhere Weihe« zu verleihen suchte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass an beiden Positionen etwas richtig ist: Yassin Salhi wies eine klare ideologische Prädisposition auf, fasste aber seinen konkreten Tatentschluss wahrscheinlich kurzfristig und im Kontext eines Alltagskonflikts mit seinem damaligen Arbeitgeber. Was keineswegs eine beruhigende Annahme ist. Denn es deutet darauf hin, dass die Bilder und die Symbole von den Kampffeldern des IS im Nahen Osten eine solche Ausstrahlungskraft auf bestimmte Personen besitzen, dass diese sich ihrer auch im Rahmen mehr oder minder alltäglicher Konflikte bedienen, um die von ihnen verübte Gewalt zu überhöhen.
Ein anderes Kapitel betrifft die politische Verarbeitung des Geschehens. Rechte und Rechtsextreme aller Schattierungen nutzen die Gelegenheit, die sie als günstig erachten, um einmal mehr das »Ausländerthema« in den Vordergrund zu rücken. Ausnahmslos alle rechtsextremen Organisationen publizierten Kommuniqués in diesem Sinne. Salhi war 1980 im ostfranzösischen Pontarlier an der Schweizer Grenze zur Welt gekommen, hatte aber einen – mittlerweile verstorben – algerischen Vater und eine marokkanische Mutter. Seine wichtigsten Kontakte hatte er oft mit Konvertiten. Neben dem Syrien-Kämpfer Z. zählte zu ihnen etwa auch der salafistische Konvertit Frédéric Jean Salvi alias »Le Grand Ali«. Er war lange Zeit der Kopf der entsprechenden Szene im französischen Jura sowie dessen Umland und wird verdächtigt, vor einem halben Jahrzehnt an Sprengstoffanschlägen in Indonesien beteiligt gewesen zu sein. Inzwischen soll er in London leben. Am Dienstag dieser Woche publizierte die französische Wochenzeitung L’Est Républicain, die ihn auftreiben konnte, ein Interview mit ihm. Darin distanziert er sich von Salhi und bestreitet, irgendeinen Einfluss auf ihn ausgeübt zu haben.