Krise und Nationalismus in Katalonien

Klasse gegen Flagge

Nicht sozialer Protest, sondern der nationalistische Diskurs bestimmt in Katalonien die Politik. Die Regionalwahlen im September sollen nun endgültig in die Unabhängigkeit führen.

Die Überraschung war groß, als im Mai mit Ada Colau, Gründungsmitglied der großen Bewegung gegen Zwangsräumungen, Plataforma d’Afectats per la Hipoteca (PAH), zum ersten Mal nicht nur eine Frau, sondern zugleich eine Vertreterin der neuen Protestbewegung zur Bürgermeisterin Barcelonas gewählt wurde. Bisher hatte die Wirtschaftskrise in Katalonien vor allem nationalistischen Parteien und weniger der Protestbewegung Zulauf verschafft. Die Forderung nach einem unabhängigen katalanischen Staat hat in den vergangenen Jahren mehrfach über eine Million Menschen auf die Straßen Barcelonas gebracht und damit die Teilnehmerzahlen der landesweiten sozialen Proteste um ein Vielfaches übertroffen. Ein Blick auf die Ergebnisse der Kommunalwahlen im Rest Kataloniens bestätigte die Stärke der Unabhängigkeitsbewegung, deren Parteien zusammen über 45 Prozent der Wählerstimmen bekamen. Zugleich ließ sich ein Linksruck im nationalistischen Milieu feststellen. ­Angesichts der fortwährenden Krise sieht dieses seine historische Chance auf die Loslösung der produktiven Region vom spanischen Staat gekommen.
Seit Beginn der Krise hat der regionale Nationalismus einen starken Aufschwung erlebt. Die bisher gemäßigt nationalistische Partei Convergència i Unió (CiU) wandte sich vom Zentralstaat ab und dem Separatismus zu, was zu ihrer Spaltung führte. Zugleich wuchs die Unterstützung für die Republikanische Linke (ERC), die Traditionspartei des katalanischen Linksnationalismus. Beeinflusst von dem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland im September vergangenen Jahres spitzte sich die Debatte in Katalonien erneut zu. Ein geplantes Referendum wurde auf Antrag der rechtskonservativen spanischen Regierung vom Verfassungsgericht verboten, ebenso wie die daraufhin angesetzte unverbindliche Volksbefragung, die trotzdem durchgeführt wurde und bei der 81 Prozent der Teilnehmenden – etwa ein Drittel der Abstimmungsberechtigten – für die Unabhängigkeit stimmten.
Als Antwort auf das autoritäre Gebaren der Zentralregierung – die grundsätzlich Verhandlungen mit der Regionalregierung ablehnt – hatte der katalanische Regierungschef Artur Mas für den kommenden 27. September vorgezogene Neuwahlen angekündigt, die das verbotene Referendum ersetzen sollen.

Der Termin ist bewusst gewählt: Der 11. September ist der katalanische Nationalfeiertag, an dem traditionsgemäß Massendemonstrationen in Katalonien stattfinden. Offenbar will man das nationalistische Gefühl von der Straße an die Urnen tragen. Vor zwei Wochen nun hat die nationalistische Bewegung ihre angekündigte Einheitsliste für die »plebiszitären« Regionalwahlen vorgestellt: Junts pel sí (Gemeinsam für das Ja). Neben diversen nationalistischen Vereinigungen – wie der Katalanischen Nationalversammlung ANC, die für die großen Mobilisierungen der vergangenen Jahre verantwortlich zeichnet – sind darin auch die beiden stärksten Parteien des katalanischen Parlaments vertreten: die konservative Demokratische Konvergenz (CDC, zuvor CiU) sowie die ERC. Außerdem konnten bekannte Persönlichkeiten, wie der Trainer des FC Bayern München, Pep Guardiola, für die Liste gewonnen werden. Es sei an der Zeit, politische Differenzen zugunsten des gemeinsamen übergeordneten Ziels und der Nation zurückzustellen und nun alles auf eine Karte zu setzen, so der Tenor.
Der spanische Regierungschef Mariano Rajoy reagierte wie gewohnt mit autoritärer Arroganz auf den jüngsten Vorstoß der katalanischen Nationalisten. »Es wird keine Unabhängigkeit Kataloniens geben«, stellte er einen Tag nach der Präsentation der Einheitsliste trocken fest. In Spanien gebe es Gesetze und die Regierung werde nicht erlauben, dass sich irgendjemand über die Gesetze hinwegsetze, betonte der Vorsitzende der Volkspartei (PP) in Hinblick auf die in der spanischen Verfassung festgeschriebene Unteilbarkeit der Nation. Die sozialdemokratische PSOE übte gleichfalls Kritik, wenn auch moderater formuliert. Podemos wiederum, die im Bündnis mit den katalanischen Grünen und linkssozialistischen Parteien zu den Regionalwahlen antreten wird, zeigt eine ambivalente Haltung. Einerseits kann sie die linken Unabhängigkeitsbewegungen, sowohl in Katalonien als auch im Baskenland, als wichtige Akteure alternativer Politik nicht ignorieren, andererseits stellt die aus der Protestbewegung »15M« hervorgegangene Partei die soziale Frage deutlich über die sogenannte nationale. So erklärte Juan Carlos Monedero, Mitbegründer von Podemos, vergangene Woche: »Podemos ist gegen die Unabhängigkeit und voll und ganz für das Recht zu entscheiden« – was im nationalistischen Diskurs jedoch dasselbe bedeutet. Auch im katalanischen Nationalismus unterstützen nicht alle die Querfront. So entschied sich die Candidatura d’Unitat Popular (CUP), eine Wählervereinigung der radikaleren linken Unabhängigkeitsbewegung Esquerra Independentista, gegen eine Teilnahme an der Einheitsliste. Sie hatte gefordert, dass die Liste nur aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und nicht aus Parteien bestehen solle. Aber es gibt auch weitergehende Kritik. In einem Diskussionsbeitrag beklagen zwei Aktivisten der CUP, dass durch die Einheitsliste die Klassenfrage »hinter den Flaggen« aufgelöst werde. Offenbar stehen sie mit dieser Kritik nicht alleine: Jüngsten Umfragen zufolge hat das Zweckbündnis von CDC und ERC beide Parteien potentielle Wählerstimmen gekostet, während die CUP ihre Unterstützung verdreifachen könnte und derzeit auf zehn Sitze im Regionalparlament kommen würde. Damit hätte der separatistische Block, wenn auch nur knapp, weiterhin die absolute Mehrheit. Unabhängig von ihrer Kritik hat die CUP angekündigt, dass auch sie ihre Stimmen als grundsätzliche Zustimmung für die Gründung eines katalanischen Staates verstanden wissen möchte.

Die Einheitsliste macht die absolute Mehrheit für das Sí zur Bedingung dafür, den weiteren Weg in die Unabhängigkeit zu beschreiten. Hierfür gibt es bereits eine Road Map, die sich an der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo orientiert: Gesetzt den Fall, dass der Block der Independentistas im September die absolute Mehrheit erreicht, sollen direkt im Anschluss eine Verfassung entworfen, eigenständige staatliche Strukturen aufgebaut und die weiteren »notwendigen Maßnahmen für die Gründung des neuen Staates« in die Wege geleitet werden. Spätestens acht Monate nach den Wahlen soll Katalonien seine Unabhängigkeit erklären und die Übergangsphase einsetzen, nach 18 Monaten soll der neue katalanische Staat mit konstituierenden Wahlen ins Leben gerufen werden.
Nach Meinung der ERC ist die Unabhängigkeit der einzige Weg zu »sozialer Gerechtigkeit und demokratischem Wiederaufbau«, wie ihr Sprecher, Sergi Sabrià, vergangene Woche betonte. Auch Raül Romeva von den katalanischen Grünen ICV, der als unabhängiger Spitzenkandidat die Einheitsliste anführt, sieht die Hauptmotivation darin, eine »Antwort auf die soziale Krise zu geben und denen zu helfen, die am meisten leiden«.
Die Entwicklung in Griechenland hat diese Ansicht bestärkt. Das Scheitern der dortigen Regierung angesichts der deutsch-europäischen Erpressung und die Zustimmung von Syriza zum quasi-kolonialen Reformpaket wird von vielen katalanischen Nationalisten als Ausdruck und Folge fehlender nationaler Souveränität angesehen. Dabei zeigt gerade das Beispiel Griechenlands, dass Unabhängigkeit angesichts der globalen Krise politischer und vor allem ökonomischer Strukturen ein Mythos ist. Daran wird deutlich, dass der nationalistische Diskurs in Katalonien eine Scheindiskussion darstellt, die von der Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen – oder dem Unwillen, diese zu ändern – ablenkt. Nicht nur, dass Korruption in Katalonien ebenso verbreitet ist wie in der gesamtspanischen Politik. Ein eigener katalanischer Staat würde nach eigenen Berechnungen der Regionalregierung anfangs fünf Milliarden Euro monatlich kosten. Dazu kommt der mit seiner Proklamation einhergehende Ausschluss aus der Europäischen Union, an dem kaum ein Zweifel besteht. All dies macht den nationalistischen Traum von einem eigenen Staat, zumindest aktuell, zu einer logistischen wie finanziellen Unmöglichkeit.
Das schmälert nicht die Bedeutung der Regionalwahlen, bei denen es um mehr gehen wird, als um die politische Repräsentation der kommenden Jahre. Dabei wird sich zeigen, ob die Linke weiterhin mehrheitlich die nationale über die soziale Frage stellen wird.